Thomas Rietzschel / 28.12.2019 / 11:10 / Foto: Stefan Klinkigt / 62 / Seite ausdrucken

Der bewegte Mann

Der Bundespräsident ist unter die Läufer gegangen; er hat sich der Laufbewegung angeschlossen. Während es bislang Brauch und Sitte war, dass er die Weihnachtsansprache stehend hielt, bewegte sich Frank-Walter Steinmeier diesmal frei im Raum, von einer Ecke in die andere, gelegentlich nahe dem Christbau, dann wieder vorbei an der Flagge. Geschlagene fünf Minuten durften wir dem präsidialen Fitnesstraining zuschauen, erleben, wie sich seine Exzellenz frei-redete. 

Natürlich beschenkte er das Volk zunächst, wie gewohnt, mit Dank für sein Dasein und leiser Ermahnung, es zukünftig noch besser zu machen. Besonders hervorgehoben wurden „Manche“, die ihm von „hitzigen Gesprächen“ erzählt hätten, auch über „die Zukunft Europas“. Das war es dann aber schon; kein weiteres Wort fiel über den Kontinent. Stattdessen fühlte sich das Staatsoberhaupt gedrängt, uns zu erinnern: „Sie alle haben ein Stück Deutschland in Ihrer Hand.“

Potzblitz! Hatte er im Vorjahr noch von den „Sorgen in Großbritannien vor dem Brexit“ gesprochen, von den „Zerreißproben für Europa in Ungarn, Italien und anderswo“, von Anzeichen einer nationalen Rückbesinnung, vor der wir uns hüten sollten, versicherte er uns nun: „Wir alle – wir alle sind Bürgerinnen und Bürger dieses Landes.“

Vor Tische las man es anders

Was dieses Deutschland ausmache – „mit Zuversicht und Tatkraft, mit Vernunft, Anstand und Solidarität“ – stecke allein in uns, in den „lieben Mitbürgerinnen und Mitbürgern“. Und weil das so ist, schloss der Bundespräsident schließlich: „Deshalb glaube ich an dieses Land.“ Vor Tische las man es anders, heißt es in Schillers „Wallenstein“. 

Eben hieß es noch, ohne Europa wäre Deutschland verloren, ein Spielball fremder Mächte, unfähig, auf eigenen Füßen zu stehen. Wie passt das zusammen mit der unverhofften Bescherung des Bundespräsidenten in diesem Jahr? Wieso bekommt jetzt jeder von uns wieder „ein Stück Deutschland“ in die Hand gedrückt? Welchen Reim sollen wir uns darauf machen?

Rührt der Sinneswandel daher, dass der Bundespräsident seine Weihnachtsansprache 2019 im Gehen hielt? Heißt es doch, dass einem die besten Ideen beim Laufen zufliegen. Oder ist der Schrecken des Brexit den Politikern derart in die Knochen gefahren, dass der gewiefte Diplomat schon mal Ausschau nach dem rettenden Ufer hält, vorsichtig den nationalen Rückzug erwägt, für den Fall, dass andere Völker dem Beispiel der Briten folgen könnten, die Ungarn, die Italiener? Verfügt der bewegte Mann womöglich über weitergehende Informationen, ist er uns eine Sneakerlänge voraus?

Wir wissen es nicht. Haben nur gelernt, auf alles gefasst zu sein. Oder wer hätte geglaubt, je Gelegenheit zum haben, dem deutschen Staatsoberhaupt an Weihnachten bei Fitnesstraining zuschauen zu können?

Foto: Stefan Klinkigt

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Leserpost

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Stephan Lüno / 28.12.2019

Peinlich und Gesichtslos wie fast alle unsere Politiker mittlerweile - zum fürchten!

Heinrich Hein / 28.12.2019

Man dachte immer, schlechter als Gauck und Wulff könne ein Bundespräsident nicht sein. Aber wieder etwas dazugelernt.

toni Keller / 28.12.2019

Seit dieser Mann im Herbst 2015 mehrmals, lautstark und unter Beschimpfung aller die Zweifel an seiner Aussage hegten, sagte, dass die Grenzöffnung, damals im September 2015 ein einmaliger! auf ein einziges Wochenende und auf ein paar tausend Leute (Syrer) beschränkte Aktion sei und diese einmalige, auf ein einziges Wochenende beschränkte Aktion nun über 4 Jahre schon andauert, es sich um Millionen von Menschen handelt, die sichtbar nicht aus Syrien kommen, da Syrien nicht in Afrika liegt,  und selbiger Mann nun auch noch dafür befördert wurde und oberster Repräsentant des Staates geworden ist, seitdem glaube ich ihm kein Wort mehr!

elke popken / 28.12.2019

@frau Schönfelder: humorvoll wie immer und entlarvt bis auf die Knochen. Ich schaue mir solche ansprachen von diesen charakter-und anstandslosen “Regierungsverantwortlichen” nicht mehr an! Es ist schon spassig, das solche ” Tugendgeprägten” moralisten wie Schäuble, Steinmeier ectr. Uns mitteilen, was wir zu denken und zu tun haben, während sie selbst nur zwei regeln folgen: macht und geld, die damit verbundene gelenkigkeit eines wendehalses vorausgesetzt! Bin gespannt, wen aus diesem sauhaufen Herr w. Weimer dieses Jahr seinen sign award preis verleiht?! Frohes neues Jahr allen Achse -schreibern und Lesern!

Alexander Rostert / 28.12.2019

Ich vermute, mit den Deutschlandstücken, die Steinmeier uns jetzt offeriert, ist es wie mit einem Werkzeug, dass man betriebsbereit und neuwertig verliehen hat und kaputt und auseinandergenommen wieder zurückerhält.

Sabine Heinrich / 28.12.2019

Diesmal, Herr Kingkit - Daumen runter! Ihre Karikatur dieses unsäglichen Bundespräsidenten ist so positiv, so nett, so schmeichelhaft, dass sie sich der Lustwandelnde mit dem zynisch wirkenden Mund mit Genugtuung übers Bett hängen kann.

Karl-Heinz Vonderstein / 28.12.2019

Er redete u.a. auch von Rassismus und Antisemitismus und erinnerte an den versuchten Anschlag auf die Synagoge in Halle und dass immer noch auch in Schulen Rassismus vorkäme.Bei letzterem hab ich mich dann gefragt, wer bei rassistischen Vorkommnissen an Schulen immer so Täter und Opfer ist.Für Steinmeier ist es wohl klar, Täter sind immer junge Deutsche bzw. junge Bio-Deutsche und Opfer sind immer junge Ausländer bzw. junge Menschen mit Migrationshintergrund. Gilt das dann auch für Hauptschulen, wo der Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund vermutlich so bei 80 bis 90 Prozent liegt?

Bertram Scharpf / 28.12.2019

Wo ist sie, die alte Angriffslust, als er noch Feine Sahne lobte? Schön zu sehen, wie der Bande allmählich die Puste ausgeht.

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