In eigenen Worten ausgedrückt bedeutet es, dass man versucht, alle möglichen Formen von Diskriminierung, die in den unterschiedlichsten Sektoren auftreten können, gleichzeitig zu berücksichtigen. Man unterteilt dann die Gesellschaft nicht nur – wie man es jetzt schon tut – in „weibliche“ und „männliche“ Mitglieder, sondern gruppiert sie obendrein nach Rasse, Klasse und Religion sowie nach der Frage, ob ein Migrationshintergrund vorliegt oder nicht – und nach allem, was einem sonst noch einfällt.
So hat sich eine „Hierarchie der Opfer“ herausgebildet, die Opfer-Olympiade ist eröffnet, wir erleben einen Wettlauf um Fördergelder und Hilfestellungen. Mich erinnert das an einen Witz: Da steht ein Bettler an der Straße mit einem Schild: „Please help. I am blind. And I think I am black, too.” Der gute Mann versucht, in zwei Sektoren Diskriminierung geltend zu machen. Das ist Intersektionalität für Anfänger. Heute kommt noch mehr dazu – und es ist nicht mehr witzig.
Eine Frage der Moral
Es ist nicht mehr so, dass man, wenn man einfach weitergeht und nichts spendet, lediglich zwei Aufrufe zur Hilfestellung (blind und black) missachtet hat und nicht weiter behelligt wird. So leicht kommt heute keiner mehr davon. Nun macht man sich allein schon durch falschen Sprachgebrauch schuldig und kann dafür bestraft werden. Es ist zu einer „Frage der Moral“ geworden, wie es in einem Büchlein aus dem Duden-Verlag heißt.
Die Broschüre von „Autor*in“ Anatol Stefanowitsch hat den Untertitel: „Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen.“ Und? Warum brauchen wir die? Weil wir sonst unmoralisch handeln. Wir benachteiligen dann ungerechterweise gewisse Gruppen und bevorzugen andere nicht in dem Maße, in dem wir es tun sollten, weil wir nicht anerkennen, wie sehr wir diesen Opfergruppen verpflichtet sind und wie tief wir in ihrer Schuld stehen.
Nun haben wir den Salat: Die dunklen Gewitterwolken der moralischen Erpressung haben unser gesamtes Alltagsleben durchdrungen. Wir müssen ständig die aktuellen Gruppenzugehörigkeiten beachten und immer wieder neu abwägen, welche der Gruppen gerade eine Sonderbehandlung verdient und welche nicht.
Entsprechend schwanken die Sprachvorschriften hin und her: Mal werden wir aufgefordert, möglichst neutral zu formulieren („der Student“ gilt neuerdings als männlich und deshalb als nicht mehr akzeptabel, „der Studierende“ dagegen gilt überraschenderweise als neutral und ist zu bevorzugen), dann wiederum werden wir angehalten, das Neutralitätsgebot zu verlassen und auf gewisse Gruppen – und seien sie noch so unbedeutend – bei jeder Gelegenheit hinzuweisen, indem wir brav das Gendersternchen* verwenden und damit bevorzugt Menschen berücksichtigen, die sich keinem Geschlecht zuordnen können. Wir müssen dabei natürlich stets auf dem neuesten Stand der Diskussion bleiben.
Die Regeln und die Ausnahme
Das ist nicht einfach. Funny van Dannen hat solche Probleme schon vorausgesehen, als die sich nur undeutlich am Horizont abzeichneten und man in der BRD noch mit DM zahlte. Die grobe Einteilung in Großgruppen kriegte er locker hin – doch wie sah es im Einzelfall aus?
An allem sind die Männer schuld,
Machos, meistens weiße.
Sie sind voll verantwortlich
für die ganze Scheiße.
Sie regieren diese Welt
sie haben zu viel Macht.
Sie haben unseren Planeten
auf den Hund gebracht.
Gibt es größere Schurken?
Die Antwort lautet: „nein!“
Doch auch lesbische, schwarze Behinderte
können ätzend sein.
Ich traf eine bei Obi,
sie fuhr in ihrem Rollstuhl,
drängelt sich an der Kasse vor
und zahlt dann auch noch voll cool
mit einem Tausendmarkschein,
Sie hatte nur zehn Schrauben.
Das würde sich doch ein normaler Deutscher
Nicht erlauben …
Ich weiß nicht, ob man heute darüber lachen kann – oder darf. Die Zeiten ändern sich. Im Jahr 2018 forderten Lesben, den „Christopher-Street-Day“ in „Christina-Street-Day“ umzubenennen. Daraus wurde nichts, doch seither gibt es den umstrittenen Preis für „lesbische Sichtbarkeit“. Der ist nicht mal schlecht dotiert und kann sich neben einem kleinen Literaturpreis durchaus sehen lassen.
Im vorigen Jahrhundert war Funny van Dannen noch funny. Da war die Lage noch einigermaßen übersichtlich. Da genügte es, wenn man grundsätzlich die Frauen-Quote berücksichtigte und obendrein darauf achtete, dass Wessis und Ossis angemessen vertreten waren. Aber jetzt?
Ein Bild macht etwas sichtbar, Sprache macht etwas vorstellbar
Jetzt sind noch weitere Geschlechter hinzugekommen. Wie viele? Das weiß keiner, weil nicht klar ist, ob allein schon gefühlte sexuelle Orientierungen und modische Erscheinungsbilder als eigene Geschlechter gelten. Klar ist allerdings, dass die Betroffenen keinen Spaß verstehen. Sie beanspruchen ihren Anteil vom Quoten-Kuchen und wollen auch in der Sprache „sichtbar“ gemacht werden. Selbst wenn man, wie ich mit dickem Ausrufezeichen betonen will, mit den Mitteln der Sprache keinesfalls etwas „sichtbar“ machen kann, sondern vielmehr etwas „vorstellbar“.
Sprache führt nicht dazu, dass alle ein Bild vor sich liegen haben, über das sie sich verständigen können (sofern sie nicht blind sind), vielmehr werden durch Worte unterschiedliche Vorstellungen im Inneren von unzähligen Menschen (auch von Blinden) ermöglicht. Solche Vorstellungen sind etwas grundsätzlich anderes als Bilder; sie lassen sich nicht beschreiben und auch nicht wissenschaftlich auswerten. Wenn man wirklich etwas „sichtbar machen“ will, wie es heute immer heißt, empfiehlt es sich, Selfies zu machen. Mit einem Eingriff in die Grammatik macht man nichts „sichtbar“. Aber das nur am Rande.
Über wie viele Brücken muss man gehen?
Zurück zur Frage, was Intersektionalität mit dem Individuum zu tun hat und wieso sie einen Angriff auf ebendieses Individuum darstellt. Ich will versuchen, mich an das Problem anzuschleichen, indem ich mir die Voraussetzungen ansehe: Am Anfang des Projektes stand das Gruppendenken, bei dem das Individuum auf der Strecke bleibt. Es sollte in der Gruppe verlorengehen. Wenn man nun aber das Gruppendenken immer weiter verfeinert und möglichst viele Gruppen einbezieht, gelangt man wieder beim Individuum an, auch wenn man da keinesfalls ankommen wollte.
Die tückische Frage lautet: Wie viele Sektoren soll man berücksichtigen? Über wie viele Brücken muss man gehen? Kann man die überhaupt alle erfassen? Nein. Jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Das ist nicht die einzige Schwierigkeit. Man kann auch die subtile Art und Weise, in der in diesen verschiedenen Sektoren Ungleichheit konstruiert wird, nicht leicht erfassen. Man muss schon sehr genau hinsehen.
Zur Definition von Intersektionalismus, mit der sich speziell die Heinrich-Böll-Stiftung befasst, heißt es: „Das Konzept richtet den Blick vor allem auf die Art und Weise, wie Rassismus, Patriarchat, Klassenzugehörigkeit sowie andere Systeme der Unterwerfung eine nicht auf den ersten Blick sichtbare Ungleichheit konstruiert, welche die Beziehung von Frauen zu Rasse, Ethnie, Klasse und ähnliches bestimmt.“
Die genaue Zahl liegt im Dunkeln
Das klingt, als würde mehr Sichtbarkeit der Sache tatsächlich guttun. Doch selbst wenn wir bereit sind, genau hinzuschauen, merken wir schnell, dass wir das gar nicht können. Die verräterischen Formulierungen sind „sowie andere Systeme der Unterwerfung“ – welche denn noch? – sowie das locker dahingehauchte: „und ähnliches“. Wie viel „ähnliches“ kommt denn noch dazu? Wir wissen es nicht. Wir wissen also nicht, wie viele Sportarten bei der Opfer-Olympiade zugelassen sind. Und welche vielleicht morgen schon zugelassen werden.
Es tun sich jetzt schon unübersichtlich viele Tummelplätze für Diskriminierungen auf: zu Rassismus und Sexismus kommen noch Klassismus (nicht verwechseln mit Klassizismus), sowie die Diskriminierung durch das Aussehen (genannt „Lookism“, deutsch „Lookismus“) oder das Alter („Ageism“) hinzu. Und zu den diversen „Anti-s“ mit angehängten „-ismen“ wie Antiziganismus, Antisemitismus und Antifeminismus kommen noch krankhafte Phobien wie Homophobie, Xenophobie, Transphobie und Islamophobie hinzu, sowie die Philematophobie, die Angst vor Küssen.
Wenn man etwas zu seinem Extrem treibt, schlägt es in sein Gegenteil um. Das hatte Hegel erkannt – hier finden wir es bestätigt: Das Konzept der Intersektionalität scheitert an sich selbst, je weiter es voranschreitet. Es geht automatisch seiner Auflösung entgegen. Um sich das nicht eingestehen zu müssen, lässt sich die intersektionalistische Aktivistin kleine Hintertürchen offen mit Aufschriften wie „sowie andere Systeme“, „und ähnliches“. Durch diese Schlupflöcher verschwindet das Konzept schließlich im begrifflichen Nebel, im Nirgendwo. Man muss sich schon sehr anstrengen, um keinesfalls die Erkenntnis zuzulassen, dass es eben doch auf den einzelnen ankommt.
Es entstehen Feinde im eigenen Lager
Seit dreißig Jahren geht das so. Es gibt zwar immer noch (weibliche) Profiteure und Möchte-gern-Profiteure, die meinen, sie könnten die Diskriminierungs-Lorbeeren aus den verschiedenen Sektoren addieren, als würden sie Rabattmarken sammeln und in ein Heftchen einkleben und hätten dann bei einem vollgeklebten Heft Anspruch auf eine Prämie. Doch sie übersehen dabei etwas.
Wenn ich eine simple Zweiteilung vornehme (auf der einen Seite die Diskriminierten, auf der anderen die Diskriminierenden), dann ist das zwar eine primitive Vereinfachung, die mehr falsch als richtig ist und eigentlich in der Politik keine Rolle spielen sollte, aber sie wirkt immerhin in sich stimmig.
Wenn aber jemand nicht nur einer einzigen Gruppe zugerechnet wird, sondern mehreren, dann ist er mal auf der Seite der Diskriminierten, bei anderer Gelegenheit jedoch auf der Seite der Diskriminierenden. Er ist in einem Sektor auf der Seite der Guten, in einem anderen Sektor auf der Seite der Bösen.
Der Feind im Spiegel
Eine weiße Lesbe könnte von der im Lied besungenen Frau im Rollstuhl glatt überrollt werden. Die aktuelle Preisträgerin ist zwar lesbisch und dunkelhäutig – aber ist sie auch behindert? Ist sie nicht eher privilegiert? Allein schon durch die Auszeichnung für lesbische Sichtbarkeit? Mit so einer Auszeichnung diskriminiert man doch alle, die nicht ausgezeichnet werden – oder etwa nicht? Man müsste also nicht nur die Erkenntnis zulassen, dass es eben doch auf den einzelnen ankommt. Man müsste sich obendrein eingestehen, dass die Grenze zwischen Gut und Böse durch jeden einzelnen läuft.
Damit muss jeder Mensch umgehen und muss lernen, die Potenziale, die in ihm liegen, zu erkennen und zu nutzen. Jeder muss sich auch über seine dunklen Seiten im Klaren sein. Doch da machen sich die Intersektionalist*innen einen Lenz und kneifen. Sie sehen sich einfach als Teil einer Gruppe, in der alle gut sind. Alles Böse wird der Einfachheit halber als Schattenprojektion auf diejenigen verlagert, die nicht zur Gruppe gehören.
Doch auf gesellschaftlicher Ebene funktioniert das nicht, auch wenn wir noch so viele staatlich finanzierte Stellen schaffen, die das hoch komplizierte Diskriminierungs-Geschehen überwachen und kontrollieren. Sie versuchen es – wie aktuell in Berlin – natürlich trotzdem. Es gibt sogar einen Test, bei dem man sein Quoten- und Gerechtigkeitsdenken überprüfen kann.
Eine geglückte Persönlichkeitsentwicklung, die einem Individuum guttun würde, kommt auf diese Art auch nicht zustande. Das Konzept der Intersektionalität steht dem im Wege.
Teil 1 finden Sie hier.
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