Am vorletzten Dienstag traf sich unser Kollegium nach zwei Monaten wieder einmal zu einer „echten“, will sagen körperlichen Lehrerkonferenz. Vorangegangen waren mehrere Zoom-Meetings in unterschiedlicher Besetzung. Thema der Konferenz war natürlich die bevorstehende Öffnung unserer Schule. Unsere Schulleitung hatte einen Umsetzungsplan der Hygieneempfehlungen ausgearbeitet, den es zu diskutieren galt. Die 25 anwesenden Lehrerinnen und Lehrer diskutierten das Papier nicht lange, zu sehr wollte man sich jetzt den anstehenden pädagogischen Herausforderungen zuwenden. Die Mehrheit meiner Kolleginnen und Kollegen brannten darauf, dass die Schule wieder öffnet. Wir kamen gut voran und einigten uns auf einen möglichst sanften und verantwortlichen Einstieg.
Zu Hause angekommen, setzte ich mich wieder an den Computer, um die letzten eingehenden Schülerbeiträge zu sichten und deren Eingang zu bestätigen. Der unvermeidbare Newsticker vermeldete indes Erstaunliches: Die Lehrerverbände des Kantons Zürich und Basel-Stadt und der französischsprechenden Westschweiz protestierten gegen die Öffnung der Schulen. In der Stadt Basel starteten Lehrer eine Petition, welche einen Halbklassenunterricht forderten. Unser Schulinspektorat vermeldete zahlreiche Krankmeldungen von Lehrkräften, die sich dieser Herausforderung nicht stellen wollten und sucht händeringend nach Stellvertretungen. Die französischsprachigen Lehrpersonen in Biel (zur Erinnerung an die deutschen Leser: Biel ist eine zweisprachige Stadt) probten den Aufstand. Sie hielten die vergleichsweise liberale Öffnung der Schulen im Kanton Bern für unverantwortlich. Der welsche Bildungsdirektor unserer Stadt versuchte, die beunruhigten Seelen unserer Stadt mit einer Zahl zu überzeugen: In den letzten zwei Wochen, so der Magistrat, hätte es im Großraum Biel drei Neuinfektionen gegeben. Es half bedingt. Schließlich erfolgte das Machtwort. Die Schulen in Biel werden gemäß den kantonalen Vorgaben geöffnet, basta!
Mir wird gesagt, dass ich mit meinen 65 Jahren zur Risikogruppe gehöre. Bis Ende April hätte ich mit einer fristgemäßen Kündigung meinen offiziellen Ruhestand, der im Sommer beginnt, antreten können. Geschickt gedacht, hätte ich mit meiner Kündigung und einem anschließenden Arztzeugnis, das mir „unkompliziert meine Vulnerabilität bestätigte“ (Originaltext Bildungsdirektion) meine Pensionierung bereits vor am 16. März mit vollem Lohn antreten können.
Ich habe es nicht getan. Im Gegenteil, ich habe den Behörden mitgeteilt, dass ich noch über meine Pensionierung ein Jahr länger arbeiten und die mir anvertraute Klasse bis zum Ende ihrer Schulkarriere betreuen würde. Und selbstverständlich stehe ich seit Montag, den 11. Mai wieder vor meiner Klasse und mache meinen Job.
Es berührt mich peinlich
Ich gehöre nicht zu den Leuten, welche Ängste und Befürchtungen vorschnell verurteilen. Aber für die Haltung der Lehrerverbände und der zahlreichen Lehrkräfte, die jetzt ihre Aufgabe nicht wahrnehmen wollen, habe ich in der Tat wenig Verständnis. Sie berührt mich peinlich. Es war nicht lange her, da gab es eine große Anerkennungskampagne für die Arbeitenden in den Spitälern und der Pflege. Sie würden, so der Tenor, einen wichtigen und großartigen Job leisten. In der ganzen – etwas gekünstelten – Lobhudelei gingen andere Berufsgruppen verloren. In erster Linie waren da die unzähligen Verkäuferinnen, welche Tag für Tag im Einsatz standen, um uns den Kauf der lebensnotwendigen Dinge des Alltags zu sichern. Ich denke an die Polizeibeamten, die sogar Demonstranten physisch daran hindern sollten, ihr Recht auf Versammlungsfreiheit zu verhindern.
Und jetzt sind wir dran, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir die Lehrkräfte. Die Intensivmediziner in den Spitälern unseres Landes versorgen erkrankte Patienten durch die technisch aufwändige Beatmung mit dem lebensnotwendigen Sauerstoff. Auch die Bildung unserer Kinder ist eine Art Sauerstoff. Viele Eltern haben während der Schulschließungen mitbekommen, welchen Wert die Institution Schule eigentlich hat. Wir übernehmen die Kinder frühmorgens, verpflegen sie neuerdings vor Ort, bringen ihnen Lesen, Schreiben und Rechnen und zwei Fremdsprachen bei, unternehmen mit ihnen sinnvolle und weniger sinnvolle Aktivtäten, besuchen Museen, musizieren, organisieren Sportturniere, üben Theaterstücke ein, lassen sie Naturphänomene hautnah erleben und entlassen sie am Abend wieder nach Hause.
Diese Leistung, die sich der Steuerzahler sehr viel kosten lässt, gilt es jetzt schleunigst wiederaufzubauen. Wir Lehrkräfte erhielten in diesen vergangenen Monaten unseren vollständigen Lohn, anders als viele Eltern unserer Schüler. Jetzt gilt es, den Menschen und vor allem ihren Kindern etwas zurückzugeben. Das sieht mein gleichaltriger Kollege D., der sich gerade erst von einer Chemo erholt hat, genauso. Er steht, wie mein anderer 56-jähriger Kollege, dem eine kontrollierbare Leukämieerkrankung bescheinigt wurde, ebenfalls seit Montag vor seiner Klasse. Letzterer meinte gar garstig: „Wenn man mich gezwungen hätte, mit einer Maske zu unterrichten, hätte ich das Arztzeugnis eingereicht.“
Ich will nicht verhehlen, dass mir die Pose des „working class hero“ immer gefallen hat. Allerdings mache auch ich eine gesunde Risikoabwägung. Diese Risikoabwägung hat mich entscheiden lassen, während der Zeit des Lockdowns meine Großkinder zu sehen und zu hüten, den Behördengehorsam selbstverantwortlich umzusetzen und der ständigen Panikmache der Öffentlich-rechtlichen Medien eine gewisse Gelassenheit entgegenzusetzen. Und wenn es mich dennoch einholen sollte, dieses omninöse Covid-19, dann erinnere ich mich an den Schluss der Ballade der Seeräuber von Bertolt Brecht.
Sie fühlen noch, wie voll Erbarmen
Das Meer mit ihnen heute wacht
Dann nimmt der Wind sie in die Arme
Und tötet sie vor Mitternacht.
Und ganz zuletzt in höchsten Masten
War es, weil Sturm so gar laut schrie
Als ob sie, die zur Hölle rasten
Noch einmal sangen, laut wie nie:
O Himmel, strahlender Azur!
Enormer Wind, die Segel bläh!
Laßt Wind und Himmel fahren! Nur
Laßt uns um Sankt Marie die See!
In diesem Sinne, Kolleginnen und Kollegen, noch einmal: Jetzt sind wir dran!