1978 lief in den Kinos ein bemerkenswerter Film über finstere deutsche Zustände. Sein Manko: Die Macher kamen damit 43 Jahre zu früh.
Ende 1977, der von RAF-Terroristen ermordete Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer war unlängst mit einem Staatsakt unter die Erde gebracht worden, schickte sich eine Gruppe von neun Filmemachern und einigen politischen Fellow Travellers an, einen Mythos zu konstruieren. Volker Schlöndorff, Edgar Reitz, Rainer Werner Fassbinder, Alexander Kluge, Heinrich Böll und andere Größen der Kulturszene schufen mit der Agitprop-Collage „Deutschland im Herbst“ ein Meisterwerk subtiler Geschichtsklitterung. „Deutschland im Herbst“ behandelte die Zustände in einer Art Polizeistaat namens Westdeutschland, wo keine Meinungsfreiheit mehr galt und jeder jederzeit Opfer von Willkür und Denunziantentum werden konnte.
Es war eine Blaupause für Manipulation im Bewegtbildbereich; in ihrer Arglist bis heute unerreicht, sieht man von Politmagazinen der ARD ab. In die Kinos gelangte das mit dem „Filmband in Gold“ geadelte Lichtspiel 1978. An der Kasse wurde es kein Hit, umso mehr bei der Kritik. In den Köpfen mancher Nachgeborener spukt der Filmtitel noch immer herum, als vermeintliche Analyse eines politischen Zeitzustands.
Die freihändig-episodische, mit dokumentarischen Schnipseln versetzte, unbequeme Bilder strikt ausblendende Collage ergab für Teile der Linken und Liberalen ein stimmiges Szenario. Danach war es eben nicht der seit sieben Jahren währende RAF-Terror, der das Land gelegentlich an den Rand des Ausnahmezustands gebracht hatte.
All die Razzien, Großfahndungen, Straßensperren, die öffentliche Präsenz so vieler Bewaffneter, das unvermeidlich erhitzte Diskursklima in den Medien, Auseinandersetzungen in so mancher Familie, manchem Freundeskreis, manchem Betrieb – das alles, so insinuierte der Film von der ersten bis zu letzten Einstellung, habe der Staat verbockt. Seine Entscheidungsträger hätten etwas furchtbar falsch gemacht.
Das Ausmaß der Verblendung
Nämlich, dass sie nicht auf die „verzweifelten Theoretiker“ zugegangen waren, auf die „inzwischen Verfolgten und Denunzierten, die sich in die Enge begeben haben, in die Enge getrieben worden sind und deren Theorien weitaus gewalttätiger klingen, als ihre Praxis ist“.
So schrieb es Heinrich Böll im Januar 1972 im Spiegel. Dieses seinerzeit noch ziemlich renommierte Magazin erhob ein paar Dutzend RAF-Morde später die Herbstsonate von Schlöndorff et al. „zum Aufregendsten, was der junge deutsche Film je hervorgebracht hat“.
Der offizielle Trailer des Verleihs nannte das Gemeinschaftswerk einen „Film gegen das Vergessen“. Das war nicht nur steindumm und kenntnislos, wie Bölls Spiegel-Fantastereien über „Gnade oder freies Geleit für Ulrike Meinhof“. Das war perfide.
Denn der Topos Gegen das Vergessen war schon in den 1970ern untrennbar mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus verbunden. Diesen Begriff im Zusammenhang mit der Notwehr eines demokratischen Staates gegen eine tollwütige Hydra zu benutzen, zeigte das Ausmaß der Verblendung, in der sich Teile der Linken befanden, namentlich ihre künstlerischen und akademischen Milieus.
Die Vorstellung von den 1970ern als einer „bleiernen Zeit“ ist nicht totzukriegen. Der Titel des gleichnamigen, bleischwer und trübtassig inszenierten Terroristinnen-Melodrams bezog sich nach Auskunft seiner Regisseurin Margarete von Trotta zwar eigentlich auf die politisch erstarrte Landschaft der Fünfziger. Verstanden wurde er aber als Metapher für die Atmosphäre in den Jahren des RAF-Terrors.
Die Alltagswirklichkeit jener Jahre sah komplett anders aus
In diesen Jahren herrschte angeblich eine Art Notstandsregime, war jeder suspekt, der ein falsches Wort redete oder schrieb, genügte der Besitz eines Autos der unter Terroristen beliebten Marke Alfa Romeo, um ins Fahndungsraster zu kommen. Der Deutschlandfunk ließ eine Betrachtung zum Vierzigjährigen von „Deutschland im Herbst“ mit dem bedeutungstremolierenden Satz ausklingen: „Was wird bloß aus unseren Träumen in diesem zerrissenen Land?“
Clou ist, die Zeile bezieht sich mitnichten auf RAF und die Folgen. Sie stammt aus einem Lied von Wolf Biermann, veröffentlicht 1976. Es beschreibt das Lebensgefühl eines imaginierten Wanderers zwischen Welten mit Namen DDR und BRD.
Nein, die Bundesrepublik war in den 1970ern keineswegs heillos gespalten. Die überwältigende Mehrheit stand hinter der Politik einer harten Linie gegen den Terror. Dass die Stimmung in diesen Jahren oft auch hektisch war, gelegentlich hysterisch; dass die ewigen Kontrollen nervig, Standpunkte unversöhnlich waren, ging es um die Baader-Meinhof-Bande (wer Baader-Meinhof-Gruppe statt Baader-Meinhof-Bande sagte, wurde in konservativen Kreisen als Sympathisant markiert) – all das stimmte. Der Ton war rau.
Aber wen wunderte das, bei Sätzen wie diesem von Volker Schlöndorff: „Nach so einer Arbeit mit diesem Film, nach den Erfahrungen, die man dabei macht, fragt man sich nicht mehr, warum gibt es sogenannte Terroristen, sondern wie kommt es, dass es nicht viel mehr gibt. Wie kommt es, dass nicht alle um sich schlagen.“
Ja, es gab einen harten Kern von Schriftstellern, Journalisten, Künstlern, Filmemachern, Hochschullehrern, der allen Ernstes glaubte, der Staat hätte sich mit den Terroristen an einen runden Tisch setzen müssen, um mit ihnen eine neue, in den Augen dieses Kerns bessere, Republik auszuhandeln.
Nun gibt es in jeder Ära, jeder Dekade Naive, Verpeilte, Durchgeknallte. In den Siebzigern handelte es sich aber nur um eine winzige Minderheit. Die Alltagswirklichkeit jener Jahre sah komplett anders aus.
Der überwältigende Rest des Landes guckte Wim Thoelke
Eine quietschbunte, geradezu diverse Zeit, von den Klamotten bis zu den Sekten. Surfer und Maojünger, Punks und Hippies, Abba, Heavy Metal und Saturday Night Fever. Manche waren auf der Suche nach einem Dritten Weg (Bahro! Eurokommunismus!), andere auf der Suche nach Sex mit spirituellem Überbau (Poona!).
Auch das waren aber bloß Subkulturen, Versprengte, Futter für die gefräßige Medienindustrie. Der überwältigende Rest des Landes guckte Wim Thoelke, den Showmaster, und Erik Ode, den Kommissar. Fuhr nach Mallorca, wählte die Sozen und genoss die Früchte eines wildwüchsigen Sozialstaats. 1974 erzwang der Gewerkschaftsboss Heinz Kluncker elf Prozent Lohnerhöhung für Beschäftigte im Öffentlichen Dienst.
Obwohl in den Medien omnipräsent, verdunkelte der Terror das Leben der Bevölkerung nie wirklich, abgesehen vielleicht von den paar Wochen des großen Showdowns. Elvis´ Tod am 16. August 1977 in Memphis hat, so muss man annehmen, die meisten Zeitgenossen mehr geschockt als die Ermordung des Bankiers Jürgen Ponto zwei Wochen vorher in Frankfurt.
Dass es für das schwelende, immer wieder in Anschlägen eruptierende Problem RAF nur eine polizeilich-militärische Lösung geben konnte, war für „die da draußen im Lande“ am Ende sicherlich Konsens. Als dieser Fall eintrat, die „Landshut“ in Mogadischu von der GSG 9 gestürmt wurde und als Folge fast die gesamte erste Führungsriege der RAF in Stammheim Suizid beging, war der Jubel umfassend. Grüne Knalltüten vom Kaliber Renate Künast hatten damals noch nichts zu melden.
Pegel des Vertrauens auf dem niedrigsten Stand seit 1953
Und heute? Gespalten, zerrissen, vom Klima-Nazi-Rassisten-Wahn gekeult ist Deutschland heute, Jahrzehnte nach der Hochphase des Terrors. Müßig zu ergründen, wie sich dieser Zustand peu à peu einstellen konnte. Wie es kam, dass der Nebel aus Desinformation, Denunziationslust und Gleichgeblök der Meinungsmacher immer dichter wurde.
Stand am Anfang der Entwicklung die Kampagne gegen Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ von 2010? Waren es die Debatten über Merkels jähe Atomwende Mitte 2011, über die Grenzenöffnung von 2015? Über die Kölner Massengrabscherei an Silvester 2015/16? Über nie stattgefundene „Hetzjagden“ in Chemnitz? Corona und Ahrweiler, waren das die ersehnten Gelegenheiten für den Mainstream, allen Häretikern endgültig das Maul zu stopfen?
Egal. Auf jeden Fall ist der kürzlich gemessene Pegel des Vertrauens darauf, dass man eine Meinung nicht bloß haben, sondern sie ohne berufliche oder soziale Nachteile auch äußern darf, laut Allensbach auf dem niedrigsten Stand seit 1953 angekommen. Wenn das kein deutscher Herbst ist.
Ein Remake des Films von 1978 wäre also überfällig. Material ist da in Hülle und Fülle. Antifa-Randale vor Wahlkampfständen. Polizeikräfte, die „Corona-Leugner“ wie einen George Floyd zu Boden drücken. Hetze gegen „alte weiße Männer“ durch #metoo-Fanatikerinnen. Gesprengte Vorlesungen missliebiger Professoren an der Uni Hamburg und anderswo. „Hausbesuche“ von Linksextremen am Wohnort eines Polizeibeamten. Buttersäureangriffe auf „rechte“ Buchhandlungen. Ausspähung, Stalking und Mobbing von rechten Politikern durch sogenannte Aktionskünstler, die von sogenannten zivilgesellschaftlichen Stiftungen Preise einheimsten.
Ein Berliner Stasiforscher wird mit fingierten Vorwürfen wegen „strukturellen Sexismus“ gefeuert. Aus dem betulichen Lokalblatt schlägt einem Augsburger plötzlich blanker Hass entgegen – er, der Ungeimpfte, sei „Treiber“ der Pandemie, ein Volksfeind mithin.
Betonwälder aus rotierenden Windradmonstern
Pikante Schnittfolgen böten sich an. Zum Beispiel: Der damalige Hamburger Bürgermeister und aktuelle Kanzlerkandidatenavatar Scholz mit Angela Merkel und Gästen des G20-Gipfels in der edlen Elbphilharmonie zu Hamburg, Beethovens „Ode an die Freude“ lauschend. Während – Schnitt – zeitgleich ein vielköpfiger Mob aus lokalen und angereisten Linksfaschisten Teile der Hansestadt kurz und klein schlägt, Brände legt, Polizisten verletzt, Geschäfte plündert. Unmöglich, die radikale Verrücktheit der herrschenden Verhältnisse besser auf den Punkt zu bringen.
Während Schlöndorffs Film gleich zu Anfang in Bildern von polierten Limousinen und funkelnden Mercedes-Sternen schwelgt, aufgenommen beim Staatsakt für Schleyer, von der Filmregie benutzt als Symbole des allmächtigen Kapitalismus, für den der Ermordete stand, so könnte für „Deutschland im Herbst reloaded“ die Kamera durch perfekt verwüstete Landschaften fahren.
Durch nicht enden wollende Betonwälder aus rotierenden Windradmonstern, etwa im schleswig-holsteinischen Dithmarschen. Als Parabel für den ökologisch-industriellen Komplex, in dem mehr Profit zu machen ist als in der gesamten Autobranche. Bloß, welche Kinoschaffenden kämen für einen solchen Streifen infrage? Schlöndorff selber ist noch berufsaktiv, fällt aber schon wegen seiner Merkel-Affinität aus.
Vielleicht Tom Tykwer? Detlev Buck? Fatih Akin? Dominik Graf? Christian Petzold? Simon Verhoeven? Na, die würden sich bedanken. Das sind Kulturbeutel, die bis zum Hals im lukrativen Gestrüpp von Film- und Fernsehförderungen, Bären-, Grimme-, Käutner- oder ähnlichen Preisvergaben, in Lehraufträgen, Festivaljobs und anderem Geldwerten stecken. Die sind woke bis ins Mark. Besonders bezüglich ihrer Karrieren in einem wieder mal erwachten Schland.
Bliebe allenfalls Florian Henckel von Donnersmarck. „Das Leben der Anderen“ ist nun schon ein Weilchen her. Wie wäre es mit einer 2.0-Version? „Das Leben der Andersdenkenden“, was in der Richtung.