Der Kulturkompass: „Matrosenruhe“

Vielen Deutschen geht es noch gut. Vergleichsweise gut. Sie müssen beispielsweise nicht fürchten, willkürlich verhaftet zu werden, um dann längere Zeit in verrufenen Haftanstalten oder Lagern zu verschwinden. In anderen Ländern, und das sind nicht gerade wenige, sieht es nicht so rosig aus. Wie zum Beispiel im Iran, in China oder in Russland. Alexei Nawalny und seine schnelle Verurteilung zur Lagerhaft ist nur ein Beispiel.

Wer nicht nur wissen möchten, welche katastrophalen Haftbedingungen Nawalny bevorstehen und wie willkürlich das russische Justizsystem funktioniert, sondern auch wie die menschliche Psyche tickt, dem sei das Buch „Matrosenruhe“ wärmstens empfohlen. Dort schildert Wladimir Perewersin auf subtile, aber doch klare Art seine Zeit in russischen Gefängnissen. Erst 2012 wurde er entlassen.

Schon seine Verurteilung enthüllt sich im Buch als kafkaeskes Meisterstück. Weil der Staat für Michail Chodorkowskis Verurteilung weitere Schuldige brauchte, wählte es ziel- und planlos diese aus. Nota bene: Chodorkowski, einstiger Oligarch und Vorstandsvorsitzender des mittlerweile insolventen Ölkonzerns Yukos, saß mehrere Jahre in Lagerhaft. Das Gericht warf ihm Steuerhinterziehung und Betrug vor, 2005 verurteilte es denselben zu einer neunjährigen Haft im Straflager. Aber das Urteil gilt als umstritten, es wird als politisch motiviert betrachtet. 2013 kam Chodorkowski frühzeitig frei.

Begrüßung der Häftlinge durch die Knüppel der Wärter

Doch zurück zur Causa Perewersin- „Gesetze stehen auf dem Papier, aber das Leben geht seine eigenen Wege“. Pech für Perewersin, Glück für viele andere. Diese Willkür der Tatverdächtigung und der anschließenden Verurteilung begegnen den Leser in Perewersins Beschreibungen mehrere Male.

Sage und schreibe, sieben Jahre und zwei Monate verbrachte Perewersin in russischen Gefängnissen. Das alles unter widrigsten Umständen. Den Mangel an Hygiene, die teilssadistische Willkür, die zahlreichenErniedrigungen und die absurden „Erziehungsmaßnahmen“ sind für die meisten Deutschen sicher unvorstellbar.

So leben Häftlinge zusammengepfercht in einer überfüllten Zelle. Mag der Gefängnisaufenthalt in Deutschland mehr einem Abenteuertrip gleichen, so beginnt er in Russland in der Regel mit einerzehntägigen Isolierhaft inklusive Ratten als Mitbewohner. Begrüßt werden die Häftlinge durch die Knüppel der Wärter und Insassen, nach der Isolation geht es dann in vollkommen überfüllte Zellen.

Apropos Insassen. Grandios, wenn auch ungewollt, nimmt zudem Perewersin den Leser in die Abgründe des Psychischen. Denn er zeigt: Wo Menschen sind, gibt es stets „Unmenschen“. So auch hinter den Gefängnismauern. Um sich etwa die Gunst des Haftleiters sowie bestimmte Privilegien zu erwerben, wenden sich einige Insassen gegen ihre Schicksalsgenossen. Sie erniedrigen, denunzieren und missbrauchen diese - alles für den eigenen Vorteil.

Einmaliger Einblick in das russische Leben

Das alles beschreibt Perewersin sehr konkret und anschaulich. Hierbei weiß er, geschickt die Grenze des Geschmack- und Anstandlosen nicht zu überschreiten. Stets bleibt er bei seinen Beschreibungen taktvoll zurückhaltend, nie wird er aufdringlich. Klugerweise überlässt er es der Phantasie des Lesers, sich in bestimmte, oftgrausame und unmenschliche Situationen hineinzuversetzen. Doch die Vorstellungskraft der meisten deutschen Leser dürfte mitnichten ausreichen, um das tatsächliche Ausmaß zu erfassen.

Nichtsdestotrotz empfiehlt es sich wärmstens „Matrosenruhe“ zu lesen. Wenn es doch „nur“ vom Leben im Gefängnis erzählt, so gibt es einen einmaligen Einblick in das russische Leben und die russische Gesellschaft.

Vielleicht senkt es etwa die Hemmschwelle der Empörung bei nicht gendergerechtem Sprachgebrauch. Schließlich verdeutlicht Perewersin auch, inwiefern Leben auch Leiden bedeutet, nämlich existentielles Leiden. Und nicht Leiden aus Überfluss, wie es doch öfters in Deutschland vorkommt. Das zeigt, wie gut es uns in Deutschland geht. Oder heißt es richtigerweise „noch geht“?

„Matrosenruhe. Meine Jahre in Putins Gefängnissen“ von Wladimir Perewersin, 2019, Berlin: Ch. Links Verlag. Hier bestellbar.

Korrekturhinweis: An dieser Stelle stand zuerst fälschlicherweise eine unfertige Fassung des Artikels. Wir bitten um Entschuldigung.

Foto: Evgenyfeldman CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

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Karola Sunck / 11.03.2021

Hallo Frau Ryszka, natürlich geht es den Deutschen noch ziemlich gut, gegenüber anderen Menschen, besonders aus Drittländerstaaten. Diesen Wohlstand haben sich die Deutschen mit Arbeit und Tatkraft aber selbst geschaffen. Jetzt aber hat wohl die Nachfolgergeneration der arbeitssamen Deutschen von früher die Schnauze voll vom Wohlstand und sie wollen mal sehen wie es ist, zu den armen Ländern zu gehören. Anders kann ich es mir nicht erklären, warum die Mehrheit hier im Lande immer seit längerer Zeit Politiker mit Zerstörungsabsicht für dieses Land in Amt und Würden bringt. Natürlich sind auch hier die Haftanstalten anders und viel humaner als in extrem totalitären auch sozialistischen Ländern und in Ländern mit viel Armut und dadurch extreme und hohe Kriminalität. Wenn man die Belegung der deutschen Gefängnisse betrachtet, so fällt doch auf, dass die Mehrheit der Insassen aus anderen Ländern stammt. Deshalb ist wohl der Aufenthalt dieser Menschen in deutschen Justizvollzugsanstalten gegenüber den Gefängnissen in deren Ländern eine Art Urlaub mit Vollverpflegung, etwas Arbeit und Freizeitgestaltung und nicht als große Strafe zu bewerten. Die Häftlinge können sich ja sicher sein, dass der deutsche Staat während ihres Aufenthaltes weiterhin ihre Angehörigen fürstlich versorgt und sie wenn sie rauskommen, auch ihnen wieder hilfreich unter die Arme greift und sie vor Ausweisung beschützt, egal was sie verbrochen haben. In deutschen Gefängnissen behält der Mensch noch seine Würde, aber wie lange noch, dass ist hier die Frage. Wenn Deutschland durch die Politik in einen totalitären, diktatorischen Staat umgewandelt wird, ist auch hier die Würde des Menschen nichts mehr wert und nicht mehr gegeben!

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