Wenn immer mehr junge Leute Abi machen und studieren, entsteht ein Überangebot an Akademikern. Dabei werden insbesondere auch Fachkräfte mit beruflicher Bildung gesucht.
Von Jörg Michael Neubert.
Manchmal scheint es so, als würde es der Politik wie Goethes Zauberlehrling gehen. Sie wird die Geister, die sie rief, einfach nicht mehr los. Ein Beispiel dafür ist die in den letzten Jahren stark gestiegene Abiturientenquote und die immer weiter steigende Zahl von Studenten.
Wenn man sich die Entwicklung der Abiturquote einzelner Jahrgänge ansieht, fällt auf, dass sich die Abiturientenquote seit 1950 konstant nach oben entwickelt hat. Bei genauerer Betrachtung fällt zusätzlich auf, dass sich der Trend zum Abitur, beginnend mit den Jahren um 2004, immer mehr beschleunigt hat.
Dieser Trend zu einer höheren Schulbildung zeigt sich erwartungsgemäß auch an der Zahl der Studenten. Diese erreichte im Wintersemester 2020 mit knapp 3 Millionen einen neuen Höchststand.
Was dieser Trend bedeutet, wird deutlich, wenn man sich die andere Seite der Ausbildung ansieht. Im Jahr 2009 hat die Zahl der Studenten erstmals die Zahl der Auszubildenden überschritten und diese Lücke ist in den letzten Jahren immer größer geworden. Den knapp drei Millionen Studenten stehen aktuell nur rund 1,3 Millionen Azubis gegenüber.
Worin liegt die Ursache für diese Entwicklung? Es ist klar erkennbar, dass es einen allgemeinen Trend hin zu einer höheren Schulbildung gibt, doch im Jahr 2002 kam noch ein politischer hinzu. In diesem Jahr wurde die Bundesrepublik nämlich durch die Pisa-Studie in ihrem Selbstverständnis als Bildungsnation erschüttert. Deutsche Schüler zeigten in den geprüften Fächern lediglich unter- bis durchschnittliche Leistungen. Das führte zu einer weitläufig geführten Diskussion um die Stärken und vor allem Schwächen des deutschen Schulsystems. So weit, so bekannt! Im Windschatten dieser Ergebnisse wurde aber noch etwas anderes deutlich, nämlich, dass Deutschland im internationalen Vergleich eine deutlich geringere Akademikerquote aufweist. Diese geringe Quote wurde von der OECD (die die Pisa-Studien durchführt) als Problem bezeichnet. Die Argumentation war in kurzen Zügen, dass Deutschland als Hochlohnland in Zukunft deutlich mehr Akademiker für die entstehenden hochqualifizierten Jobs braucht, um seine Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Nationen mit höheren Quoten wurden dabei als Vorbilder dargestellt.
Steigerung der Studentenzahlen wurde praktisch zur Staatsräson
Auf den ersten Blick erscheint diese Argumentation logisch, doch sie hält einem zweiten nicht stand. Was von der OECD unterschlagen wurde, ist die weltweite Besonderheit der dualen Berufsausbildung in Deutschland. Viele Berufsbilder, die in Deutschland über das Ausbildungssystem abgedeckt werden, setzen in vielen anderen Ländern ein Studium voraus. Hier wurden also Äpfel mit Birnen verglichen. Trotz dieses offensichtlichen Fehlers übernahmen sowohl die damalige als auch die folgenden Bundesregierungen diese eher oberflächliche denn durchdachte Logik. Die Steigerung der Studentenzahlen wurde praktisch zur Staatsräson.
Wie gelang aber diese starke Steigerung der Studentenzahlen? Richtig ist sicherlich, dass die Studienbedingungen, zum Beispiel über eine Erhöhung des Bafög, verbessert wurden. Das ist aber nicht der zentrale Punkt. Dieser ist vielmehr das geänderte Konkurrenzverhalten der Mittelschichtseltern untereinander.
Versetzen wir uns kurz in die Situation einer typischen Mittelschichtfamilie. Die Eltern wollen (unterstellt) das Beste für ihr Kind. Konkret geht es darum, dass es im späteren Kampf um einen gut bezahlten und anerkannten Job einen Vorteil gegenüber anderen Kindern der gleichen sozio-ökonomischen Gruppe hat. Nun ist diesen Eltern natürlich nicht entgangen, dass die Regierung offenbar der Meinung ist, dass in Zukunft gute Jobs nur noch über ein Studium zugänglich sein werden. Vulgo eine Ausbildung „minderwertig“ sei. Und damit setzt sich eine Spirale in Gang. Die Eltern optimieren ihr Verhalten gegenüber ihren „Konkurrenten“ und versuchen mit aller Macht, ihr Kind auf ein Gymnasium zu bekommen, damit es dann später selbstverständlich studiert, um sich so eine bessere Zukunft zu sichern.
Die besondere Bedeutung, die dabei dem Studium zugerechnet wird, hat damit zu tun, dass sich mittlerweile das Bildungsniveau der Mittelschicht im Allgemeinen erhöht hat. Galt vor Jahrzehnten das Abitur selbst noch als eine Art „Elitenausweis“, so ist es heute zu einem Massenabschluss „verkommen“, was die aufstiegsbewussten Eltern dazu zwingt, nach höheren Bildungszielen zu streben. Außerdem sind einige der heutigen Eltern noch in anderen Zeiten groß geworden. Direkte Konkurrenz zwischen Azubis und Studenten war eher die Seltenheit, und auch das, was man als „gute Arbeit“ bezeichnete, war noch deutlich weniger akademisch.
Fachkräftemangel durch höhere Studentenzahl nicht zu beheben
Ob dieses Vorgehen für das Kind immer Sinn ergibt, ist dabei eher zweitrangig. Allerdings reagieren sehr viele Eltern wie beschrieben, womit sich die Spirale immer weiter dreht. Denn die steigenden Abiturquoten und Studentenzahlen sind für Eltern auch wiederum ein Signal dafür, dass die Konkurrenz nicht schläft. Damit ist ein Studium in der Empfindung vieler Eltern mit der Zeit aber kein Alleinstellungsmerkmal mehr, sondern eine Art Grundvoraussetzung dafür, dass das eigene Kind überhaupt noch eine Chance auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft hat.
So gelangen wir zu dem ganz am Anfang erwähnten Phänomen des Zauberlehrlings. Längst hat die Politik nämlich erkannt, dass die ständig steigenden Studentenzahlen auch Probleme mit sich bringen, die im Folgenden kurz beleuchtet werden sollen.
Beginnen wir beim Offensichtlichen. Die immer weiter steigende Studentenzahl verringert die Zahl der Auszubildenden. Das wäre kein Problem, wenn es eine entsprechende Nachfrage nach Akademikern geben würde. Das ist aber nicht grundsätzlich der Fall. Insbesondere in geisteswissenschaftlichen Fächern ist die Nachfrage von vornherein gering. Absolventen derartiger Fächer tun sich je nach Studiengang deutlich schwerer beim Einstieg in den Arbeitsmarkt als Absolventen der Wirtschafts- oder Mint-Fächer. Betrachten wir daher die in der öffentlichen Diskussion immer wieder genannten Mint-Fächer.
Diese Abkürzung steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Gerade hier sind in den letzten Jahren bedeutende Anstrengungen unternommen worden, um die Zahl der Studenten zu steigern. Das ist am Anfang auch gelungen, wobei die Zahlen in den letzten Jahren stagnieren. Betrachtet man die Nachfrage im Mint-Bereich, zeigt sich, dass von den circa 3,6 Millionen offenen Stellen etwa zwei Drittel oder 2,4 Millionen für Menschen mit Ausbildung oder Meister/Techniker gedacht sind. Der viel zitierte Fachkräftemangel ist in diesem für eine Techniknation wie Deutschland wichtigen Bereich also durch immer höhere Studentenzahlen nicht unbedingt zu beheben. Vielmehr verstärken diese indirekt das eigentliche Problem. Die akademischen „Mintler“ werden nämlich mit der Zeit anfangen, mit den beruflich Gebildeten um die gleichen Stellen zu konkurrieren.
Auf Dauer droht die Entstehung eines akademischen Prekariats
Als wichtiger Aspekt einer akademischen Ausbildung galt lange Zeit, dass sie sowohl vor Arbeitslosigkeit „schützt“ als auch zu einem höheren Verdienst führt. Diese beiden Punkte sind nicht falsch, zeigen aber nicht das ganze Bild. In der Tat besteht für Akademiker mit nur zwei Prozent die niedrigste Arbeitslosenquote aller Bildungsgruppen. Direkt danach folgen allerdings bereits Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung mit einer Quote von 3,2 Prozent.
Sehen wir uns nun den Punkt Verdienst etwas genauer an. Betrachtet man das Lebenseinkommen, verdienen Akademiker circa 450.000 Euro mehr als Personen mit einer abgeschlossenen Ausbildung. Vergleicht man allerdings Akademiker mit Meistern und Technikern, sinkt der Unterschied fast auf 0. Zur Wahrheit gehört außerdem, dass ca. 10 Prozent aller Akademiker für eine Bezahlung arbeiten, die sich auf der Höhe des Mindestlohns bewegt. Da deutlich mehr Frauen von diesem Problem betroffen sind, ist davon auszugehen, dass die Fächerwahl dabei eine Rolle spielt.
Insgesamt sieht es also trotz allem noch ganz gut aus für die Akademiker. Doch in Zukunft könnten diese Bildungsrenditen unter Druck geraten. Grund dafür ist ganz einfach die Tatsache, dass in einigen Bereichen mehr Akademiker ausgebildet werden, als benötigt werden. Die Arbeitgeber sehen sich also einem steigenden Angebot gegenüber, das schneller als ihre eigene Nachfrage wächst. Damit entsteht aber auch Druck auf die Löhne und die Bereitschaft von Absolventen steigt, entweder ein geringeres Gehalt zu akzeptieren oder eine Tätigkeit auszuführen, die unterhalb ihrer Qualifikation liegt (was einem Gehaltsverzicht gleichkommt).
Auf Dauer droht so die Entstehung eines akademischen Prekariats, das nicht nur das eigene Einkommen unter Druck setzt, sondern plötzlich auch mit Personen um Stellen konkurriert, die „nur“ eine Ausbildung haben. Dadurch entsteht ein negativer Lohntrend für beide Gruppen. Dieser Trend zu höherer Qualifikation für gleiche Arbeit zeigt sich bereits deutlich in Bereichen der Ausbildung, wo von Azubis heute ein Abitur gefordert wird, wo vor 20 Jahren noch ein guter Hauptschulabschluss ausreichend war. Ein derartiger Trend könnte auch die akademischen Stellen erfassen.
Bei der immer weiter steigende Abiturienten- und Studentenquote handelt es sich also um einen politisch gewollten Prozess, der sich aufgrund des Verhaltens der Bürger selbstständig gemacht hat. Wie bekommt man den Geist jetzt aber wieder in die Flasche? Keiner will die (zugegebenermaßen etwas überzeichnete) Situation, dass in 20 Jahren drei 40-jährige Akademiker wochenlang auf einen 65-jährigen Handwerker warten, der ihre Heizung repariert. Es gibt dafür leider keine perfekte Lösung, aber genauso, wie man die akademische Ausbildung politisch attraktiv gemacht hat, könnte man das auch mit der beruflichen Ausbildung tun. Bessere Bedingungen für Lehrlinge sowie Hinweise auf die guten Verdienstmöglichkeiten mit entsprechender Fortbildung sowie der steigende Bedarf in Zukunft, der Arbeitsplatzsicherheit verspricht, könnten ein Umdenken bewirken.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei Novo-Argumente.