Der französische Philosoph Paul Valéry (1871-1945) hat einmal gesagt: „Zwei Dinge bedrohen die Welt: Die Ordnung und die Unordnung.“ An diesen klugen Satz musste ich denken, als ich kürzlich in der Presse die Berichte um die geplatzte Ausstellung der berühmten Qumran-Schriftrollen im Frankfurter Bibelhaus Erlebnismuseum las.
Die Schriftrollen wurden zwischen 1947 und 1956 in elf Felshöhlen nahe der Ruinenstätte Khirbet Qumran im Westjordanland entdeckt. Um was es in den Qumran-Rollen geht, soll uns im Moment egal sein. Uns interessiert hier nur, dass sie im Westjordanland gefunden wurden. Das Westjordanland, auch West Bank genannt, bildet mit dem Gazastreifen die Palästinensischen Autonomiegebiete. Und damit ist klar: Da steckt Zündstoff drin. Denn es herrscht Streit, wem die Rollen gehören: Israel, Jordanien oder den Palästinensischen Autonomiegebieten. Um zu verhindern, dass die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) oder Jordanien Ansprüche auf die Qumran-Rollen geltend machen, hatte Israel für die Ausstellung eine rechtsverbindliche Rückgabezusicherung von der Bundesregierung gefordert.
An dieser Stelle erscheint ein Blick in das einschlägige Gesetz zum Schutz von Kulturgut (Kulturgutschutzgesetz – KGSG) hilfreich. Dort heißt es
§ 73 Rechtsverbindliche Rückgabezusage
(1) Wird Kulturgut aus dem Ausland für eine öffentliche Ausstellung oder für eine andere Form der öffentlichen Präsentation, einschließlich einer vorherigen Restaurierung für diesen Zweck, oder für Forschungszwecke an eine Kulturgut bewahrende oder wissenschaftliche Einrichtung im Bundesgebiet vorübergehend ausgeliehen, so kann die oberste Landesbehörde im Benehmen mit der für Kultur und Medien zuständigen obersten Bundesbehörde eine rechtsverbindliche Rückgabezusage für die Aufenthaltsdauer des Kulturgutes im Bundesgebiet erteilen. Die Rückgabezusage darf höchstens für zwei Jahre erteilt werden.
(2) Für die Erteilung der rechtsverbindlichen Rückgabezusage ist die oberste Landesbehörde des Landes zuständig, in dem der Entleiher seinen Hauptsitz hat. Bei mehreren Leihorten ist die Behörde des ersten Leihortes zuständig.
Der Unterschied zwischen „Benehmen“ und „Einvernehmen“
Da der Entleiher – sei es nun das Bibelhaus Erlebnismuseum, die Frankfurter Bibelgesellschaft e.V. oder die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, die den Vertrag mit der Antikenbehörde Israels offenbar unterschrieben hat – seinen Hauptsitz in Hessen hat, war die Zuständigkeit des hessischen Wissenschaftsministeriums gegeben. Dessen Chef, Minister Boris Rhein, soll bereit gewesen sein, Israel die gewünschte Rückgabezusage zu geben. Sah sich aber durch die Weigerung der Staatsministerin für Kultur und Medien, Monika Grütters, daran gehindert. Diese musste sich ihrerseits mit dem Auswärtigen Amt abstimmen, das von einer Rückgabegarantie abriet.
Und nun beginnt die eigentliche Posse: Das Wissenschaftsministerium in Wiesbaden behauptete, „dass eine Garantie eine vorherige Einigung mit der Bundesebene voraussetze“, wie die „Welt“ berichtete. „Der Bund riet allerdings dringend davon ab.“ Daher könne nicht von „Benehmen“ die Rede sein, sagte Ministeriumssprecher Christoph Schlein, wiederum laut „Welt“.
Da staunt nun der Laie und der Fachmann wundert sich. Denn der Jurastudent lernt spätestens im vierten Semester den Unterschied zwischen „Benehmen“ und „Einvernehmen“. Nur bei letzterem ist die primär zuständige Behörde an die Weigerung der beteiligten Stelle gebunden, während sie sich beim „Benehmen“ darüber hinwegsetzen kann. Der Sprecher von Staatsministerin Grütters hatte daher Recht, wenn er erklärte: Das Land Hessen „hätte die Rückgabegarantie selbständig und in eigener Verantwortung erteilen können, wenn die Landesregierung die Rechtsauffassung des Bundes nicht geteilt hätte.“ Auf die Nachfrage der „Welt“, welche Rechtsauffassung Hessen vertrete, hat Pressesprecher Schlein nicht geantwortet, obwohl er hierzu nach § 3 Absatz 1 Satz 1 des Hessischen Pressegesetzes verpflichtet gewesen wäre.
Ulrich W. Sahm hat auf Israelnetz versucht, Licht ins Dunkel zu bringen, indem er darauf hinwies, dass Jordanien zwar das betreffende Gebiet beim Fund der Rollen und bis 1967, als Israel die Gegend eroberte, kontrolliert habe. Doch die Behauptung, dass das Gebiet „jenseits seiner (Israels) international anerkannten Grenzen“ liege, sei eine grundlegend falsche Behauptung. Zwischen Israel und Jordanien wurde 1949 nur eine „Waffenstillstandslinie“ festgelegt, „ohne diplomatische Folgen“, wie es im Vertrag von Rhodos heißt. Diese sogenannte „grüne Linie“ sei jedenfalls keine „international anerkannte Grenze“, wie in Hessen oder im Auswärtigen Amt in Berlin behauptet werde. Die Palästinensische Autonomiebehörde sei erst 1995 infolge der Osloer Verträge entstanden. Der Norden des Toten Meeres und so auch Qumran hätten nie in ihrem Herrschaftsgebiet gelegen. Ob sich aus politisch bedingten „Ansprüchen“ der Palästinenser auf alles, was sich je im Gebiet von „Palästina“ befunden habe, darunter auch Tel Aviv und andere „illegale jüdische Siedlungen“, Besitzansprüche auf die Qumran-Rollen ableiten lassen, sei mehr als fraglich.
Verschobenes Koordinatensystem einzelner Bundesminister
Halten wir also fest: Rein rechtlich liegt der Schwarze Peter beim Hessischen Wissenschaftsministerium, politisch aber zweifellos bei der Bundesregierung. Deshalb hat nicht nur die Deutsch-Israelische Gesellschaft ihren Unmut gegen diese gerichtet. Auch der Frankfurter Bürgermeister und Kirchendezernent Uwe Becker hat die Absage des Bibel-Museums für die im Herbst 2019 geplante Qumran-Ausstellung zum Anlass genommen, sein Unverständnis gegenüber der Haltung der Bundesregierung zum Ausdruck zu bringen:
„Es kann und darf nicht sein, dass das verschobene Koordinatensystem einzelner Bundesminister beziehungsweise von Bundesministerien unser grundsätzliches Verhältnis zu Israel derart beschädigt, dass nun offensichtlich nicht einmal mehr Ausstellungen mit Fragmenten von kulturhistorisch bedeutsamen Bibel-Handschriften aus Israel gezeigt werden können. Wenn sich Deutschland weigert, Israel eine rechtsverbindliche Rückgabezusage für die Leihgaben aus Qumran zu geben (Immunitätszusage), dann baut die Bundesregierung eine Mauer zu den Ursprungsorten des Christentums auf. Denn was für Qumran gilt, gilt dann auch für Bethlehem, Jericho, Ostjerusalem und weitere Stätten des Wirkens Jesu Christi. Entweder hat hier jemand die Dimension dieser Fehlentscheidung nicht überblickt, oder man betreibt eine Politik, die aus meiner Sicht unvereinbar ist mit den grundsätzlichen Beziehungen zu Israel.“
Selbst wenn man die ominöse „Staatsräson“ aus Merkels Knesset-Rede vom 18. März 2008 außen vor lässt, muss sich die Kanzlerin fragen lassen, was ihre formelhafte Betonung der besonderen Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel eigentlich wert ist. Wenn man dann noch bedenkt, dass das neue Staatsoberhaupt kurz nach seinem Amtsantritt nichts Eiligeres zu tun hatte, als am Grab des PLO-Führers Yassir Arafat in Ramallah einen Kranz niederzulegen, jenes Arafat, dessen Konterfei die Demonstranten am 17.07.2014 in Berlin hochhielten (5:50), während sie brüllten „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“, denn kann man durchaus geneigt sein, mit Markus Vahlefeld von Steinmeiers Verantwortungs-Heuchelei zu sprechen und einen Satz der Kanzlerin zweckzuentfremden und zu sagen „dann ist das nicht mein Land“.