Noch glaubt Xi, dass er die Eskalationsspirale mit dem Westen immer weiterdrehen kann, aber dessen Widerstand wächst. Und auch im Inland darf er sich nicht mehr sicher fühlen. Dritter Teil des Essays.
Das Produktivitätsniveau der chinesischen Volkswirtschaft liegt laut einer Studie der Weltbank erst bei einem Drittel der amerikanischen. Die Gesamtverschuldung schnellte letztes Jahr mit über 300 Prozent in japanische Gefilde. Besonders besorgniserregend dabei der schnelle Anstieg an privaten Schulden, die vor allem auf den Preisanstieg im Immobiliensektor zurückzuführen sind. Da ist eine gewaltige Blase entstanden. Landesweit stehen mehr als 100 Millionen Wohnungen leer. Mit Betongold hatte sich Xi Jingping aus mehreren Konjunkturdellen gerettet.
Aber, „gelingt es China nicht von einem investitionsgetriebenen Wachstumsmodell auf ein innovationsgetriebenes Modell umzusteuern“, schreibt Matthias Kamp in der NZZ, „könnte die jetzige Lokomotive der Weltwirtschaft in der so genannten Middle-Income-Trap landen.“ Der Rückgang der Geburtenrate verstärkt das Problem.
Und Innovation will das Xi-Regime nur zulassen, solange es seiner Machterhaltung und der Bereicherung der führenden Familien des Landes dient. Wer Widerworte wagt, wie Ma Yun (Jack Ma), der Gründer der Alibaba-Gruppe, ist schnell seine Milliarden und mitunter seine Freiheit los. Aber der zum Aufstieg und Übertrumpfen des Westens nötige Erfindergeist ist in China nicht in den meist maroden Staatsbetrieben, sondern bei kreativen Startups und Privatbetrieben zuhause. Wie lange lassen sich deren Akteure persönliche Freiheit und demokratische Rechte durch Han-Chauvinismus und Wohlstand abkaufen?
Hat Xi dieses Spiel nicht längst überreizt?
Noch glaubt Xi, dass er die Eskalationsspirale mit dem Westen immer weiterdrehen kann, ohne dass es ihm schadet. Dass das Ausland auch dann noch angekrochen kommt, wenn Firmen wie VW und Staaten wie Deutschland als Zugang zum vermeintlich so unersetzbaren chinesischen Markt, den chinesischen Politkommissaren das Blut der Tibeter, Uiguren, Hongkonger Dissidenten und vielleicht bald auch der fast 24 Millionen Taiwaner von den Stiefeln lecken müssen. Aber hat Xi dieses Spiel nicht längst überreizt?
In den letzten Monaten, geschockt von der anfänglichen Pekinger Vertuschung der Corona-Krise, tanzen zuerst kleinere Staaten wie Australien und Tschechien nicht mehr nach der Pfeife von Papa Xi. Die USA haben mit Quad eine Allianz zur Bändigung und Eingrenzung Chinas geschlossen, die vor einem Jahr noch undenkbar erschienen wäre. Erstmals seit Ende des Indochina-Konfliktes zog vor wenigen Tagen eine französische Fregatte unmittelbar vor der chinesischen Haustür mit japanischen, australischen und US-Matrosen in ein Manöver.
Xi ist es in der Tat gelungen, sich innerhalb von wenigen Jahren vom Darling der Weltpolitik, dem niedlichen Winnie the Xi-Bär, zum verachteten Despoten zu wandeln, den man gerne dem Internationalen Gerichtshof überstellen würde. Wie lange wird es dauern, bis die Wirtschaft da umdenkt. Zuerst die ausländische und dann die einheimische, chinesische, denen ein Konflikt mit dem Westen und auch den asiatischen Nachbarstaaten nicht dienlich sein wird?
Faschistoide Politik eines weltumspannenden Han-Chauvinismus
Die Sinologin Kirstin Shi-Kupfer lieferte dazu auf Manager-Magazin-Online ein interessantes Gedankenspiel: „Wie wäre es, wenn die Unternehmen, die am stärksten vom chinesischen Markt abhängig sind, einmal zusammenrechneten, was sie die Erschließung neuer Märkte und die Sicherung ihrer Lieferketten ohne chinesische Partner kosten würde?“ Und dann? „Anschließend präsentieren die Unternehmen öffentlichkeitswirksam eine von der Politik in Deutschland und Europa flankierte und finanziell geförderte neue Indo-Pazifik-Strategie. Das Ziel: den geopolitischen Rahmen setzen für eine langfristige Exit-Option aus China und Hinwendung zu anderen großen Märkten wie Indien oder Indonesien. Auf die Reaktion aus Peking dürfte man gespannt sein.“
Wahrscheinlich ist dies der interessanteste und auch der mutigste Anstoß, der aus der deutschen Sinologie in den letzten 20 Jahren entsprang. Denn er zielt auf den eigentlichen Kern der Auseinandersetzung ab. Nicht China hat ein Problem mit dem Westen. Im Gegenteil, solange China darauf abzielte, eine gleichberechtigte, halbwegs verlässliche Nation, im Konzert einer multipolaren Welt zu sein, verzieh der Westen auch schnell so derbe Ausrutscher wie das Massaker auf dem Pekinger Tiananmen-Platz.
Aber Xi Jinpings rücksichtslose, ja faschistoide Politik eines weltumspannenden Han-Chauvinismus ohne Rücksicht auf Verluste kann keine halbwegs eigenständige Nation tolerieren. Xis größter Fehler war diese Politik zur Ultima ratio chinesischen, staatlichen Handelns hochzustilisieren, sie mit Jahreszahlen zu belegen wie einen Fünf-Jahresplan in der Zeit der kommunistischen Tonnenideologie. Ohne Gesichtsverlust kommt er da nicht mehr raus. Und Gesichtsverlust bedeutet in China auch Machtverlust
Loyalität der Mitstreiter im Versagensfall ungewiss
Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann seine Mitstreiter erkennen, dass ihre Loyalität zu Xi bei dessen Versagen auch sie mit in den Abgrund ziehen wird. Bisher hatte sich der Parteichef da ziemlich sicher gefühlt. Die letzten Jahre ließ er vom Politbüro bis in die Spitzen der Provinzverwaltungen hinunter alle vermeintlichen Gegner mit Anklagen wegen Korruption oder anderer vermeintlicher Verfehlungen aus den Ämtern entfernen oder gleich ins Gefängnis werfen. Doch ganz so sicher, dass er nur noch mit Loyalisten umgeben ist, scheint sich Papa Xi nicht mehr zu sein.
Am alljährlichen Galadinner zum Abschluss des Nationalen Volkskongresses mit ausländischen Diplomaten und Journalisten im März hatte Xi in diesem Jahr erstmals nur noch dicht umringt von Sicherheitsleuten Platz genommen. (Wien/Singapur – Juni 2021)
P.S.: Nach dem Verfassen dieses Essays drehte China erneut an der Eskalationsspirale mit dem Westen. Als Reaktion auf das G7-Treffen im britischen Cornwall drangen am 15. Juni insgesamt 28 chinesische Kampfflugzeuge in den Luftraum über Taiwan ein. (Siehe Screenshot aus der Straits Times / Singapur.)
Dieser Beitrag erschien zuerst bei „Der Rikscha-Reporter“, dem Blog des Autors.
Teil 1 des Essays finden Sie hier.
Teil 2 des Essays finden Sie hier.