Quentin Quencher / 01.06.2022 / 16:00 / Foto: Pixabay / 32 / Seite ausdrucken

Armut hautnah an der Supermarkt-Kasse

Früher bin ich nie gerne einkaufen gegangen, es war ein notwendiges Übel, was unbedingt so schnell wie möglich erledigt werden musste, so eine Art Notdurft, bloß umgekehrt. 

Nichts loswerden wollte ich, sondern etwas besorgen, was eben in Küche oder Haushalt gebraucht wurde. Am schnellsten ging das, wenn ich mich gut darauf vorbereitete, also genau wusste, was ich brauche. Ein Einkaufszettel ist da nützlich, meist aber hatte ich es klar im Kopf. So gut wie nie erlag ich der Versuchung, nach dekorativ platzierten Produkten zu greifen, ja gerade das, was mir so aufdringlich vor die Nase oder die Augen gehalten wurde, mied ich konsequent. Die Discounter waren da optimal, nicht nur wegen der Preise, sondern weil es da aussah wie in einer Lagerhalle. Es ist klar, wo was steht oder eingeräumt ist, und derjenige, der dort etwas holen muss, weiß genau, was er braucht.

Warum ich mich so verhielt, wie ich es tat, habe ich nie reflektiert. Es war eben so eine Eigenart, vielleicht Marotte, und die wurde von meinen Partnerinnen akzeptiert, und wenn die einkaufen gingen, vermieden sie es tunlichst, mich mitzunehmen. Gut, so hundertprozentig konsequent war ich natürlich nicht immer, an der Fleischtheke beim Metzger oder im Bäckerladen so manches süßes Stückle verlockte dann doch. Es ist schon komisch, warum mir meine Inkonsequenz nie auffiel, dachte darüber gar nicht nach. Aber irgendwie ist das ja auch das Schöne an Marotten, dass man darüber nicht nachdenkt. Jedenfalls nicht über die eigenen.

Neugierde auf die Kunden

Allerdings trat irgendwann eine Veränderung in meinem Verhalten ein, und das ist dann immer ein Grund, der Sache nachzugehen. Was war passiert? Eine Neugierde wurde geweckt! Nicht auf die dargebotenen Waren, deren Präsentation oder die Manipulationsversuche der Werbung, nein, auf die Menschen im Supermarkt wurde ich neugierig. Wer kaufte BIO ein, und wie passte das zu seiner Erscheinung? Oft merkte ich mir die Gesichter und überprüfte auf dem Parkplatz, in welches Auto sie stiegen. Doch das ist nur ein Beispiel – ein anderes, wie mit Kindern umgegangen wird, wenn die quengeln, oder wie sich Paare verhalten und so weiter und so fort. Die dargebotenen Waren waren es also nicht, was in mir die Abneigung gegen das Einkaufen verschwinden ließ, sondern, weil ich einfach unbemerkt Menschen beobachten konnte, ohne mit ihnen kommunizieren zu müssen. Noch früher tat ich dies gerne in Kneipen, Cafés oder Restaurants, aber seitdem dort überall Rauchverbot ist, gehe ich da nicht mehr hin.

So beobachte ich also auch ein Paar, welches im Lidl vor mir an der Kasse stand. Sie hatten einen Kinderwagen dabei, in den ich allerdings nicht hineinsehen konnte, aber ich gehe davon aus, dass ein schlafendes oder zumindest ruhiges Kind sich darin befand, da keinerlei Geräusche zu vernehmen waren. Der Einkaufswagen war prall gefüllt mit den üblichen Einkäufen, nichts also, was mir besonders auffiel. Sie war etwas übergewichtig, mit drei oder vier Schmuckringen in Nase und Lippen, er eher hager, Fünf-Tage-Bart, und beider Erscheinen ließ den Schluss zu, dass sie zur Unterschicht gerechnet werden müssten. Miteinander gingen sie unauffällig um, nicht wie frisch Verliebte, die sich ständig berühren und anschauen, aber auch nicht so, als ob sie ein größeres Problem mit ihrem Partner hätten. Es schien eine sich eingespielte Aufgabenteilung zwischen ihnen zu geben, wie das bei Paaren, die schon länger zusammen sind, ganz üblich ist. Er räumte den Einkauf auf das Band, und nachdem die Kassiererin die Waren über den Scanner gezogen hatte, packte sie es wieder in den Wagen.

Bar und Karte splitten

Bis hierher passierte also nichts, was groß zu berichten wäre, ich erwähne es nur als Einleitung und damit ein Bild entsteht, mit wem wir es zu tun hatten.

„Vierundsiebzig Euro dreiundzwanzig“, sagte die Kassiererin und ich schaute zum Einkaufswagen. Tatsächlich, der war voll, was mich etwas verwunderte, denn wenn mein Einkaufswagen vollgepackt ist, dann bezahle ich sicher um die hundert Euro, meistens mehr. Aber ich achte beim Einkauf wahrscheinlich auch nicht so auf die Preise, wie es dieses junge Paar offensichtlich tat.

Bevor die Kassiererin begann, die Waren über den Scanner zu ziehen, fragte die junge Frau mit den Nasen- oder Lippenringen, ob sie „Halb halb“ bezahlen dürfe. „Halb halb?“, „Halb bar, halb mit Karte!“. Die Verkäuferin fragte bei ihrer Kollegin nach, was sie in diesem Fall tun muss. „Ja, das geht!“, antwortete sie in durchaus freundlichem Ton, wie jemand, der gerne hilft. Die Kundin öffnete ihren Geldbeutel und entnahm ihm zwei Zwanzig-Euro-Scheine – es schien mir, als ob dies ihr letztes Bares war – und meinte, dass sie „Vierundzwanzig Euro und dreiundzwanzig Cent“ in bar bezahlen wolle, den Rest mit Karte. Kurz noch sprachen Kundin und Verkäuferin noch über diesen Split, aber irgendwie haben sie es hinbekommen.

Ich musste nicht lange nachdenken

Draußen, vor der Filiale, fragte mich meine Frau: „Hast du das mitbekommen, das war aber komisch, oder?“, „Warum hat sie denn nicht gleich alles mit der Karte bezahlt?“

Über eine Antwort auf diese Frage musste ich nicht lange nachdenken, es war mir bereits klar, als ich den leeren Geldbeutel der Frau sah: „Heute ist der 25. Mai, also schon Ende des Monats, sie werden wohl nur noch ein paar Euro in bar haben und höchstens fünfzig Euro auf der Bank.“ Wir schauten uns auf dem Parkplatz um, konnten das junge Paar aber nicht mehr entdecken und sprachen erst mal ein paar Minuten kein Wort.

Nein, ich muss nicht irgendwelche Fernsehsendungen über die Unterschicht anschauen, wenn ich wissen will, wie es Menschen geht, die mit jedem Cent rechnen müssen, ich muss dafür nur mit offenen Augen durch die Welt gehen.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Glitzerwasser.

Foto: Pixabay

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Leserpost

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Elena Mai / 01.06.2022

Hat noch jemanden die Tafel in seiner Stadt beobachtet? In unserer Stadt hatte die Tafel nur einmal in der Woche offen. Seit letztem Jahr stehen Menschen mindestens an drei Tagen in der Woche Schlange davor.

Leo Anderson / 01.06.2022

Die Familie, aus der ich komme und ich selbst auch haben die meiste Zeit meines Lebens von der Hand in den Mund gelebt/ leben müssen. Von daher weiß ich, dass ein vollgepackter Einkaufswagen und ein leeres Konto eher Ursache und Wirkung darstellen, vielleicht auch einen Mangel an Planungsfähigkeit, aber nicht unbedingt Armut im pekuniären Sinn . Wer arm ist und sich dessen bewusst, der kauft arm ein und dessen Einkaufswagen wird dabei nicht voll.

D. Schmidt / 01.06.2022

Das haben sie gut beobachtet. Was Sie da sahen bedeutet: Die beiden Personen haben nicht mehr genügend Bargeld und hoffen durch den Split in den nächsten Monat zu kommen, wo es vermutlich wieder Gehalt aufs Konto gibt, welches dann die Ausstände ausgleicht. Oder kurz gesagt: Die Herrschaften haben diesen Monat über ihre Verhältnisse gelebt. Wer weiß, ob sie nicht noch weitere Käufe auf dieser Basis bis zum Ende des Monats tätigen. Die Frage ist dann: Wie viel Schulden/Dispo häufen die dann über mehrere Monate an? Sieht man bei uns häufig, wenn man genau hinschaut. Hier im Ausland, wo ich bin, ist es noch viel schlimmer. Ist aber nicht das Thema hier.

Torsten Hopp / 01.06.2022

Und bald wird das Paar den Einkaufskorb splitten. Die Hälfte bleibt dann im Supermarkt. Dank an unsere Führungsclique. Bezos kann die nächste Yacht in Auftrag geben.

Christian Feider / 01.06.2022

kleiner Tipp: gehen Sie mal morgens gegen halb neun in Supermärkte,da können Sie dann Rentnerinnen und Rentner beobachten,die SEHR genau rechnen müssen,wie Sie durch die Woche kommen… dafür aber ein Leben lang gearbeitet haben. Tolles Deutschland,fürwahr…spendabel gegenüber der Welt,aber zuhause knausrig wie ein Schwabe

B. Ollo / 01.06.2022

Es heißt so schön bei Brecht “Erst kommt das Fressen, dann die Moral”. Schwere Zeiten kommen da auf moralinsaure Spinatwachteln und Moralapostel zu. Jetzt stellt sich die Frage, wann der Zeitpunkt erreicht ist, an dem eine ökologisch und politisch korrekte Belehrung zum Einkauf solcher Kunden an der Kasse in eine wilde Schlägerei eskaliert. Schlechte Zeiten auch übrigens nicht nur für Kunden der Tafeln, sondern auch für altkluge und schlaumeiernde Aktivistinnen, die “containern” gehen. Die Freude beim Schnorrern wird sich künftig in Grenzen halten.

Arne Ausländer / 01.06.2022

Damit wir den Unterschied zwischen Geldknappheit und echter Armut “endlich” wieder kennenlernen, bemühen sich die Kultur-Reset-Revolutionäre unermüdlich, mit Lockdowns, Lieferkettensabotagen und jetzt auch Krieg. Noch haben sie es nicht ganz geschafft. Nur Geduld! (Ich spreche als jemand, der immer mit recht wenig Geld auskommen mußte. Selbst in den Zeiten, wo es wirklich eng war, war es nie wirklich Armut. Aber da konnte ich immerhin ahnen, wie sich wirkliche Armut anfühlen dürfte. Vielleicht so etwa wie das, was ich 1992 in Lwow/Lemberg sah. Weshalb wir damals schneller als geplant wieder nach Polen zurückfuhren.)

P.Wedder / 01.06.2022

… und wenn man die Augen offen hält, bemerkt man die vielen, meist gepflegt gekleideten Menschen im Seniorenalter, oft mit Fahrrad, welche in den Morgenstunden die Parks und Abfallbehälter nach Pfandflaschen absuchen.

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