Darf der Nikolaus einen schwarzen Kompagnon haben? Wenn es nach zahlreichen staatlichen niederländischen Bibliotheken geht, nicht (mehr). Wie die britische „Daily Mail“ berichtet, haben Bibliotheken im ganzen Land jegliche Kinderbücher aus dem Bestand genommen, die die traditionelle Figur Zwarte Piet (Schwarzer Peter) darstellen. Die Entscheidung der individuellen Filialen sei vom niederländischen Verband der Öffentlichen Bibliotheken begrüßt worden. Einen Anordnung, die Bücher zu entfernen, habe der Verband allerdings nicht ausgesprochen, dazu sei er nicht befugt.
Der Zwarte Piet ist in der Folklore der Benelux-Länder der Helfer des Nikolaus (Niederländisch: Sinterklaas). Die Figur wurde im Jahr 1850 von dem Amsterdamer Lehrer und Schriftsteller Jan Schenkman erfunden und ist ein wichtiger Bestandteil der Festlichkeiten zum Nikolaustag, der in den Niederlanden am 5. Dezember und in Flandern am 6. Dezember begangen wird und dort wesentlich wichtiger als Weihnachten ist.
Der Legende nach kommen Sinterklaas und Zwarte Piet jeden Dezember mit dem Boot aus Spanien. Traditionellerweise werden sie in jeder Stadt mit Paraden begrüßt, wobei die Bürger, die die Figur des Piet spielen, lockige Perücken, roten Lippenstift, schwarze Gesichtsbemalung und Kleidung, die an Diener des 16. Jahrhunderts erinnert, tragen (im Laufe der Zeit ist aus dem einen Helfer des Nikolaus ein ganzes Heer von Piets geworden, die ein bisschen albern herumhüpfen und Süßigkeiten an die Kinder verteilen).
Eine Rassismusdebatte um die Figur gibt es seit dem Jahr 2013, als die jamaikanische Professorin für Sozialgeschichte Verene Shepherd, Mitglied einer Arbeitsgruppe bei dem Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte (UNHCHR), forderte, das Sinterklaasfest mitsamt dem Zwarte Piet abzuschaffen. Damals sagte der niederländische Premierminister Mark Rutte noch: „Nun, der Zwarte Piet ist schwarz… da kann man nicht viel machen.“ Später bekannte er sich dazu, sich selbst in jüngeren Jahren als Zwarte Piet verkleidet zu haben. Eine Umfrage zeigte, dass eine große Mehrheit der Niederländer (89 Prozent) die Sache ähnlich entspannt sah wie ihr Premier. Eine Facebook-Seite zur Verteidigung des Zwarte Piet erhielt binnen eines Tages eine Million „Likes“. „Hände weg von unserer Tradition!“, das war lange die Parole vieler Niederländer und Flamen.
Das Gesicht in anderen Farben wie Rot oder Grün geschminkt
Aber die Forderungen, den Zwarte Piet abzuschaffen, sind mittlerweile selbst zu einer Art jährlichen Tradition geworden. Und der Zeitgeist ändert sich. In den letzten Jahren wurde vielfach versucht, den Zwarte Piet als „rußigen“ Piet (Niederländisch: Roetveegpiet) neu zu erfinden. Diese Version trägt ein Diener-Outfit, wird aber nicht als „Mohr“ gestylt. Stattdessen wird durch schwarzes Makeup im Gesicht Ruß angedeutet, von den vielen Schornsteinen, die der Piet durchqueren muss, wenn er die Kinder besucht. Zunehmend verbreitet sind auch alternative Kostümierungen, bei denen das Gesicht in anderen Farben wie Rot oder Grün geschminkt ist.
Laut Daily Mail sind heute nur noch 55 Prozent der Niederländer dafür, die traditionelle Darstellung des Zwarte Piet beizubehalten. Auch Premier Rutte hat laut BBC im Zusammenhang mit der aktuellen Debatte um Black Lives Matter und der tödlichen Misshandlung des Afroamerikaners George Floyd seine Meinung geändert und will die Figur nun nicht mehr verteidigen. In einer Parlamentsrede habe er sogar gesagt, dass er mit dem Aussterben der Tradition binnen weniger Jahre rechne. Letzten Monat stampfte das belgische Unternehmen Clavis, der größte Verleger von niederländischsprachigen Kinderbüchern, laut einem Bericht der „Brussels Times“ 7.000 Zwarte-Piet-Bücher ein. Auch Google hat laut DutchNews.nl kürzlich Werbung mit dem Zwarte Piet und dem „rußigen“ Piet verboten. Es wird eng für den Helfer des Nikolaus.
Nun ist der Zwarte Piet tatsächlich ein Relikt aus einer Zeit, in der sich die Niederländer mehr für Kolonialismus und Sklavenhandel interessierten als für Radwege und Cannabis. Man kann, denke ich, durchaus argumentieren, dass die Figur einer rassistischen Weltsicht entsprungen ist. Aber geht es durchschnittlichen Niederländern in der heutigen Zeit darum, schwarze Menschen zu karikieren oder abzuwerten, wenn sie an den traditionellen Feierlichkeiten zum Sinterklaasfest teilnehmen? Den Bürgern eines der tolerantesten und liberalsten Länder der Erde? Ich denke nicht. Die meisten dürften den Zwarte Piet als eine Art Clown oder Märchenfigur wahrnehmen, komplett losgelöst von der realen Welt.
In diesem Jahr werden die Nikolaustag-Paraden aufgrund von Corona ohnehin nicht stattfinden. Wie wird es nach der Pandemie mit dem Zwarte Piet weitergehen? Vielleicht wird die Tradition tatsächlich, wie Mark Rutte meint, aussterben. Es wäre ein weiterer Sieg für die globale politisch-korrekte Kulturrevolution, die keinerlei Kontext tolerieren kann.
Wenn schon Verursacherprinzip, dann bitte konsequent!
Erwähnenswert ist diese Woche auch eine Forderung des Gesundheitsökonoms Willy Oggier. Letzterer habe sich dafür ausgesprochen, Menschen, die angezeigt werden, weil sie die Abstands- und Hygieneregeln mutwillig missachten, namentlich zu erfassen, berichtet das Portal 20min.ch mit Bezug auf ein Interview Oggiers mit dem Schweizer „Tages-Anzeiger“, das hinter einer Bezahlschranke ist. Im Falle von Engpässen im Gesundheitssystem sollten diese Menschen im Zweifelsfall kein Akutbett oder Intensivplatz erhalten, „ganz nach dem Verursacherprinzip“. „Ich finde es fairer, wenn der selbst ernannte Corona-Rebell das Nachsehen hat, als wenn es einfach den ältesten Patienten im Raum trifft“, zitiert 20min.ch den Gesundheitsökonom weiter, der laut dem Portal „verschiedene Spitäler in der Covid-Pandemie berät und unter anderem in Wien doziert“.
„Gesundheitsökonomen“ – sind das nicht die Leute, die seit Jahren erfolgreich die Reduzierung von Kosten im Gesundheitswesen vorantreiben, durch das Einfrieren von Löhnen im Pflegebereich, Klinikschließungen und ähnliches? Vielleicht sollte man auch Gesundheitsökonomen bestimmte Behandlungen verweigern? Wenn schon Verursacherprinzip, dann bitte konsequent!
In Großbritannien laufen derweil die Säuberungen von „Transgender“-kritischen Feministinnen weiter. Die bekannte „Guardian“-Kolumnistin Suzanne Moore hat auf Twitter verkündet, dass sie die Zeitung verlassen hat. „Ich werde EINIGE der Menschen dort sehr vermissen“, bemerkt sie hintersinnig.
Beim Magazin „Spectator“ erklärt Alex Massie die Hintergründe. Die Kündigung hat offenbar etwas mit einer Auseinandersetzung im März zu tun. Moore hatte damals in einer Kolumne einige klassisch feministische Positionen gegenüber der Trans-Bewegung verfochten. Etwa, dass viele biologische Frauen sich unwohl und unsicher fühlen, wenn „Trans“-Frauen (also biologische Männer) in Frauenräume (etwa im Gefängnis oder in Obdachlosenunterkünften) vordringen. Moore sprach sich auch gegen die Explosion von Geschlechtsumwandlungen bei Teenagerinnen aus, und wies darauf hin, dass einige dieser Frauen ihre Entscheidung bereuten und nun unfruchtbar seien.
Unternehmensinternes politisch-motiviertes Mobbing
Es sind Positionen, wie wir sie bereits von der geschassten Ökonomin Maya Forstater kennen (Achgut.com berichtete), von der Journalistin Helen Lewis, deren Stimme letzte Woche aus einem Videospiel getilgt wurde (siehe diese Beitragsreihe), und von der Harry-Potter-Schöpferin und Multi-Millionärin Joanne K. Rowling, die in der beneidenswerten Position ist, nie „gecancelt“ werden zu können, egal, was sie sagt.
Laut Alex Massie waren über 300 Mitarbeiter des Guardian, darunter viele Nicht-Journalisten wie Web-Entwickler, Datenanalysten usw., von Moores „transphober“ Kolumne so erzürnt, dass sie einen empörten offenen Brief an die Chefredaktion sandten. Es ist schwer vorstellbar, dass Moores Abgang nichts mit dieser internen Kampagne gegen sie zu tun hat. Moore reiht sich damit ein in die wachsende Schar von bekannten angloamerikanischen Journalisten, die aufgrund von unternehmensinternem politisch-motiviertem Mobbing oder anderen Schikanen das Handtuch geschmissen haben (siehe auch den Beitrag von Chaim Noll über die Fälle James Bennet und Bari Weiss bei der „New York Times“, sowie den Beitrag von Roger Letsch über den „Intercept“-Mitbegründer Glenn Greenwald).
Gelöscht worden ist diese Woche auch ein Video des deutschen YouTubers Gunnar Kaiser, in dem dieser einen Text von Milosz Matuschek einspricht („Mit Vollgas in die Verordnungsdiktatur”), der in leicht gekürzter Form auch auf „Welt“-online erschienen war. Wie Kaiser in seinem Newsletter schreibt, begründete YouTube die Löschung mit einem Verstoß gegen die Community-Richtlinien. YouTube erlaube keine Beiträge:
„…in denen der Nutzen des von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder lokalen Gesundheitsbehörden empfohlenen Social Distancing oder der Selbstisolation ausdrücklich infrage gestellt wird und die dazu führen könnten, dass Menschen sich nicht an diese Empfehlungen halten.“
Kaisers Kanal habe einen sogenannten „Strike“ (Verwarnung) erhalten und könne eine Woche lang nichts hochladen. Der YouTuber hat nach eigenen Angaben Widerspruch gegen diese Entscheidung eingelegt.
In meiner Kolumne präsentiere ich jede Woche ausgewählte Ausgestoßene. Eine breitere Fallsammlung finden Sie auf der Website www.cancelculture.de, wo wir aktuelle Fälle aus dem deutschsprachigen Raum fortlaufend in aller Kürze dokumentieren. Um auch weniger prominente Betroffene aufnehmen zu können, sind wir auf Hinweise angewiesen. Schreiben Sie uns gerne unter cancelculture@freiblickinstitut.de.