Vera Lengsfeld / 24.05.2022 / 12:00 / Foto: Imago / 64 / Seite ausdrucken

Das Verfassungsgericht als grundrechts-schaffende Gewalt?

Verfassungsgerichte in Demokratien haben die Aufgabe, darüber zu wachen, dass staatliche Gewalt die Grundrechte der Menschen nicht verletzt. Es zeichnet sich aber weltweit eine Tendenz ab, dass Verfassungsgerichte als letzte richterliche Instanz selbst mit ihren Entscheidungen und Urteilen stark in eben diese Grundrechte eingreifen und zum Teil sogar neue Grundrechtsgehalte schaffen.

Diese Tendenz ist auch in Deutschland zu beobachten. Sie hat sich in den letzten Jahren enorm verstärkt. Die Frage, die sich besonders am gestrigen Tag des Grundgesetzes hätte stellen sollen, ist, wie das mit den demokratischen Grundsätzen vereinbar ist. Die Gesetze sollten in den Parlamenten gemacht werden. Nur die sollten neue Grundrechte schaffen dürfen, und die Hürden sind mit Recht sehr hoch.

Verfassungsgerichte der Welt, auch das deutsche, reagieren immer häufiger auf die gesellschaftlichen Veränderungen und die schnell voranschreitenden Entwicklungen in Wissenschaft und Technik, speziell die der Informationsvermittlung.

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe traf zum Beispiel Entscheidungen zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung, zum Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum oder dem Recht auf Vergessen.  

Das Gericht ging bei seinen Entscheidungen offensichtlich davon aus, dass im Grundgesetz die einzelnen Rechte nicht abschließend geregelt sind.

In jüngster Zeit werden aber auch Entscheidungen getroffen, die weit über das Grundgesetz hinausgehen, bzw. die Grundrechte einschränken. Die gravierendsten Beispiele sind die Entscheidung zum Klimaschutzgesetz und zur Einrichtungsbezogenen Impfpflicht, beide gefällt vom Ersten Senat unter dem Vorsitz von Merkel-Protegé Harbarth.

Mit dem am 29. April 2021 veröffentlichtem Beschluss hat der Erste Senat entschieden, dass die Regelungen des Klimaschutzgesetzes vom 12. Dezember 2019 über die nationalen Klimaschutzziele und die bis zum Jahr 2030 zulässigen Jahresemissionsmengen insofern mit Grundrechten unvereinbar sind, weil hinreichende Maßgaben für die weitere Emissionsreduktion ab dem Jahr 2031 fehlen.

Mit dem Beschluss, nach dem die Einrichtungsbezogene Impfpflicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei, weil der Schutz vulnerabler Gruppen als höherwertigeres Rechtsgut anzusehen wäre als die körperliche Unversehrtheit des Menschen, wurde dieses im Grundgesetz garantierte Recht ausgehebelt. Beide Urteile öffnen politischer Willkür Tür und Tor.

Das Verfassungsgericht hat damit seine eigentliche Funktion aufgegeben und ist zum politischen Akteur geworden.

Jetzt aber dazu aufzurufen, das Verfassungsgericht zu meiden, weil es das Vertrauen der Bürger nicht mehr verdiene, wie der Cicero es tat, ist fatal. Wenn eine demokratische Instanz ihre Funktion nicht mehr erfüllt, muss sie erneuert werden, damit Demokratie und Rechtsstaat nicht nachhaltig beschädigt und damit außer Kraft gesetzt werden.

Richterliche Grundrechtskreationen werfen einige sehr grundsätzliche Fragen auf:

1. Welche Art von Macht und Funktion üben Verfassungsgerichte aus, wenn sie neue Grundrechte schaffen oder alte einschränken? Haben sie damit verfassungsgebende oder maßstabsetzende Gewalt und wie ist die legitimiert?

2. Welche methodischen Ansätze gibt es, die das Verfassungsgericht dabei zu beachten hätte?

Die Antwort auf diese Fragen ist entscheidend für die Legitimität der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung.

Soweit ich sehen kann, sind diese Fragen am gestrigen Tag des Grundgesetzes öffentlich nicht gestellt worden. Zwar wird festgestellt, dass im Laufe der Zeit ungefähr jeder zweite Artikel des Grundgesetzes verändert worden sei, einige davon auch mehrmals, außerdem gäbe es „wegweisende Urteile", die sich in den Jahrzehnten mal als Motor, mal als Bremser gesellschaftlicher Entwicklungen erwiesen hätten. Problematisiert wird das aber nicht.

Unter dem Radar der breiten Öffentlichkeit bleibt, dass in Deutschland in der Rechtsprechung eine neue Art von Macht erprobt wurde, die das Bundesverfassungsgericht in der Realität ausübt. Es ist höchste Zeit, das Problem zu thematisieren.

Wenn nicht geklärt wird, ob und wie die grundrechtsschaffende Gewalt, die das Bundesverfassungsgericht schon mehrmals ausgeübt hat, gerechtfertigt werden kann, besteht die Gefahr der Erosion der Grundprinzipien der Demokratie.

Foto: Imago

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Leserpost

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Heiner Unguh / 24.05.2022

Man kann ja hier immer und immer wieder über den Zustand jammern, oder einfach mal die AFD wählen. Die fordern in jeder Debatte die Demokratie und den Rechtsstaat zurück. Änderungen benötigen Mehrheiten. Denn, kein Frosch legt seinen Sumpf trocken.

Eugen Karl / 24.05.2022

Inzwischen zeigt sich auch in Deutschland immer mehr das, was der leider völlig vergessene Aufklärungsschriftsteller Johann Karl Wezel in seinem desillusionierden Roman Belphegor (1776) in vielfacher Weise zum Gegenstand macht. Seine eingängigste Fomel: “Wider den Stärkeren ist keine Justiz.” Der Staat und seine Ideologen haben alles in der Hand. Der “Cicero” hat recht mit seinem Artikel.

Lutz Herzer / 24.05.2022

Frau Lengsfeld hat völlig recht. Es wäre fatal, keine Verfassungsbeschwerden mehr zu erheben. Das wäre nur im Interesse der Richter in Karlsruhe. Urteilsbegründungen verfassen, die auf offensichtlichen Sach- und Rechtsirrtümern beruhen, macht niemand gerne. Der in meinen Augen gravierendste Irrtum im Urteil zur einrichtungsbezogenen Impflicht beruht darauf, dass man bei der Frage der Sicherheit die Erfahrung mit konventionellen Impfungen auf die neuen mRNA-Präparate überträgt. Dazu ist im Urteilstext unter Randnummer 223 zu lesen: “Aus jahrzehntelanger Erfahrung wisse man, dass sich die meisten Nebenwirkungen innerhalb weniger Stunden oder weniger Tage nach einer Impfung zeigten. In seltenen Fällen komme es vor, dass Nebenwirkungen erst nach Wochen oder wenigen Monaten aufträten beziehungsweise erkannt würden. Sehr spät einsetzende Nebenwirkungen kenne das Paul-Ehrlich-Institut von Impfstoffen hingegen nicht.” Die nächste Irreführung folgt im nächsten Satz: “Hinzu kommt, dass vier der in Europa zugelassenen COVID-19-Impfstoffe bereits seit Ende 2020 oder Anfang 2021 zugelassen und in der allgemeinen Anwendung sind, wobei die ersten klinischen Prüfungen schon vor mehr als eineinhalb Jahren durchgeführt wurden.” Die Sorgfaltspflicht sämtlicher an der Urteilsfindung beteiligter Personen hätte einen Hinweis auf die Bedingtheit sowie die Bedingung der Zulassung unverzichtbar gemacht, ebenso eine Auseinandersetzung mit dem Haftungsausschluss der Hersteller. Im Grunde müsste man Strafanzeige wegen Beihilfe zur Körperverletzung etc. gegen die Urheber der im Urteil enthaltenen medizinischen Fehlinformationen erstatten. Es dürfte zwar von der Staatsanwaltschaft erwartungsgemäß der nächste Unsinn kommen, aber dann wäre das auch alles dokumentiert. Niemand könnte sich später damit herausreden, er hätte von nichts gewusst.

Klaus Keller / 24.05.2022

Wenn ich es richtig verstanden habe, kann die Politik mit 2/3 Mehrheiten die Verfassung ändern. Das hat seit dem 23.5.49 mehrfach stattgefunden. Die Richter prüfen m.E. dem Prinzip nach nur ob die Politik mit dem in Widerspruch steht was sie früher beschlossen hat und damit sie nicht zu falschen Ergebnissen kommen, ernennt die Politik auch die Richter in Karlsruhe. Man könnte sich noch fragen warum sich Verfassungsorgane wechselseitig schädigen sollten. Gibt es doch eine gemeinsame Aufgabe. Vermutlich sogar gemeinsame Interessen die mit den Aufgaben eher nichts zu tun haben. Mir würde es schon genügen wenn man sich an den Geltungsbereich halten würde. Der war mal die Bundesrepublik Deutschland. Heute soll es die ganze Welt sein. Könnte man glauben. Vgl Orte an denen Bundeswehrsoldaten das Recht und die Freiheit der deutschen Volkes tapfer verteidigen sollen.

Karla Kuhn / 24.05.2022

T. Schneegaß, “Meines Wissens gab es noch nie eine Diktatur, die ihre poltischen Entscheidungen und Handlungen durch eine unabhängige Justiz prüfen oder gar revidieren ließ, auch wenn sie alle pro forma Oberste Gerichte hatten und haben. Der Schein muss schon gewahrt bleiben. Warum sollte das heute anders sein?”  Hervorragend !  Ebenso dina weis, Silas Loy und viele andere sehen die Sache genau SO wie sie ist, äußerst realistisch ! Aber eines muß ich noch dazu sagen, in der VORMERKELZEIT gab es ein klein wenig mehr Gerechtigkeit. Ich vermute, daß das unsägliche, zerstörerische “Ermächtigungsgesetz” damals beim Bundesverfassungsgericht NICHT durchgekommen wäre. Ich weiß  nicht, ob die damaligen Richter diese unsägliche , undiplomatische Einladung ins Kanzleramt überhaupt erhalten hätten, falls ja, wahrscheinlich hätten sie ABGELEHNT, um nicht in den Verdacht eines “Geschmäckles” zu kommen. Vor nicht zu allzulanger Zeit gab es nämlich noch POLITIKER mit RÜCKGRAT und Anstand, die NICHT am SESSEL klebten wie diese LAMBRECHT. Eine Schande, daß die noch immer im Amt ist !! Herr Schneegaß wäre es nicht treffender die Diktatur mit   KAKOPHONIE POLITIK zu erweiteren ??

Stanley Milgram / 24.05.2022

“Je länger eine Diskussion dauert…” aber ist es denn heute nicht so wie damals? Einmal Genspritze zum Mitnehmen. Der nächste bitte…

Holger Kammel / 24.05.2022

Wie wird ein Rechtsbruch durch Gerichte eingeleitet? Mit dem Begriff „Rechtsgüterabwägung.“ Bereits vor einigen Jahren erschien ein Artikel eines Richters in einer juristischen Zeitschrift, in der er der „gesicherten Rechtssprechung“ den gleichen gesetzgeberischen Rang einräumte wie der Gesetzgebungskraft der Legislative. Dem wurde damals widersprochen. Natürlich macht man das, aber man redet doch nicht öffentlich darüber. Man legt nicht nur Gesetzestexte nach Belieben aus, man verkehrt sie ins Gegenteil.

Siegfried Etzkorn / 24.05.2022

Liebe Frau Lengsfeld, in dem Punkt, dass das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit Grundrechte neu erfunden habe, würde ich widersprechen. Das Gericht hat insoweit nur bestimmte Inhalte der bestehenden Grundrechte herausgearbeitet. In der Tat ist jedoch mit dem Präsidenten Harbarth leider ein besonderer Geist eingekehrt. Den Impfbeschluss habe ich nicht genauer analysiert, daher kann ich dazu nichts sagen. Den Klimabeschluss habe ich allerdings sehr genau gelesen und war auf mehreren Ebenen bestürzt. Zunächst war zu erkennen, dass sich die Beschwerdegegnerin, d. h. die Bundesrepublik Deutschland, kaum gegen die Beschwerde zur Wehr gesetzt hat. Einen Gesetzgeber, der ein Gesetz praktisch freiwillig kassieren lässt, hatte ich bis dahin noch nicht erlebt. Dies bietet Anlass, die bisherige, sehr einschränkende Handhabung des Amtsermittlungsgrundsatzes nach § 26 BVerfGG zu überprüfen. Dass die offensichtlich unzulässige Beschwerde zweier “Umweltverbände” überhaupt zur Entscheidung angenommen wurde, ist ebenfalls bedenklich. Hier war klar, dass die Beschwerdebefugnis fehlte und dies hätte entsprechend durch einen Nichtannahmebeschluss behandelt werden müssen. Schließlich hätte sich das Gericht in dieser Entscheidung - bei gleichem Ergebnis - darauf beschränken können, festzuhalten, dass der Bundesgesetzgeber mit dem Bundes-Klimaschutzgesetz seine selbstgesetzten Vorgaben (Pariser Klimaabkommen u. a.) nicht umgesetzt habe und er damit gegen seine eigene Ausgestaltung des Staatsziels nach Art. 20a GG verstoßen habe. Das hätte vollkommen ausgereicht. Stattdessen hat das Gericht jedoch Feststellungen zum Klimawandel, dessen Ursachen und Folgen getroffen, die ohne weitere Erkundigungen nicht in die Fachkompetenz eines juristischen Spruchkörpers fallen. Warum? Unter dem Strich bin ich natürlich froh, dass es das BVerfG gibt. Immerhin haben wir ein Gericht, das die Grundrechte schützt. Über die Senatsführung von Harbarth mache ich mir jedoch Sorgen.

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