Ooops! They did it again. Beim „Spiegel“ haben sie sich wieder einmal auf ihr Gefühl verlassen, ohne nach den Fakten zu schauen.
Als der listenreiche Claas Relotius vor vier Jahren aufgeflogen war – er hatte den Stoff für seine allzu menschlichen Reportagen nicht vorgefunden, sondern frei erfunden – gelobte das Blatt, das sich Nachrichtenmagazin nennt, Besserung. Doch die Frage stellte sich schon damals, ob der preisgekrönte Relotius nicht mehr und nicht weniger tat, als zu liefern, was gewünscht war. Geschichten mit viel human touch, die das linkswoke Lebensgefühl bestätigen: Der Kampf gegen Trump damals und allgemein gegen rechts hat höchste Priorität, egal, wie die Realität aussieht.
So scheint es auch neuerdings wieder gewesen zu sein. Eine Spiegel-Story appellierte ans höchste der Gefühle, an unser Mitgefühl: Ein syrisches Mädchen, die fünfjährige Maria, liebte Comics und wollte ein Fernsehstar werden. Doch sie starb auf der Flucht, an der türkisch-griechischen Grenze, am Biss eines Skorpions und infolge unterlassener Hilfe durch die griechische Regierung. So soll es im August 2022 geschehen sein. Die schreckliche Geschichte wurde damals auf „Spiegel online“ gestellt, in einer Übersetzung aus dem Englischen, in der aus einer Vermutung eine Behauptung wurde.
Das Fazit war unausweichlich: „Wie der Tod der fünfjährigen Maria die Flüchtlingsdebatte in Griechenland verändert“, hieß es. Das Kind sei letztlich gestorben, weil ihm Griechenland, weil ihm Europa nicht geholfen habe.
Solche Schlussfolgerungen aus einem individuellen Schicksal nennt man gemeinhin Instrumentalisierung. Jedenfalls, wenn es darum geht, keinen „Generalverdacht“ etwa über messerschwingende Eingewanderte zu äußern. Alles Einzelfälle.
Längst ein selbstreferenzielles System geworden
In diesem Fall aber stellt sich heraus: Noch nicht einmal den Einzelfall Maria gab es. Mit ihrem Schicksal wollte die Familie tun, was man auch im „Spiegel“ für das Richtige und Gebotene hält: die Einreise nach Europa erpressen. Im „Spiegel“ meint es: „Auch wenn ein letztgültiger Beleg fehlt, deutet doch manches daraufhin, dass einige der Geflüchteten den Todesfall in ihrer Verzweiflung erfunden haben könnten. Möglicherweise dachten sie, dass sie dann endlich gerettet würden.“
Ja, das ist vorstellbar, und man könnte es sogar für verständlich halten. Doch ganz offenbar haben sich die „Spiegel"-Journalisten hier als Aktivisten aufgeführt, die einfach glauben wollten, was in ihre Agenda passt. Und niemand im Hause hat’s gemerkt?
Die „Spiegel-Dokumentation“, die früher einen Ruf wie Donnerhall genoss, ist offenbar nicht nur mit der Überprüfung einer wachsenden Zahl von Onlinebeiträgen überfordert. Sie ist womöglich auch längst ein selbstreferenzielles System geworden: Wahr ist, was schon einmal im Spiegel gestanden hat.
Ich erinnere mich jedenfalls noch gut daran, wie ich in einem Porträt über Rita Süssmuth für den Spiegel ihr Geburtsdatum nannte – woraufhin die Dokumentation korrigieren wollte. Meine Information hatte ich von Süssmuth selbst – die Dokumentation aber bezog ihre Weisheit aus einer älteren, fehlerhaften Eigenveröffentlichung.
Nun, das ist schon lange her und selbstredend ein Einzelfall, aus dem man keine Schlüsse ziehen sollte.
„Zahlendreck", empörte sich eine Journalistin
Schwerer wiegt, wie viele Journalisten sich mittlerweile als Haltungspropagandisten verstehen. Doch dieser Fehler ist dem „Spiegel" sozusagen eingebaut. Der „Spiegel"-Stil lautet ja bereits seit Jahren: Nimm einen Einzelfall, möglichst berührend, blase die Geschichte auf und mache daraus etwas, das Betroffenheit auslöst, das „alle angeht“ und sich am besten auch noch als Systemkritik verkaufen lässt. Pars pro toto: Das ist schon lange die Masche.
Und sie passt nur allzu gut zum Betroffenheitskult, der in der Politik vorherrscht. Fakten? Zahlen? Alles Müll. Auf das richtige Gefühl kommt es an. Und so geißelte man 2010 Thilo Sarrazin, der Menschen auf Zahlen reduziere, auf „Zahlendreck“, wie sich eine Journalistin empörte.
Zahlen? Etwa die derjenigen, die tatsächlich weder Mann noch Frau sind? Eine winzige Minderheit. Aber das wäre ja gefühllos.
Ach, es wird schon lange nicht mehr diskutiert, es wird moralisiert: „Ja, sollen wir sie denn ertrinken lassen?“ heißt es, wenn die Unterstützung von Schlepperorganisationen durch „Seenotretter“ kritisch unter die Lupe genommen wird. Und wer versucht, etwas Analytisches zum Krieg zwischen Russland und der Ukraine zu sagen, wird der Gefühllosigkeit bezichtigt. Mal ganz abgesehen von der allseits beliebten Identitätspolitik und Cancelculture: Wer sich in seinen Gefühlen verletzt fühlt, geht als Sieger vom Platz, scheißegal, was Wahrheit und Wirklichkeit ist.
Insofern entsprechen unsere Medien der Politik. Wahrscheinlich aber ist es umgekehrt: Politiker haben von den Medien gelernt, dass der Ausdruck des richtigen Gefühls zum richtigen Zeitpunkt weit wichtiger ist als Sachlichkeit und Realitätstüchtigkeit.
Politik sui generis, also im eigentlichen Sinn, hat sich damit verabschiedet.