Aus der Perspektive des globalen Kulturkampfes sind die Grenzen Israels auch die Grenzen Europas. Israel, Europa und auch die arabische Welt müssen sich gegen den totalitären Islamismus wehren.
Im Kampf zwischen Israel und den Palästinensern erwächst die Tragik aus der Verstrickungen beider Kulturen auf engem Raum. Über die verzweifelten Versuche der Trennung wie dem Bau schützender Mauern und den verzweifelten Versuchen der Palästinenser, Lebensräume zurückzuerobern, sind endlose Betrachtungen angestellt worden, die immerzu in gegenseitigen Schuldzuweisungen enden.
Der Streit um Land und Staatlichkeit der Palästinenser treffen aber nicht den spezifischen Kern des Problems. Entsprechende Kämpfe gibt es in gleich vier Staaten zwischen Kurden und Türken, Syrern, Irakern und Iranern. Die UNO-Resolutionen gegen die „Besetzung“ durch Israel könnten auch gegen die Besetzung von Uiguren und Tibeter verlängert werden.
Das Besondere am Nahostkonflikt ist nicht die physische, sondern die metaphysische Konstellation. Mit dem Aufkommen der Hamas ging der zunächst nationalistische oder imperialistische Kampf der Araber in den Heiligen Krieg der Muslime gegen Ungläubige über. Die Hamas ist keine politische Befreiungsbewegung, das physische Schicksal des eigenen Volkes ist ihnen egal. Palästina und die Vernichtung Israels sind nur Schritte zum universellen Gottesreich der Umma. Da die Mehrheit der Palästinenser selbst die Hamas-Massaker befürworten, ist eine Zweistaatenlösung mit einem Gottesstaat als Nachbar für Israel keine Option mehr.
Das offene Europa ist in Gefahr
Über das Vordringen der Ayatollahs, von Taliban, Islamischer Staat, Boko Haram, Muslimbruderschaft und Hamas ist der Kampf dieser Art von Religion längst globalisiert. Nächst Afrika bietet vor allem das weltoffene Europa genügend Schwachstellen, um die Umma voranzubringen. Mit ihren offenen Grenzen und ihrem kulturellem Relativismus gewähren die Europäer erklärten Feinden freien Zutritt und soziale Förderung. Sie gewähren jene Toleranz gegen Intoleranz, die ihnen gegenüber dem politischen Totalitarismus schon zweimal zum Verhängnis geworden ist. Statt gegen die islamistische Bedrohung kämpfen die Regenbogeneuropäer gegen die „islamophoben“ Boten der Bedrohung. Von Israel fordern sie Humanität gegenüber einem Feind, der Humanität verachtet.
Sofern von den 50 Millionen Muslimen in Europa nur jeder zehnte Islamist ist, bilden diese ein massives Sicherheitsproblem. Zwar haben die Europäer den Palästinensern nichts weggenommen, sondern im Gegenteil deren Existenz durch massive und eine faktisch bedingungslose Entwicklungshilfe erst ermöglicht. Aber auch diese Schutzgelder helfen ihnen auf Dauer nicht. Die Christenverfolgung in der islamischen Welt demonstriert, dass Ungläubige als Zuarbeiter nur geduldet und bei passender Gelegenheit beseitigt werden.
Der islamistische Kampf gegen Ungläubige lässt sich leicht auf Europas Kulturen verlängern – seien sie noch christlich oder schon relativistisch. Die Eroberung eines nicht abwehrbereiten Europas erfolgt denkbar einfach durch Inanspruchnahme von sozialen Leistungen und Infrastrukturen. Die innere Sicherheit ist bereits weitgehend erodiert – bis hin zum notwendigen Schutz von Weihnachtsmärkten und Kirchen.
Israel ist der Frontstaat im Ringen zwischen der säkular-zivilisierten Welt und dem religiösen Totalitarismus. Sollte es dem Druck von allen Seiten nicht mehr standhalten, wird Europa, wie nach dem Fall von Konstantinopel, seine einzigen Staumauern gegen den Islamismus verlieren. Aus der Perspektive des globalen Kulturkampfes sind die Grenzen Israels auch die Grenzen Europas.
Gleichheitswahn als Quelle des Antisemitismus
Die größte Gefahr liegt in der Verleugnung der Gefahr. Während der Antisemitismus bei Rechtsextremen oft längst in Respekt vor Israels Selbstbehauptung umgeschlagen ist, nimmt die Judenfeindschaft der Muslime weiter zu. Sie entspringt nicht zuletzt der Notwendigkeit von Ausreden für das eigene Entwicklungsversagen. Vor allem aber entspricht sie den uralten Glaubensgeboten einer Suprematie des Islam. Die überragenden Entwicklungserfolge Israels wiederlegen tagtäglich und sichtbar den islamischen Überlegenheitsanspruch. Ohne feindselige Verschwörungstheorien und permanenten Kampf gegen das Böse geriete der Glaube selbst in Gefahr.
Linke gibt es, seitdem die Gleichheit vor Gott auch als Gleichheit auf Erden eingefordert wird. Während für Rechtsextremisten ihre rassische Überlegenheit, für Muslime ihre religiöse Überlegenheit über die Juden konstitutiv ist, erklärt sich der Antisemitismus der Linken aus ihrem zentralen ideologischen Gebot der Gleichheit aller Menschen und Kulturen.
Die weltweite Solidarität der politischen Linken gilt selbst den Islamisten, die sie nach ihrer Machtübernahme – wie im Iran – töten würden. Sie vereint nur der Hass auf den Westen und auf das teil-westliche Israel. Ihr Gesinnungseifer lässt selbst religiös motivierten Terrorismus als „Befreiungskampf“ gelten. Gemäß der postkolonialen Ideologie ist Israel der Unterdrücker, und die Palästinenser sind als Opfer des Kolonialismus von jeder Schuld befreit.
Je mehr Forderungen nach sozialer Gleichheit an der Globalisierung scheitern, desto mehr propagieren sie eine Gleichheit der Kulturen. Unterentwicklung erwächst demzufolge nicht aus ungleichen Voraussetzungen der Kulturen oder dem Versagen von korrupten Eliten, sondern aus der Unterdrückung der Schwachen durch die Starken. In letzter Konsequenz geht dann die angleichende globale Solidarität in Auflösung der eigenen Grenzen und eigener Interessen gegenüber Migranten über.
Gemeinsame Sicherheitsstrategie
Über die Massenmigration von Muslimen ist die Sicherheit von Juden in Europa nur noch unter Polizeischutz zu gewährleisten. Spätestens mit dem Schutzbedürfnis jeder einzelnen Synagoge fallen die deutsche und israelische Staatsräson zusammen.
Zunächst illegitime Siedlungen im Westjordanland legitimieren sich im Überlebenskampf Israels zunehmend als Wehrburgen. Ihre rechtliche und moralische Bewertung wird darüber zweitrangig. Nachdem der islamistische Vernichtungswille am 7. Oktober unleugbar geworden ist, stehen die Fragen nach der Haltbarkeit der physischen Grenzen nach außen und der gesetzgeberische Grenzen nach innen im Vordergrund.
Beschwichtigungsversuche wie zuletzt noch gegenüber der Taliban sind gegenüber totalen Wahrheits- und Machtansprüchen wesensgemäß sinnlos. Statt Universalisierung des Eigenen ist der Schutz des Eigenen gefordert – durch Abgrenzung, Abschreckung und Eindämmung. Hier stehen die Europäer noch ganz am Anfang, und dies, obwohl die Gefahr seit Jahrzehnten stetig angestiegen ist.
Sowohl im Zweiten Weltkrieg als auch im Kalten Krieg musste der Westen gegen den Totalitarismus Zweckbündnisse eingehen. In einer gemeinsamen Abwehrstrategie von Israel und der Europäischen Union müssen möglichst viele Verbündete auch unter autoritären, aber an ziviler Entwicklung interessierten arabischen Staaten gesucht werden. Auch sie verteidigen sich gegen die totalitäre Einheit von Religion und Politik. Das Abraham-Abkommen war ein Bündnis gegen Gotteskrieger. Mit der anerkannten Bedeutung Israels als Entwicklungspartner wird der seinerseits eifernde Anspruch orthodoxer Juden auf ihre Auserwählung in eine Avantgardefunktion der Zivilisierung transformiert.
Rufe nach einem „gerechten Frieden“ sind eine Garantie für Unfrieden, da jede Werteordnung darunter anderes versteht. Friede entsteht aber nur durch Vergebung, nüchterner gesprochen, durch Anerkennung der Realität, in der Schwächere sich dem Stärkeren zu ihrem eigenen Wohl anpassen.
Moderate Muslime sollten – wie in den Golfstaaten – ihre Überlegenheitsansprüche in weltliche Ziele transformieren und sich darüber mit den Vorteilen der israelischen und westlichen Zivilisation arrangieren. Dies gelingt bei zwei Millionen arabischer Israelis. Wie im aufgeklärten Nationalismus der Europäer würde damit das materielle Wohl des Volkes metaphysischen Konstrukten und dysfunktionalen Staatsgebilden vorgeordnet. Es wird Zeit, dass die europäische Entwicklungshilfe für die Palästinenser in diesem Sinne ausgerichtet wird.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ).
Prof. Dr. Heinz Theisen lehrt Politikwissenschaft an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln. Hier geht’s zu seiner Website.