Der ICE-Messer-Attentäter wurde beinahe stante pede zum nicht schuldfähigen Psychofall erklärt. Donnerwetter, das ging schnell. Gerade psychiatrische Diagnosen beanspruchen üblicherweise längere Zeit, mehrere Gespräche, ausgiebige Beobachtung. Nicht so in diesem Fall.
„Im ICE zwischen Regensburg und Nürnberg hat es Samstagmorgen eine Messer-Attacke gegeben“, lese ich in deutschen Zeitungen. Dann hängt es von der Zeitung ab, ob ich recht bald oder erst nach stunden- oder tagelangem Herumdrucksen erfahre, dass der Täter aus unserer Gegend stammt. Bild Online ist hier immer noch unersetzlich. Vor dem Hintergrund seiner mehr als fünfhundert Millionen Besucher monatlich traut sich dieses Medium, auch das Peinlichste aussprechen: „Der Messer-Angreifer wurde vor Ort festgenommen. Nach BILD-Infos handelt es sich um einen 27-jährigen Mann arabischer Herkunft.“
Auf Spiegel-Online und ähnlich gehemmten Portalen dauert es dann üblicherweise einen halben Tag oder länger, bis das Unaussprechliche eingestanden wird. Falls überhaupt. Meist ist, so lange es geht, von einem „Mann“ die Rede. Der geübte Leser weiß dann schon. Im Fall des Anschlags von Regensburg wurde am frühen Abend verschämt dessen Name ins Spiel gebracht: „Abdalrahman A. aus Passau“. Oh, diese Passauer... Damit nun aber nicht etwa rechte Hetzer übereilte Schlüsse ziehen, womöglich einen „Generalverdacht“ äußern, wird seitens der deutschen Polizei sofort hinzugefügt: „Er soll psychisch auffällig gewesen sein, im Zug auch um Hilfe gerufen haben.“
Soweit, relativ zurückhaltend, die Bild-Zeitung. Im Spiegel dagegen heißt es mit fast triumphierendem Unterton: „Ein sachverständiger Gerichtspsychiater, gegenüber dem sich der Tatverdächtige nach seiner Festnahme geäußert hatte, geht laut dem leitenden Oberstaatsanwalt Gerhard Neuhof von einer möglichen 'paranoiden Schizophrenie und wahnhaften Vorstellungen' aus.“
Donnerwetter, das ging schnell. Gerade psychiatrische Diagnosen beanspruchen üblicherweise längere Zeit, mehrere Gespräche, ausgiebige Beobachtung. Wer schon einmal Patient einer Nervenklinik war – und ich hatte in meiner Jugend, als ich den Wehrdienst in der DDR-Volksarmee verweigerte, ausgiebig das Vergnügen –, weiß, dass man sich hier in der Regel für Beurteilungen und Diagnosen die nötige Zeit nimmt. Zu recht. Denn die meisten psychischen Krankheiten sind auch für erfahrene Mediziner keineswegs auf den ersten Blick zu erkennen wie etwa ein Herzinfarkt oder ein Ausbruch von Herpes simplex.
Diagnose in Windeseile und nach bloßem Augenschein
Doch der „sachverständige Gerichtspsychiater“, eine vermutlich von der Polizei ausgesuchte und beauftragte Koryphäe, diagnostizierte in Windeseile und nach bloßem Augenschein. Oder, noch obskurer, nach den ersten Auslassungen des Täters: „Der Beschuldigte habe angegeben, er fühle sich verfolgt von der Polizei, die Männer schicke, 'um ihn verrückt zu machen'.“ Das reicht dem Schnell-Psychiater bereits aus, um der Polizei grünes Licht für Erklärungen zur wahrscheinlichen „Schuldunfähigkeit“ des Täters zu geben. Sodass die eifrigen Kollegen von Spiegel-Online bereits titeln können: „Messerangreifer im ICE war wohl nicht schuldfähig.“
So wird's gemacht. Das Beweismaterial für die „Schuldunfähigkeit“ von Abdalrahman besteht laut Spiegel-Online aus überwältigenden Indizien wie diesem: „Bei seiner Festnahme soll der Tatverdächtige den Satz 'Ich bin krank, ich brauche Hilfe' gesagt haben.“ Und später nochmal: „Er habe sich bedroht gefühlt.“ Es folgt eine unbegreifliche Konklusion in deutscher Polizei-Logik: „Das Messer mit einer acht Zentimeter langen Klinge, mit dem der Verdächtige seine Taten mutmaßlich beging, habe er seit Längerem mit sich geführt (...) Die Polizei sieht in der Tatwaffe deshalb (!) auch keinen Hinweis darauf, dass die Angriffe im ICE von längerer Hand geplant waren.“
Die eigentliche Pointe kommt erst noch. „Es liefen im Vorfeld keinerlei polizeiliche Maßnahmen gegen die Person“, heißt es im Spiegel-Text. Doch dann, in offenkundigem Widerspruch dazu: „Im Jahr 2020 wurde der Verdächtige laut den Ermittlern bereits einmal wegen eines kleineren Betrugsdelikts rechtskräftig verurteilt.“ Im schnelldiagnostischen Hirn des genialen Polizeipsychiaters ist dennoch nicht der leiseste Verdacht heraufgedämmert, es könnte sich, bei einem bereits wegen Betrugs verurteilten Verdächtigen, auch hier um einen Fall von Betrug handeln, indem der Täter die angeblichen Symptome einer „paranoiden Schizophrenie“ einfach simulierte? Zumal ihm der Schwindel so leicht gemacht wurde. Er brauchte nur zu sagen, „er habe sich bedroht gefühlt“.
Von den tatsächlichen Opfern nicht mehr die Rede
Nein, dieser Verdacht ist dem Eil-Gutachter nicht gekommen, denn so zu denken, wäre nicht politisch korrekt. Tief verinnerlicht, so tief, dass es nicht mehr in Zweifel gezogen wird, ist das Erklärungsmuster der deutschen Polizei, der Gerichte und Medien: Rechtsextreme Täter handeln aus Gesinnung, hinter ihnen stehen Netzwerke und Plattformen, eine rechte, querdenkerische Sympathisanten-Szene und die einschlägig bekannten „Stichwortgeber“ von Achgut bis Tichy. Während muslimische Messerstecher grundsätzlich psychisch gestörte Einzeltäter sind. Oft wird noch – wie hier – die Hilfsbedürftigkeit des Täters betont, der, so gesehen, eigentlich ein Opfer ist. Von den tatsächlichen Opfern des Anschlags ist ohnehin längst nicht mehr die Rede.
Und so absurd dieses Muster anmutet, so konsequent wird es durchgezogen. Die stumpfsinnige Wiederholung der Formel vom psychisch verwirrten, für seine Tat nicht verantwortlichen Opfertäter erweckt allerdings bei Außenstehenden den Eindruck: Auch die deutsche Polizei ist inzwischen psychisch verwirrt. Die deutsche Rechtsprechung, Politiker und Medien. Manchmal scheint mir, das ganze Land.