Peter Grimm / 02.09.2023 / 06:15 / Foto: Mlucan / 94 / Seite ausdrucken

Die Aiwanger-Warnung an Minderjährige

Die Missetaten des 17-jährigen Aiwanger werden nach 35 Jahren zur Staatsaffäre, in der sein Ruf, sein Amt und seine Karriere auf dem Spiel stehen. Welche Botschaft sendet diese Strafaktion nach dreieinhalb Jahrzehnten eigentlich an die heutigen Siebzehnjährigen?

Früher haben sich Journalisten mit ihren Recherchen vornehmlich an den Mächtigen abgearbeitet, wenn es darum ging, ihnen zwielichtige Geschäfte, Korruption, Machtmissbrauch oder auch nur gedankenlose Verschwendung, gepaart mit Inkompetenz, nachzuweisen und gegebenenfalls ihren Rücktritt zu fordern oder ihre Entlassung für unvermeidlich zu erklären. Dass Letzteres heutzutage wegen Verfehlungen, die der Politiker mit 17 Jahren, also als Minderjähriger, begangen hat, geschieht, ohne dass dem Delinquenten entsprechende oder andere Verfehlungen im Erwachsenenalter nachgewiesen werden können, zeichnet schon ein ziemlich erbärmliches Bild vom dramatischen Verfall der journalistischen Kultur in der Bundesrepublik. 

Entweder wird im Leben des erwachsenen Hubert Aiwanger nicht recherchiert oder es lässt sich nichts Skandalöses finden, ansonsten würden sich die Kollegen der Süddeutschen Zeitung und der Staatsvertrags-Medien kaum ausschließlich auf jeden Bericht meist anonymer und ganz weniger namentlich genannter Mitschüler stürzen, die sich nach 35 Jahren plötzlich an Hakenkreuze auf der Schultoilette von Aiwanger-Hand, an Hitlers „Mein Kampf“ im Aiwanger-Schulranzen oder an die Verwendung des Wortes „Neger“ durch den jungen Hubert erinnern.

Letzteres ist besonders amüsant, denn die konsequente Vermeidung des sogenannten N-Worts war 1988 noch kaum vorstellbar, auch nicht an der Schule. Wer es nicht glauben mag, sollte sich vielleicht diesen Ausschnitt einer Produktion des vorsätzlicher politischer Unkorrektheiten unverdächtigen ZDF aus dem Jahr 1999 anschauen. In einer Folge der Serie „Unser Lehrer Dr. Specht“ darf der Lehrer dort anlässlich der Verteilung von damals noch so genannten Negerküssen über den „Schwachsinn“ der political correctness dozieren, „der aus den USA kommend, jetzt auch uns erreicht und verheerende Folgen gezeitigt hat“. Wenn das vor 24 Jahren unbeanstandet im ZDF gesendet wurde, dann dürfen auch die, die diese Zeit nicht bewusst erlebt haben, wohl davon ausgehen, dass es kein Skandal war, wenn elf Jahre zuvor ein Schüler das sogenannte N-Wort noch wie selbstverständlich gebrauchte. 

Kein Platz für Entlastendes?

Die Aussagen ehemaliger Schüler, die den 17-jährigen Aiwanger nach 35 Jahren schwer belasten, wurden und werden von allen großen Medien übernommen, ohne dass sich etwas davon oder das Gegenteil beweisen ließe. Die Aussagen ehemaliger Mitschüler, die die Kollegen von Apollo-News recherchiert haben, wurden hingegen von den meisten Medien vollkommen ignoriert, obwohl sie Aiwanger klar entlasten und entsprechende Zeugen auch namentlich benannt werden. Zum Beispiel:

Christian Augsburger war in Hubert Aiwangers Abiturjahrgang. Er sagt: „Ich kenne Herrn Aiwanger seit 35 Jahren, wir waren in einer Stufe, haben miteinander Abitur gemacht. Es gab nie einen einzigen Vorfall in der Richtung: Hakenkreuz, Hitler-Gruß, „Mein Kampf“, Antisemitismus etc. Nie. Kein einziges Mal. Er war ein ganz normaler, angesehener Typ: natürlich ist er konservativ, aber ganz bürgerlich, so wie heute auch. Ich war auch bei der besagten Fahrt in die DDR dabei, da habe ich nichts in der Art mitbekommen – Null.“ 

Georg Weigert war auch gleichzeitig mit Aiwanger auf der Schule: „Ich hab nie in irgendeiner Form etwas dergleichen mitbekommen, was ihm jetzt vorgeworfen wird. Ich glaube die Zitate, die jetzt kommen, von wegen ‚Mein Kampf‘ in der Schultasche – das kann ich mir nicht vorstellen. Wenn man lang genug sucht, findet man immer jemanden, der bereit ist, alles zu behaupten. Ich kann mir das nicht vorstellen. Das ist doch nur anonymer Schmutz. Das Bild, was über Herrn Aiwanger gezeichnet wird, ist komplett falsch: Er war kein merkwürdiger Außenseiter. Er war allgemein angesehen. So hab ich ihn erlebt.“

Für jeden ist die Absicht, den gerade immer populärer werdenden Freie-Wähler-Chef vor den bayerischen Landtagswahlen um jeden Preis zu demontieren, klar erkennbar. Sonst hätte man sich am erwachsenen Aiwanger abgearbeitet und nicht an einem Minderjährigen.

Es ist so absurd. Waren denn all die selbsternannten Ankläger, Inquisitoren und politischen Richter selbst nie siebzehn Jahre alt? Haben sie nie – vielleicht auch schon mit fünfzehn oder sechzehn Jahren – den Drang zur jugendlichen Provokation verspürt, der manchmal so stark sein konnte, dass man buchstäblich den Verstand verlor und manch einen sogar zu ziemlich großen Dummheiten trieb? Auch verbale Entgleisungen jenseits der gängigen Toleranz-Grenze gehörten zu jener Zeit dazu. Zum Glück für die meisten Siebzehnjährigen wurde das meiste davon verständnisvoll unter „Jugendsünde" abgebucht und dem gnädigen Vergessen anheim gegeben. 

Die Langzeitwirkung des Unbedachten

In meiner Generation gab es da allerdings einen Unterschied zwischen den Siebzehnjährigen in Ost und West, bzw. im Umgang mit ihren Jugendsünden. Im Westen konnten sich beispielsweise verbal entgleisende Schüler zumeist recht sicher sein, dass sie sich ihre Zukunft nicht nachhaltig zerstört haben. Sie behielten die Chance, auf dem angepeilten Bildungsweg weiterzugehen. Etwaige Maßregelungen waren zumeist wohl eher als Warnschuss gedacht, wie ja auch im Fall Aiwanger. Und da er danach offensichtlich nicht noch einmal einschlägig aufgefallen ist, scheint das ja auch pädagogisch völlig richtig gewesen zu sein.

Im SED-Staat hingegen konnten jugendliche Provokationen von Siebzehnjährigen, wenn sie von der Obrigkeit als staatsfeindlich gewertet wurden, den Bildungsweg und die berufliche Entwicklung erheblich und nachhaltig beeinträchtigen. Da war es unerheblich, ob es sich um eigentlich Unpolitisches, um geschmacklose Dummheiten oder tatsächliche Opposition handelte. Entscheidend war nur, ob es die Vertreter der Diktatur als irgendwie „feindlich“ einordneten oder nicht. 

Egal, inwieweit es einem gelang, den jugendlichen Drang zur Provokation entsprechend zu zügeln oder nicht – den meisten war bewusst, dass man mit allzu unbedachtem, allzu offenem Auftreten Fehler machen kann, die eine Langzeitwirkung haben. Daran wurden die meisten Heranwachsenden im SED-Staat oft genug von ihren Eltern erinnert, die sich darum sorgten, der Nachwuchs könnte sich durch Unbedachtheiten die eigene Zukunft verbauen. 

Die Freiheit im Westen machte es möglich, dass sich Heranwachsende und ihre Eltern solche Gedanken nicht in vergleichbarem Ausmaß machen mussten. Es gab Platz für Jugendsünden, die einem im späteren Leben nicht schadeten. Zumal solche nicht, die man als Minderjähriger begangen hat.

Ebenso wurde nach der Wiedervereinigung bei der Überprüfung auf Stasi-Mitarbeit auch mit jenen verfahren, die von der Stasi als Minderjährige zur inoffiziellen Mitarbeit verpflichtet worden waren. Solange sie nicht als Volljährige weitermachten, wurde ihnen von der Stasi-Unterlagenbehörde eine „weiße Weste“ bezüglich der Stasi-Tätigkeit attestiert. Sie sollten keine beruflichen Nachteile wegen einer Entscheidung erleiden, die sie getroffen hatten, als sie noch nicht volljährig und damit auch noch nicht voll geschäftsfähig waren. Eine vollkommen nachvollziehbare Regel, schließlich gibt es die Volljährigkeitsgrenze nicht umsonst.

Es zählt das Handeln als Erwachsener

Auch im „Fall" Aiwanger sollte sie gelten. Statt dem Mann Fragenkataloge nach Verfehlungen als Schüler zu stellen, sollte es ausschließlich um Taten oder Unterlassungen gehen, die er als Erwachsener begangen und zu verantworten hat. Fragt sich denn keiner, welches Signal unser doch ach so tolerantes Land an heutige Siebzehnjährige aussendet? Lernen sie nicht jetzt, dass es keine Jugendsünden mehr gibt, die irgendwann vergessen sind, sondern das einem alles, was man in jugendlichem Leichtsinn tut, noch Jahrzehnte später als Stolperstein vor die Füße gelegt werden kann? Werden künftig nicht wieder Eltern ihre Söhne und Töchter in Sorge um deren Zukunft ermahnen, sich keine Unbedachtheiten zu leisten?

Solche Fragen kommen in der Aiwanger-Debatte kaum vor. Einer allerdings, von dem man es vielleicht nicht erwartet hätte, obwohl er durchaus schon innerhalb von Tagen sich inhaltlich widersprechende Meinungen vertreten konnte, machte sich gestern auch Gedanken über die Reaktion der Jugendlichen auf die Aiwanger-Debatte: der ehemalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel. Zumindest meldete merkur.de am frühen Freitagabend:

Der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel hat sich in der Aiwanger-Affäre hinter Bayerns Vize-Regierungschef gestellt. Mit Blick auf das antisemitische Flugblatt aus Schulzeiten sagte der Sozialdemokrat: „Warum sollen junge Neonazis aus der rechtsextremistischen Szene aussteigen, wenn sie am Beispiel Hubert Aiwanger erleben, dass man auch 35 Jahre später noch für den Wahnsinn der eigenen Jugend öffentlich gebrandmarkt wird?“, schrieb Gabriel auf der Online-Plattform X (früher Twitter). In diesem Fall könne man sich „die ganzen Aussteigerprogramme sparen“.

Ich gebe zu, wenn man plötzlich einer Meinung mit Sigmar Gabriel ist, sollte man sich noch einmal selbst genau befragen, ob man nicht falsch liegen könnte. Aber für mich ist es klar: Wenn es sich nicht um Verbrechen handelt, gibt es eigentlich keine Verfehlungen von Minderjährigen, die in der breiten Öffentlichkeit nach 35 Jahren nicht als verjährt gelten sollten, wenn sie keine Fortsetzung im Erwachsenenalter gefunden haben. Und genau das können Aiwanger selbst die engagiertesten Ankläger derzeit offenbar nicht vorwerfen. So lange es aber diesbezüglich keine Anhaltspunkte gibt, sollten die Inquisitoren einfach schweigen. Oder wollen wir wirklich in einer politischen Kultur landen, in der allen politischen Verantwortungsträgern Auskunft abverlangt wird, welche Ideen sie so als Siebzehnjährige verbreitet haben? Das wird bestimmt lustig.  

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Leserpost

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Anton Weigl / 02.09.2023

Wenn man sich jetzt die ganze Aiwanger Geschichte als 16-17 jähriger ansieht , kann man nur zu dem Schluß kommen! Das Wahlrecht kann nicht auf 16 Jahren herabgesetzt werden. Auch Umfragen ergeben , daß über 60% ein herabsetzten des Wahlalters ablehnen. Nur Rotrotgrün mit ihrer Medienmacht fordern dies ständig.

B.Kröger / 02.09.2023

Die Schule als Gefahrenzone. Der Lehrer als möglicher Feind, der mithört, evtl. schwarze Listen führt, mit deren Hilfe potentielle Karieren zerstört werden können?

Gerd Quallo / 02.09.2023

Rehabilitation, Verjährung, Unschuldsvermutung und die gängige Ausrede mangelnder Sozialisation gelten für Kriminelle, aber keinesfalls für Reiche und Konservative. Die sind per se schlecht. Dazu die unsägliche Sippenhaftung und Kontaktschuld - wie im dritten Reich und bei den Kommunisten. Und jetzt das Draufgekloppe auf eine Jugendsünde. Was sind eigentlich die moralischen Standards all dieser Pharisäer? Und wieso sollen wir so ein degeneriertes Denken überhaupt diskutieren? Die sind krank. Ende.

Wilhelm Stock / 02.09.2023

Ja, Jugend in der BRD war anders, offener und freier als damals in der DDR. Dachten wir - die Stasi 2.0 hat nur geschlafen. Politik besteht heute nicht mehr aus offenem Diskurs zum Finden der besten Lösung für den Bürger. Empörung, Lügen, Verächtlichmachung - so werden heute kritische, oppositionelle und gegen die Ideologie der Regierung und Medien stehende Menschen zerstört. Bärbel Bohley hatte damals wohl Recht.

Gabriele Kremmel / 02.09.2023

Die Botschaft an die Heranwachsenden ist: Lasst es krachen und geht nicht in die Politik. Nur die Memmen werden durchkommen.

Peter Gentner / 02.09.2023

Naja, die Dolchstoßaktion in den Rücken durch die Alpenprawda und dem hinterfotzigen Möchtegernkanzler klapp ja nur, weil Aiwanger es mit sich machen lässt. Anstatt Söder und der SZ den Mittelfinger zu zeigen, ordnet er sich brav unter, entschuldigt sich und jammert über die ungerechte Behandlung. Während der vergangenen Jahre hat er gezeigt, dass man ihn nicht hinter dem Schatten von Söder erkennen kann. Farblos, halbherzig und, wie es sich jetzt herausstellt, zu feige um diese Schmutzkapagne für sich zu verwenden. Der politische Gewinner heißt AfD, die überhaupt nichts mehr machen müssen, außer abzuwarten und zuzuschauen, wie sich der Rest der Politik selbst zerlegt.

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