Hubert Geißler, Gastautor / 20.06.2020 / 06:15 / Foto: Pixabay / 53 / Seite ausdrucken

Aus dem Heldenleben eines deutschen Lehrers (3): Bulimielernen

Eins haben die Bildungsreformen der letzten Jahre auf jeden Fall geschafft: die Lehrer im Schulsystem weitgehend zu entmachten, mit sehr bedenklichen Folgen für die Qualität desselben.

Freie Schulwahl der Eltern, Inklusion, Machtzuwachs der Elterngremien, Konkurrenz der einzelnen Schulen um Schüler, Psychologisierung des Unterrichts mit einer Tendenz, den Schüler grundsätzlich als Opfer seiner Verhältnisse zu sehen, Reformitis, Dominanz des Bildungsverwaltungsapparats: Alles schwächt die Position des Lehrers, setzt ihn tendenziell permanent ins Unrecht: Er verlangt zu viel, er verlangt zu wenig, er zensiert zu lasch, er zensiert zu streng, er setzt sich durch, er setzt sich nicht durch: Egal was er macht, es ist potenziell falsch.

Gesetze und Erlasse füllen die Fächer im Lehrerzimmer in einer Geschwindigkeit, dass man kaum mit dem Lesen nachkommt. Das Resultat bei den Kollegen scheint mir eher eine gewisse Dickfelligkeit zu sein. Dabei wird der Chor der Forderungen immer lauter: Lehrer müssen natürlich Sozialarbeiter, Vorbilder, Fachleute, eierlegende Wollmilchsäue des Geistes sein. Es gibt ja so viel zu tun: Gender, Digitalisierung, Umwelt, Arbeitswelt, alles muss seinen Platz finden, es fragt sich nur, in welchen Stunden.

Schulen, die auf „Kunden“ angewiesen sind

Dabei konkurrieren Schulen durchaus um Schüler: Melden sich zu wenige an, drohen Aufhebungen von Klassenteilungen oder Abordnung von Lehrkräften. Und so füllen sich die Lokalzeitungen mit Bildern von Abschlussklassen in Frack und Abendkleid, von Schulleitern, die Auszeichnungen in die Kamera halten: Grüne Schule, Europaschule, Toleranzschule, Gold in der Matheolympiade und so weiter und so fort, man muss ja Werbung für sich machen. Was so gut wie nicht vorkommt, ist die Richtige-Rechtschreib-Schule oder die Großes-Einmaleins-Plakette.

Was hat das aber mit der Notengebung zu tun? Ein ist klar: Auf der Ebene lokaler Buschtrommeln ist erst einmal die Schule die beste, die am problemlosesten Berechtigungen vergibt, das heißt Schüler nicht aussortiert. Eine strengere Notengebung, wie sie von der Öffentlichkeit häufig gefordert wird, zumindest, solange das nicht dem eigenen Kind in die Quere kommt, ist nicht im Interesse der Schule, die auf „Kunden“ angewiesen ist.

In der öffentlichen Kritik steht dabei vor allem die Vergleichbarkeit der Abituraufgaben. Einen Versuch der Gleichschaltung durch eine Kommission haben neulich erst Bayern und Baden-Württemberg sabotiert.

Wenn’s nicht gar der Papa macht?

Was dabei nicht berücksichtigt wird, ist, dass die Zeugnisendnote sich nur zu einem Bruchteil aus der Abiturprüfung ableitet. Die Halbjahresleistungen werden aufaddiert, mündliche Leistungen einbezogen, Formate wie GFS (gleichwertige Feststellung von Schülerleistungen, eine Art von Referaten) verbessern meist den Schnitt.

Die schriftliche Abiturprüfung ist für die allermeisten Schüler nur noch ein relativ irrelevanter Teil des ganzen Notenmarathons.

Über die Rolle der Subjektivität der Bewerter bei Prüfungen gibt's Untersuchungen ohne Ende. Was nun für das Schriftliche wahr ist, gilt umso mehr für das Mündliche. Da werden Leistungen bis auf zwei Stellen hinter dem Komma ausgerechnet, wobei eine gute Leistung im Mündlichen erst einmal in Wohlverhalten und Häufigkeit der Meldungen besteht, fast ungeachtet des Blödsinns, der dabei nicht selten verzapft wird. Und: Die Bewertung des Mündlichen hängt meiner Beobachtung nach massiv vom Klassenniveau ab.

Ein mittelmäßiger Schüler in einer schwachen Klasse wird eher besser zensiert als in einer leistungsfähigen. Und die GFS: Ehrlich gesagt, ist das meistens ein mehr oder weniger gutes Umformulieren eines Wikipedia-Artikels. Was sollen die Schüler denn auch machen, wenn's nicht gar der Papa macht? Zudem bietet das Internet – die Themen sind ja bekannt –, ein reichhaltiges Angebot an Lösungen für jede denkbare Aufgabe.

Gezielte Paukerei auf Prüfungen

Und die schriftlichen Tests: Wenn sie zu schlecht ausfallen, werden sie kassiert und die Lehrkraft bekommt Rechtfertigungsprobleme. Man darf aber nicht vergessen: Für den Lehrer sind Noten eine Art Maginotlinie des Unterrichts, die letzte Disziplinierungs- und Verteidigungsmöglichkeit, die er eigentlich hat. Aber davon später.

Die letzten Schuljahre sind eine gezielte Paukerei auf Prüfungen. Dazu eine Anekdote: Bei einem Konvent der Kunstlehrer in meinem Sprengel wurde über die Abiaufgaben gesprochen: Unter anderem war ein Thema Gebäude des japanischen Architekten Ando. Eine Kollegin meinte, die Schüler würden am Ende des Schuljahrs jede Türklinke in einem Andobau kennen, aber Romanik und Gotik nicht unterscheiden können. Der Befund lässt sich extrapolieren.

Eine weitere Anekdote: Ich habe mal in der 12. Klasse Bühnenbilder entwerfen lassen. Prüfungsaufgabe war ein Entwurf zur Venusbergszene aus dem „Tannhäuser“. Ich gab vorher eine kurze Einführung in die Oper. Keiner der Schüler kannte auch nur den Namen von Richard Wagner. Absolut keiner, nie gehört! Wohlgemerkt: Das waren keine dummen Kinder, das ist das Ergebnis eines Systems, das sich mehr und mehr auf sogenannte „Kompetenzen“ kapriziert und ansonsten zur Ermahnungspädagogik entartet.

Der Begriff „Bulimielernen“ dürfte bekannt sein. Reinstopfen und zum Test auskotzen und dann vergessen.

Noten nur am Ende des Schuljahres

Es kann nun der Eindruck entstehen, ich wäre grundsätzlich gegen Noten und Leistungsbewertung. Bin ich aber nicht, wenn einige Punkte berücksichtigt würden:

  1. Bewertet wird am Schluss! Was soll diese endlose Notenabschichtung mit ihrem Dokumentationsstress und ihrer Scheinobjektivität? Eine Prüfung am Ende, am besten schriftlich, müsste reichen. Es zählt nicht, was ein Schüler irgendwann mal gewusst hat, sondern was auf Dauer „hängengeblieben“ ist, gerade in den MINT-Fächern.
     
  2. Jahresnoten sollten nur darüber Auskunft geben, ob der Schüler dem Jahresstoff überhaupt folgen kann oder zu folgen bereit ist.
     
  3. Lehrende und Prüfende sollten getrennt werden. Warum keine Prüfungsaufgaben durch die Universitäten stellen, korrigieren können ja immer noch die Lehrer? Detaillierte Korrekturanweisungen gibt es ja inzwischen flächendeckend.
     

Lesen Sie am nächsten Samstag: Was bleibt eigentlich von Unterrichtsinhalten?

Teil 1 finden Sie hier.

Teil 2 finden Sie hier.

Foto: Pixabay

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Leserpost

netiquette:

Alex Müller / 20.06.2020

Manches in diesem Artikel kann ich unterschreiben, wie z.B. die Besserstellung mündlich eher mittelmäßiger Leistungen in einem schwachen Kurs, aber anderes ist fragwürdig. Noten nur am Ende des Schuljahres? Das mag in Kunst und anderen Geistes- oder Gesellschaftswissenschaften noch gehen, in Mathe, Physik und Co ist es völlig unangebracht. Da ich selbst zu Schülerzeiten Schülern unterer Jahrgänge in Mathe Nachhilfe gab, kann ich Ihnen versichern, manchen hat eine 4 in der ersten Klausur noch auf den rechten Weg gebracht. Wikipedia-GFS ließen sich einfach verhindern, indem man originale Quellenangaben fordert. Zentralabitur kann man positiv sehen, hat aber auch Nachteile. Es läuft auf standardisiertes Lernen hinaus. Wer am meisten konform mit der Masse geht, schneidet am besten ab. Ich habe den Deutsch-LK jedenfalls auch (fast) ohne Goethe, Schiller und Lessing verbringen dürfen - zum Glück, denn Max Frisch, George Orwell, Dostojewski, Friedrich Dürrenmatt und Wolfgang Hildesheimer waren wesentlich interessanter, auch wenn ich vielleicht ein paar Klassiker versäumt habe.

herbert binder / 20.06.2020

Hallo, @T. Weidner: right. Ich ergänze um “Schreibende” - Autor, Autorin war gestern.

herbert binder / 20.06.2020

Auch das System Schule muß hinterfragt werden dürfen. Genügt es nicht, einfach den fünfzehnjährigen Kindergarten zu etablieren, mit dem Abschluß-Zertifikat “Goldener Schnuller”? ...oder haben wir das schon, rein de facto gesprochen? Aber hochwahrscheinlich wird Farah Diva Henga mäh, mäh hierzu noch ihre kompetenzgesättigte Kolumne erbrechen…äh…abliefern.

F. Auerbacher / 20.06.2020

@M- Lorenz: Wie gerne würde ich Ihnen Recht geben mit Ihrer Aussage “Aber es gibt einen Trost: später auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren meine durch das Elternhaus gut gebildeten Kinder mit diesen durchgeschleusten Deppen. Und dann werden wir ja sehen, wer den Preis für dieses Totalversagungssystem namens Staatliche Schule bezahlt” doch leider sieht die Wirklichkeit anders aus. Die “durchgeschleusten Deppen” ergattern lukrative Positionen in zahllosen unproduktiven, ja manchmal sogar kontraproduktiven, Jobs in NGOs, staatlichen oder privaten “Sozialdiensten” (im weitesten Sinn) und anderen parasitären Strukturen. WIR werden den Preis bezahlen und nicht die Deppen.

armin wacker / 20.06.2020

Seit die Grünen bei uns in BaWü die Schulpolitik bestimmen, geht es auch bei uns bergab. Wie kann das auch anders sein. Wenn ich nicht das Buch von Christa Meeves 1974 gelesen hätte, würde mich das überraschen. Leistung und Fähigkeiten waren schon in meiner Schulzeit sehr unterschiedlich verteilt. Das hat damals nur keinen gestört. Die Gleichmacherei hat allerdings nie funktioniert, weil die Wirklichkeit eine andere ist.Menschen nur noch über ihr Sexualverhalten zu definieren, ist noch viel dümmer. Die Soziologen haben versagt und die Politiker mit.

Marco Mahlmann / 20.06.2020

Es gibt da zwei Möglichkeiten; entweder der Autor und so gut wie alle Kommentatoren haben nichts mit Schule zu tun und phantasieren sich irgendetwas zurecht, das ihrem Weltbild entspricht, oder ich unterrichte seit mehr als zehn Jahren mit mehreren Schulwechseln an ausgerechnet den einzigen Ausnahmen.

Lutz Gütter / 20.06.2020

Sie haben in vielen Dingen, vor allem in den ersten Abschnitten Ihres Artikels vollkommen recht. Ich vermute, Sie haben an einem Gymnasium gearbeitet und es war Ihre Aufgabe, eine neue junge und dynamische Elite hervorzubringen.  Deshalb sei es Ihnen vergönnt, auf diesem hohem Niveau zu klagen. Die Lehrer an Realschulen (in Sachsen Oberschulen) haben da ganz andere Probleme. Da die Leistungsfähigkeit der Schüler eine weitaus breitere Streuung hat und damit einhergehend auch die Lernbereitschaft, stehen diese Lehrer vor der Herausforderung, ihr Wissen an möglichst viele Schüler zu bringen. Oftmals sind diese sowohl geistig als auch körperlich abwesend. Die körperlich Abwesenden werden dann oft von der Polizei dem Unterricht wieder zugeführt, das macht den Unterricht danach nicht besser. Darüber hinaus war die Polizei auch oft an der damaligen Schule meiner Töchter, um die allgemeine Bewaffnung der Schüler zu inspizieren, fündig wurden die immer. Also, Herr Geißler, es hätte Sie schlimmer treffen können. Übrigens läßt auch die Qualität der Lehrkräfte nach, da diese unter den Umständen abstumpfen. Und auch Lehrer wissen im Fach Musik nicht immer alles (es ist halt auch interessenbezogen). Meine Töchter hatten die Aufgabe, einen Vortrag über eine frei zu wählende Musikrichtung zu erarbeiten. Sie wählten Reggaeton, hielten ihren Vortrag und mußten erstaunt zur Kenntnis nehmen, daß der Lehrer diese Art von Musik noch nie gehört hat.

M. Citronella / 20.06.2020

Mir ist aufgefallen, manche der jungen Erwachsenen, die als Schüler , Studenten usw. nebenher im Service jobben gehen,  beherrschen nicht ein mal die Grundrechnungsarten, wenn man als Gast bezahlen will. Ohne moderne Taschenrechner geht da gar nichts. Pisa -Studie lässt grüßen!

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