Von Okko tom Brok.
Der berühmte Reformator würde heute vermutlich aus seiner eigenen Kirche geworfen werden.
Martin Luther (1483–1546) ein Querdenker? Ausgerechnet dieser „Fürstenknecht“, der den Bauern im Kampf gegen die Auswüchse des Feudalwesens so schändlich in den Rücken gefallen ist? Der sich so oft im Ton vergriffen und sogar dem NS-Propagandamagazin „Stürmer“ rhetorisches Material in Sachen Antisemitismus geliefert haben soll?
Doch der Reihe nach. Martinus Luther kommt als (für damalige Verhältnisse vergleichsweise) privilegiertes, wenn auch in bescheidenen Verhältnissen aufwachsendes Kind zur Welt. Der Vater hat sich nach eigenem Bekunden „krummmachen“ müssen, um dem Sohn den Besuch der Universität und das Studium der angesehenen und Wohlstand verheißenden Juristerei zu ermöglichen. Luther ist ein erfolgreicher, ehrgeiziger Student, dessen steile Erfolgsgeschichte jäh im legendären Gewitter zu Stotternheim am 2. Juli 1505 endet: Hier zeigt sich bereits eine markante Eigenheit des noch jungen Luther, der nur 14 Tage nach einem verheerenden Gewitter, währenddessen er Gott Gehorsam und ein klösterliches Leben gelobt, tatsächlich im allerstrengsten Kloster Erfurts am 17. Juli um Aufnahme ersucht: dem Augustiner-Eremitenkloster. Ob Luther bereits zuvor mit dem Mönchsleben geliebäugelt habe, wie im Zuge des Reformationsjubiläums 2017 gemutmaßt wurde, ist dabei letztlich irrelevant.
Auflehnung gegen den eigenen Vater
Überliefert sind insbesondere die Streitgespräche Luthers mit seinem Vater, kunstvoll wie ein Kammerspiel aufbereitet schon zum Vorgängerjubiläum 1983 mit dem teilweise überragenden ZDF-Spielfilm-Zweiteiler „Martin Luther“, schauspielerisch (und physiognomisch) kongenial und deutlich besser besetzt mit Lambert Hamel als mit dem viel zu asketischen, etwas zu hageren Joseph Fiennes zwanzig Jahre danach, dem man die lutherische „Sanftlebigkeit zu Wittenberg“ einfach nicht abnimmt, welche ihm Luthers kritische Zeitgenossen gelegentlich vorwarfen.
An der Schwelle zum Augustinerkloster wird Luther von seinem Vater zur Rede gestellt, dass er doch schon als Kind „nicht einmal seinen Eltern gehorsam“ habe sein können. Wie er denn da nun ernsthaft erwägen könne, ausgerechnet einen Gehorsam gegenüber den allerstrengsten Klosterregeln seiner Zeit zu geloben?
Wer hier in Luther wieder nur den Freund von Strenge und von „Law and Order“ erblickt, möge doch noch einmal genauer hinsehen: Luther ist in dieser Szene gerade kein Beispiel für „Gehorsam“, sondern für eine offene Rebellion. Der Eintritt ins Kloster ist nicht nur aus tiefenpsychologischer Sicht ein Aufruhr gegen den Lebensentwurf des Vaters und seiner Fehlinterpretation des 4. Gebotes (nach katholisch-lutherischer Zählung) als „absolutem Gehorsam“ gegenüber den Eltern. Zeitlebens hat Luther gegen verschiedene irdische Ordnungen rebelliert: das Elternhaus, die Universität, das Papsttum, die Kirche, den Ablasshandel und schließlich die unerfüllbaren endzeitlichen Heilsversprechen seiner Zeitgenossen und Weggefährten.
Gehorsam galt für Martin Luther nur einem Vater: dem himmlischen, genauer: dem dreieinigen Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist. „Du sollst Gott mehr gehorchen als dem Menschen“ (Apostelgeschichte 5,29) muss auch Luthers Wahlspruch gewesen sein, als er recht genau vor 501 Jahren im April 1521 – quasi als ein „Hyper-Querdenker“ des 16. Jahrhunderts – auf dem Reichstag zu Worms verhört und zum Widerruf seiner allzu „verschwurbelten“ Thesen zum kirchlichen Ablasshandel genötigt werden sollte. Hatte er etwa tatsächlich behauptet, die wichtigste Einnahmequelle des Vatikans sei nur eine nutzlose, gottlose Erfindung geschäftstüchtiger Ausbeuter? Menschenwerk? Verblendung? Würde er widerrufen? Luthers Antwort war ebenso einsilbig wie einprägsam: Hier stehe ich und kann nicht anders. Amen. Kein Widerruf.
Bodenständiger und lebensfroher Kommunikationsmensch
Was hätte Luther wohl zu einer letztlich nutzlosen, aber sehr einträglichen Impfkampagne unserer Tage gesagt, die keine sterile Immunität herstellt, die erhebliche Nebenwirkungen aufweist, die also bestenfalls nutzlos ist, aber dennoch Milliardengewinne bei Pharma-Riesen und Börsenspekulanten aufgetürmt hat und über die sich Hersteller und Regierung zu allem Überfluss absolutes Stillschweigen erbeten haben? Spekulation, gewiss. So wie die momentan rapide abrauschenden Börsenkurse des Impfherstellers BioNTech.
Keine Spekulation ist, dass Luther stets dem offenen Wettstreit vertraut und den scharfen Diskurs ausdrücklich gesucht hat. Polemik war eine seiner Lieblingsdisziplinen. Wo er Lug und Trug vermutete, verlangte er, Licht ins Dunkle zu bringen. Ein Schatz deutscher, mitteleuropäischer Lebensart und Herzenskultur ist in Luthers „Tischreden“ überliefert, in denen sich Luther nicht nur als brillanter Denker und überragender Theologe, sondern zugleich auch als bodenständiger, pragmatischer und lebensfroher Kommunikationsmensch erweist.
Martin Luther ist die Verkörperung eines ganz neuen, evangelischen Lebensstils, gekennzeichnet von Gewissensbindung und Gewissensfreiheit. „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“ (1525) ist das dialektische Credo eines Mannes, der in Gegensätzen zu denken gelernt hat. Für schlichte Zeitgenossen mag diese Art zu denken „verschwurbelt“, ja beizeiten „gefährlich“ oder auch „populistisch“ anmuten.
Als junger Theologe und Reformator ergreift Luther zunächst vor allem den Freiheitsaspekt der Botschaft Jesu: Aufbruch aus Schuld und Irrtum, Vergebung, Neuanfang, Reformen. Er muss jedoch feststellen, dass diese alte Erde nicht so leicht aus den Angeln zu heben ist, wie es dem jungen Heißsporn lieb gewesen wäre.
Das Pfarrhaus: Von bürgerlich zu rot-grün
Luther wird in den Folgejahren, auch unter dem Eindruck des verheerenden Bauernkrieges und den Exzessen apokalyptischer Endzeitprediger konservativer, heiratet. Besinnt sich auf das Private. Gründet mit der entlaufenen Nonne Katharina von Bora eine Familie. Eine Vernunftehe, von der es heißt, sie sei sehr glücklich und innig gewesen. Ihre kulturgeschichtlich bleibende Frucht ist das evangelische Pfarrhaus. Als Urbild eines bürgerlich-christlichen, zunächst liberal-konservativen, heutzutage zumeist grün-ökologischen Milieus mag es sich kulturell allzu sehr verfestigt haben, im Ansatz war es etwas revolutionär Neues und Einmaliges: im Grunde vielleicht die Keimzelle der bürgerlichen Kleinfamilie, die viele Jahrhunderte maßgeblich war und erst jetzt in unseren Corona-geschüttelten Tagen ihren traurigen Niedergang zu erleben scheint.
Luther steht für Protest, und der von Luther ins Leben gerufene Protestantismus war und ist die erste erfolgreiche Protestbewegung auf deutschem Boden, die noch dazu bis heute Bestand hat. Protestare wurde schnell zur entscheidenden Haltung der Reformation, und es bedeutet, für etwas einzustehen und Zeugnis abzulegen. Erst später erhielt das Wort „Protestieren“ seine heute vorherrschende „kritische“ Konnotation.
Heutiger Protest von Querdenkern könnte sich von Luther darin bestärken lassen, dass es nicht nur legitim, sondern geradezu essenziell ist, für als positiv empfundene Überzeugungen öffentlich, aber selbstverständlich gewaltlos einzustehen. Protestierer sind im Sinne Luthers dabei immer schon „positiv“, und dafür benötigen sie auch keinen Schnelltest. Und eine positive Sicht steckt an. Das erlebe ich selbst jetzt jeden Montag immer wieder neu.
Gegen die Juden
Und wie war das mit Luther und den Juden? Reden wir nicht lange darum herum: Die Aussagen Luthers in seinem von eigenen Todesahnungen überschatteten Sterbensjahr 1546 sind fürchterlich. Sie gipfeln in dem Satz, man möge ihre Synagogen niederbrennen. Was man einige Jahrhunderte später gerne und bereitwillig getan hat.
Für „rassische“ oder „rassistische“ Entgleisungen gibt es bei Luther jedoch offenbar keine Anhaltspunkte, so dass Forscher zwischen einem theologisch-chiliastisch geprägten Antijudaismus Luthers und einem biologistisch-rassistisch orientierten Antisemitismus späterer Tage unterscheiden. Luther selbst habe früh darauf gehofft, das Judentum für die Sache der Reformation gewinnen zu können. Aus Enttäuschung scheint Luther sich zuletzt einem unerträglichen Zynismus gegenüber seinen jüdischen Mitmenschen hingegeben zu haben. Luther war hier im Unrecht. Ein Choleriker, den nur wenige Tage nach einer besonders bedrückenden Äußerung ein Herzinfarkt dahingerafft hat. Aus christlicher Sicht ein Sünder, der an dieser Stelle zweifellos der göttlichen Vergebung bedarf.
Ist Luther damit nicht in jedem Fall für diese noble Liste der 100 besten Querdenker bereits endgültig und unwiderruflich verloren?
Ich bin anderer Ansicht und versuche es zu begründen. Luther hatte nämlich noch ein anderes zentrales Credo: Der Mensch vor Gott sei simul iustus et peccator, gleichzeitig Sünder und Gerechter. Wieder so eine verschwurbelte Dialektik? Sie besagt, dass Gott in Jesus Christus zu allen Menschen vorbehaltlos „Ja“ sagt, ohne dass wir uns hinsichtlich unserer moralisch oft so fragwürdigen Gesamtkonstitution notwendigerweise tatsächlich schon sichtbar verändert hätten. Gott setzt uns formal „ins Recht“, ohne dass wir recht hätten. Eine Paradoxie.
Gehört Martin Luther also nun in unsere Liste der 100 Querdenker, oder wollen wir auch an ihm die heute gängige Cancel Culture exekutieren? Urteilen Sie selbst.
Luther ist demütig und schuldbewusst aus diesem Leben geschieden. Seine letzte Einsicht lautete: „Wir sind Bettler. Das ist wahr!“ Alles, was wir benötigen, ersehnen, erhoffen, glauben, träumen und zuletzt erstreiten, bleibt immer eine Gabe und ein Gewinn auf Zeit. Unsere Erkenntnismöglichkeiten sind eingeschränkt, weshalb wir auf den Meinungsstreit angewiesen sind, den Luther intensiv und jederzeit gerne geführt hat.
Es sind diese Vorläufigkeiten, Brüchigkeiten und Bedürftigkeiten des menschlichen Geistes, an die uns der Querdenker Martin Luther auch nach 500 Jahren erinnert. Möge die Erinnerung an ihn uns vor der menschlichen Hybris, alles zu vermögen oder gar erzwingen zu können, bewahren.
Der Autor ist Lehrer und unterrichtet an einem niedersächsischen Gymnasium.
Die Serie „Die 100 größten Querdenker“ ist „offen“: Jeder, der über einen sie oder ihn faszinierenden „Querdenker“ schreiben möchte, kann das tun, jede Einsendung ist willkommen. Die Redaktion behält sich das letzte Wort vor, welche Beiträge auf Achgut.com erscheinen, auch bei etwaigen Kürzungen, Korrekturen usw.