Das verspricht die Bundesregierung: Bis 2045 will sie Deutschland als Vorreiter zu einem „klimaneutralen“ Land gemacht haben. Um jeden Preis?
In ihrem Newsletter vom 4. August gelingt der Bundesregierung eine bemerkenswerte Realitätsverdrehung. Zunächst stellt sie die berechtigte Frage: „Wird `Made in Germany´ auch in Zukunft ein Erfolgsmodell bleiben?“ Doch dann geht sie mit keinem Wort auf die reale Wirtschaftskrise ein, in der sich Deutschland gerade befindet. Die Tatsache, dass Deutschland zu einem der wirtschaftlichen Schlusslichter Europas geworden ist, verschweigt sie geflissentlich und behauptet stattdessen, die deutsche Industrie habe gezeigt, dass sie Klimaschutzlösungen für den weltweiten Einsatz entwickeln und dabei die eigenen Treibhausgas-Emissionen reduzieren könne. Für Bundeskanzler Scholz stehe fest: Die große industrielle Transformation, die große industrielle Modernisierung Deutschlands werde gelingen.
Während die Spitzenverbände der Wirtschaft längst Alarm schlagen und konkret steigende Strompreise, höhere Materialkosten, wachsende Inflation, verunsichernde politische Entscheidungen wie das Gebäudeenergiegesetz sowie hohe Steuerlast und Bürokratie bemängeln, hält Bundeskanzler Olaf Scholz immer noch an Utopien fest. Bei der Sommer-Pressekonferenz am 14. Juli sagte er: „Ich glaube, dass wir sogar einen großen zusätzlichen Wachstumsschub bekommen können. Denn wenn erst einmal gezeigt wird, dass das geht, dass die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, Industrieland, weltweit mit modernsten Technologien wettbewerbsfähig sein kann, aber das Klima und die Biodiversität nicht schädigt, dann werden das alle anderen nachmachen wollen. Und sie werden dabei auf Fähigkeiten zurückgreifen, die wir hier entwickelt haben, nämlich die Technologien. Das ist dann auch ein gutes Modell für das exportorientierte Deutschland.“
Glaubt er wirklich daran, dass „alle anderen“ die deutsche Zerstörung der Wirtschaft „nachmachen“ wollen? In ihrem Newsletter beteuert die Bundesregierung, dass sie intensiv daran arbeite, den Wirtschaftsstandort Deutschland „fit für die Zukunft“ zu machen. Der Weg zur Klimaneutralität sei eine große Gemeinschaftsaufgabe. Mit diesem Wandel ergebe sich die Chance, dass Deutschland auch in Zukunft ein Erfolgsmodell bleibe. Deutschland stehe allerdings vor großen Herausforderungen. Deren wesentliche Ursachen verortet die Bundesregierung in der Energiekrise aufgrund des Angriffskriegs Russlands in der Ukraine sowie im Fachkräftemangel. Der vergleichsweise schwache Welthandel wirke sich auf die deutsche Exportwirtschaft zusätzlich negativ aus. Darüber hinaus sei die deutsche Wirtschaft gefordert, weil Deutschland bis 2045 ein klimaneutrales Industrieland werden wolle. In diesem letzten Satz klingt zum ersten Mal der wahre Hauptgrund für die derzeitige Wirtschaftkrise an: Während die EU sich die Klimaneutralität bis 2050 verpflichtend auf die Fahne geschrieben hat, will Deutschland dieses Ziel schon 2045 erreichen.
„In weiteren Beschleunigungspaketen ausrollen“
Und an diesem Ziel hält sie eisern fest. Koste es, was es wolle. So zitiert die Bundesregierung in ihrem Newsletter aus einer Rede, die Scholz am 1. November 2022 bei BASF in Schwarzheide gehalten hatte: „Die große industrielle Transformation, die große industrielle Modernisierung Deutschlands wird gelingen. Wir wollen 2045 weiter eines der ganz großen erfolgreichen Industrieländer in der Welt sein. Wir wollen gute, gut bezahlte Arbeitsplätze haben, und wir wollen gleichzeitig CO₂-neutral wirtschaften. Das kann nur gelingen, indem wir auf Innovationen mit der und durch die Industrie setzen.“ Dafür setzt die Bundesregierung nun auf eine „Deutschland-Geschwindigkeit“ bei Planung und Genehmigung. Wörtlich heißt es im Newsletter: „Mit dem sehr schnellen Bau der ersten Flüssiggasterminals in Wilhelmshaven, Lubmin und Brunsbüttel hat die Bundesregierung gezeigt, dass schnelle Verfahren möglich sind. Das ist die neue Deutschland-Geschwindigkeit, die die Bundesregierung zusammen mit den Ländern durch zahlreiche Gesetzesänderungen bereits umgesetzt hat und in weiteren Beschleunigungspaketen weiter ausrollen wird.“
Sowieso lobt die Bundesregierung sich gerne selbst: Dass Deutschland so gut durch den Winter gekommen ist, führt sie darauf zurück, dass sie Entlastungspakete geschnürt und dafür gesorgt habe, dass Deutschland in kurzer Zeit unabhängig von fossilen Energielieferungen aus Russland geworden sei. Viele der in Deutschland hergestellten Industriegüter seien Spitzentechnologie, beispielsweise im Maschinenbau, in der Halbleitertechnik und in IT-Technologien. Die Bundesregierung unterstütze die Innovationen mit zahlreichen konkreten Maßnahmen: Neben der „Deutschland-Geschwindigkeit“, die durch Gesetzesänderungen und weitere Beschleunigungspakete verstärkt werden soll, sollen erneuerbare und bezahlbare Energien eine große Rolle spielen. Bis 2030 sollen 80 Prozent des verbrauchten Stroms aus erneuerbaren Energien kommen. Insbesondere der Ausbau der Übertragungsnetze werde dazu führen, dass die Stromkosten für alle fallen werden. Zudem setzt die Bundesregierung mit ihrer Nationalen Wasserstoff-Strategie auf Wasserstoff. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz soll dafür sorgen, dass der Standort Deutschland für Fachkräfte an Attraktivität gewinnt. Es soll die Einwanderung von Menschen aus Drittstaaten massiv erleichtern und damit auch den Wohlstand aller Menschen in Deutschland sichern. Außerdem habe die Bundesregierung eine Ausbildungsgarantie für alle eingeführt und unterstütze Unternehmen, die in die Aus- und Weiterbildung investieren.
Der European Chips Act und das Ziel der EU-Kommission, bis 2030 20 Prozent der weltweiten Halbleiterproduktion nach Europa zu holen, werde die Wettbewerbsfähigkeit und den Strukturwandel Deutschlands und Europas in diesem Bereich weiter stärken. Mit ihrer nationalen KI-Strategie wolle die Bundesregierung Deutschland zu einem führenden Standort für die Entwicklung und Anwendung von KI-Technologien machen. Bis 2025 seien dafür insgesamt 3,5 Milliarden Euro vorgesehen. Zudem werde die Bundesregierung Startups in Deutschland weiter fördern und die Startup-Strategie fortentwickeln. Die Bundesregierung werde Unternehmen dabei unterstützen, neue, diversifizierte Lieferketten aufzubauen, um gefährliche Abhängigkeiten von einzelnen Ländern zu vermeiden. Mit der Allianz für Transformation – ein im Koalitionsvertrag beschlossenes Dialogformat der Bundesregierung mit Wirtschaft, Sozialverbänden und Wissenschaft – wolle die Bundesregierung „den Zusammenhalt in unserem Land stärken, um diese große Kraftanstrengung zu einem Erfolg zu machen“. (Über die „Allianz für Transformation“ berichteten wir hier.)
„Deutschland zum Vorbild machen“
Kanzler Scholz gibt sich daher zuversichtlich: „Wir haben die gute Chance, dass Deutschland ein Standort, vielleicht der große Standort der Halbleiterindustrie in Europa wird“. Konkrete Positiv-Beispiele seien die Produktionsstandorte für Elektromobilität und Batteriefabriken in Salzgitter bei VW, in Schwarzheide bei BASF, in Grünheide bei Tesla und bei der ZF Friedrichshafen AG. Die Bundesregierung unterstütze außerdem Investitionen in grünen Stahl wie etwa von Siemens in Erlangen und thyssenkrupp in Duisburg. Die erfolgreiche Versteigerung von vier Flächen für Offshore-Windparks in Nord- und Ostsee habe gezeigt, dass der Ausbau der Erneuerbaren Energien deutlich an Attraktivität für Unternehmen gewinne. Der Erlös der Versteigerung in Höhe von 12,6 Milliarden Euro solle zu 90 Prozent in die Stromkostensenkung fließen und mache deutlich: „Windenergie `Made in Germany´ ist erfolgreich“. Zu den erfolgreichen innovativen Unternehmen in Deutschland zählt selbstverständlich auch das Biotechnologieunternehmen BionTech mit Sitz in Mainz, das die dortigen Steuereinnahmen sprudeln ließ. In diesem Zusammenhang ist eine Pressemitteilung der Bundesregierung vom 27. Juli erwähnenswert, in der bekannt gegeben wurde, dass der Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste bei seiner Sitzung am 10. Juni 2023 u.a. die BionTech-Gründer Özlem Türeci und Uğur Şahin zu Mitgliedern gewählt hat. Die Zuwahl in den Orden zählt zu den höchsten Ehrungen für Wissenschaftler oder Künstler in Deutschland überhaupt.
Bei all den Erfolgsmeldungen der Bundesregierung verwundert nur, dass die Wirtschaftsverbände die Situation ganz anders einschätzen. So weist Arbeitgeberpräsident Rainer Viktor Dulger darauf hin, dass Deutschland als Hochsteuerland vor allem für ausländische Investitionen derzeit nicht attraktiv sei, und er diagnostiziert: „Wir haben mit die höchsten Energiekosten, wir haben mit die höchsten Steuern und Lohnzusatzkosten. Wir haben eine marode Infrastruktur. Diese Probleme mischen sich mit Fachkräftemangel, verschlafener Digitalisierung und der Dekarbonisierung. Ein Mediziner würde von multiplen Erkrankungen sprechen.“ Auch der Internationale Währungsfonds erwartet für dieses Jahr ein Schrumpfen der deutschen Wirtschaft um 0,3 Prozent; die Bundesregierung dagegen ein Plus von 0,4 Prozent. So klingt es eher wie Größenwahn, wenn die Bundesregierung beschwört: „Wir stehen vor großen, gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen. Wir packen diese Herausforderungen gemeinsamen kraftvoll an und wollen Deutschland zu einem klimaneutralen Industrieland und zu einem Vorbild für andere machen.“
Martina Binnig lebt in Köln und arbeitet u.a. als Musikwissenschaftlerin (Historische Musikwissenschaft). Außerdem ist sie als freie Journalistin tätig.