Der europäische Rat in Brüssel verabschiedete am 21. Dezember 1989 die „Richtlinie zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für persönliche Schutzausrüstungen“. Alles sollte seinen geregelten europäischen Gang gehen mit der Weste „in meist gelber oder oranger Tagesleuchtfarbe mit retroreflektierenden Streifen, die zur besseren Sichtbarkeit von Personen dient“. Sie wurde bis Oktober 2013 nach der Norm EN 471 klassifiziert. Dann herrschte dringender Reformbedarf und heraus kam 2013 die Norm „EN ISO 20471“.
In Deutschland entfalteten sogar die Finanzämter und der Zoll die gesamte Palette ihrer regulatorischen Inbrunst, denn es galt, ein besonders kompliziertes Problem zu lösen: Es herrschte hinsichtlich der Tarifierung von Warnwesten Unsicherheit, ob die Warnwesten als „Waren aus Kunststoff“ oder als „Textilien“ zu deklarieren seien. Letztere sind bei der Einfuhr aus China genehmigungspflichtig. Den Schlaumeiern, die in den Schutzwesten der Einfachheit halber „Waren aus Kunststoff“ zu erkennen glaubten, wurden zum Teil Geldbußen in sechsstelliger Höhe aufgebrummt. Das waren dann die teuersten gelben Westen aller Zeiten, wobei die Bezeichnung „gelb“ in Verbindung mit einem Produkt aus China haarscharf am Rassismus entlangschleift.
Und jetzt auch noch das. Entgegen jeder Norm und vor allem entgegen dem Europäischen Geist, der nicht nur in der Krümmung der europäischen Gurke, sondern auch jeder europäischen Schutzweste innewohnt, machen die Franzosen die gelbe Weste zu einem revolutionären Kleidungsstück. In aufmüpfigen Textilien haben die Franzosen Erfahrung – man denke etwa an Coco Chanels „kleines Schwarzes“ (petite robe noire) von dem die Schöpferin sagte: „Dieses schlichte Kleid wird eine Art von Uniform für alle Frauen mit Geschmack werden“. Das kleine Schwarze und die gelbe Weste harmonieren trefflich miteinander, kein Wunder, dass Monsieur Macron so nervös ist.
Auch die Wildsäue fürchten sich vor weißen Westen
Es gibt in Frankreich grundsätzlich zwei Populationen, die die gelben Westen über alles fürchten. Da wären zum einen, die mit der weißen Weste, also die politische Klasse. „Weiß“ galt schon immer als Zeichen der Unschuld und Reinheit. In der Religion steht das weiße Schaf respektive Lamm als Symbol für den unschuldigen Jesus Christus, Emmanuel Macron ist lediglich dessen laizistischer Wiedergänger. Die zweite Gruppierung mit panischer Angst vor auffälligen Westen sind die französischen Wildsäue, gewissermaßen die grande robe noire. Seit der Revolution hat jeder Franzose das Recht, im Wald seiner Wahl nach Herzenslust rumzuballern, wovon immerhin zwei Millionen Franzosen Gebrauch machen. Dabei werden nicht nur hunderttausende Wildschweine, sondern pro Saison auch 40 bis 60 Jäger ins Reich der ewigen Jagdgründe geschickt. Um den engagierten Waidmann von der Wildsau zu unterscheiden, sind für Jäger deshalb ebenfalls Warnwesten vorgeschrieben, sogar die Hunde tragen entsprechende Leibchen. Nun sind Wildschweine schnell von Begriff, es ist also nur eine Frage der Zeit, bis der erste Eber mit gelber Weste gesichtet wird und womöglich auf den Champs-Elysees mitrandaliert.
Im Bereich der Oberbekleidung gibt es teilweise jahrtausendealte revolutionäre Relikte, etwa in Form der sogenannten „phrygischen Mütze“, in der Antike ursprünglich von kleinasiatischen Völkern getragen, die von den Griechen als Galeerensklaven eingesetzt wurden. Bei den Römern wurde sie zum Merkmal der freigelassenen Sklaven und schließlich, in der Neuzeit, als Sinnbild der Befreiung in der Französischen Revolution wieder aufgegriffen, um dann als rote Jakobinermütze Angst und Schrecken zu verbreiten (eine Seitenlinie entwickelte sich weiter zur roten Fahne). In Berliner Szenevierteln, wo es endemische Populationen verschiedener Revolutionsdarsteller gibt, lassen sich mitunter solche Zipfel beobachten, aber auch Lenin-Käppis, die meist schütteres Haar kaschieren. Ein revolutionär-modisches Evergreen ist auch das Barett, das dereinst von Che Guevara getragen wurde, dem sozialistischen Bambi schlechthin. Höhere Töchter sehen damit besonders hübsch aus.
Ein politisches Bekenntnis mit Notausgang
All diese Kleidungsstücke sind eigentlich ganz nett, solange sie nicht vorgeschrieben werden. Einzelne Symbole, die in der revolutionären Praxis erfunden wurden, etwa die Kokarde der französischen Revolution (eine Anstecknadel mit einer Rosette aus Papier oder Stoff), oder auch der Mao-Anzug wurden zur gesetzlichen Pflicht oder zumindest zur Verbindlichkeit gemacht, was ein todsicheres Zeichen für das Anbrechen totalitärer Zeiten ist. Nicht so plump, aber beinahe noch wirkungsvoller als Kleidungserlässe sind übrigens verbindliches Sprachdressing und uniformiertes Denken. Wenn ich das richtig sehe, dann lehnen sich die gelben Schutzwesten in Frankreich auch gegen solche Anwandlungen einer moralisierenden Elite auf. Gelbe Westen gegen weiße Westen.
Das besonders Interessante an den gelben Westen ist ihr subversiver Kern. Man kann die Weste bedenkenlos mit sich führen, weil sie – aus anderen Gründen – gesetzlich vorgeschrieben ist. Sie ist gleichsam ein politisches Bekenntnis mit Notausgang. Genau wie die weißen Bändchen, die sich in der DDR jene an die Autoantenne hefteten, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten. Das war gefahrlos möglich, weil weiße Bändchen eben auch bei Hochzeiten üblich waren. Genau diese Ambivalenz ist ja auch beim Kopftuch der Trick, es ist gleichsam die gelbe Weste des Islam. Besonders unübersichtlich ist daher die Lage in Ägypten. Die dortige Militärregierung hat sich unter anderem dem Kampf gegen die radikale Muslimbruderschaft verschrieben. Und jetzt aus Angst vor Demonstrationen den Verkauf von gelben Westen untersagt.
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