Ich habe es nie wahr haben wollen, aber jetzt ist es quasi amtlich: Ich bin ein ganz armes Schwein. Ein doppelt armes Schwein sogar. Denn ich bin nicht nur ein Kriegskind, sondern auch noch ohne Vater aufgewachsen (er fiel in Russland, als ich zehn Monate alt war). Doch der Reihe nach.
„Ich selbst“, schreibt der Münchener Psychoanalytiker Michael Ermann, „1943 in Stettin in Pommern zwischen Bombennächten geboren, bin ein typisches Kriegskind. Ich habe trotz langer Selbstanalyse erst in den letzten Jahren begonnen, meine Biographie zu begreifen, eine Kriegskindbiographie, die ich mit Tausenden teile. Ich habe spät begonnen, meine Persönlichkeit im Lichte dieser Biographie neu zu sehen und mein Leben neu zu lesen. Das hat mich neugierig auf die Leben anderer gemacht, die diesen Lebensbeginn mit mir teilen. Daraus ist ein verstärktes Interesse an dieser Thematik entstanden, die inzwischen in ein wissenschaftliches Projekt gemündet ist.“
Und weiter: „Wenn es etwas Auffälliges an uns [Kriegskindern] gibt, dann am ehesten die kleinen Schrullen: Kaum einer von uns kann beherzt einmal Kleidung oder Essen wegwerfen. Bei vielen zeigt der Umgang mit der Zeit bemerkenswerte Relikte von Flucht und Fliegerangriffen: Das Hinauszögern von Abschieden, von Entscheidungen, das Ausnutzen von Zeit bis zur allerletzten Sekunde, die Unentschlossenheit bei Reisen, das Chaos vor der Abreise. Oder merkwürdige, oft unbemerkte kleine Phobien, zum Beispiel beim Hinabsteigen in den U-Bahn-Schacht. Und das Erschrecken über Banales: Das Zusammenzucken bei Aufheulen von Sirenen, beim Vorüberfahren der Feuerwehr. Oder das schleichende Unbehagen, wenn im September über den dunkelblauen Himmel ein einsames Flugzeug fliegt. Ja, überhaupt Stimmungen, die plötzliche Melancholie bei einem bestimmten Licht, die Berührung in weiten Landschaften, die Beklommenheit an manchen Nachmittagen oder an stillen Abenden, bei Gerüchen oder Lauten.“
Und auf die Frage des „Spiegel“: „Hat der Krieg auch bei Ihnen Spuren hinterlassen?“ antwortete Ermann: „O ja! Ich denke, das reicht bis hin zur Wahl meines Berufs als Psychotherapeut und Psychoanalytiker. Denn hinter der Profession, Schicksale zu erforschen, steht letztlich auch das Bedürfnis, das eigene Schicksal besser zu verstehen. Aber es dauerte lange, bis ich begriffen habe, wie viele Eigenheiten meines Wesens durch den Krieg geprägt worden sind.“
Ein „Institut für qualitiative Forschung“
Nun ja, da war ich zunächst sprachlos. Dann fragte ich mich, was denn alle diejenigen, die unabhängig von Kriegserlebnissen diesen Berufsweg eingeschlagen haben, dazu bewegt haben mag.
Machen wir uns nichts vor: Man braucht keine wissenschaftlichen Studien, um zu der Erkenntnis zu kommen, dass derart einschneidende Erlebnisse wie Krieg, Flucht und Vertreibung auch auf Kinder eine nachhaltige Wirkung ausüben können. Wovor man sich jedoch hüten muss, sind Verallgemeinerungen, die bei solchen Studien herauskommen, herauskommen müssen, denn sonst wären sie ja ihr Geld nicht wert. Mit den Verallgemeinerungen sind sie es zwar erst recht nicht, aber das ist nicht so einfach zu belegen, denn schließlich handelt es sich ja um „wissenschaftliche“ Erkenntnisse.
Wie diese Erkenntnisse zustande gekommen sind, interessiert allenfalls ein paar „Fachleute“, die dann dagegen in „Fachzeitschriften“ argumentieren – fernab von der allgemeinen Öffentlichkeit. Das Forschungsprojekt an der Ludwig-Maximilians-Universität München „Kriegskindheit im 2. Weltkrieg und ihre Folgen” „sollte empirische Beiträge zur Verarbeitung der Kindheit im Zweiten Weltkrieg … erbringen.“ Zu diesem Zweck wurden Vorstudien und Fragebogenuntersuchungen durchgeführt. „Für diese Studien wurden auf der Grundlage einer breit gestreuten Fragebogenuntersuchung 100 [sic!] Angehörige der Geburtsjahrgänge 1933 – 1945 rekrutiert, die im Machtbereich des damaligen deutschen Reichsgebietes einschl. der sog. Anschlussgebiete als Deutsche geboren wurden, darunter 30 Psychoanalytiker [sic!]. Gegenstand der Studie waren die gegenwärtigen Repräsentanzen von Erfahrungen und Beziehungen im Zweiten Weltkrieg und unter dem Nationalsozialismus sowie in der unmittelbaren Nachkriegszeit und die spätere Weiterentwicklung. Diese wurden in einem eigens für diesen Zweck konzipierten semistrukturierten ‚Interview zur Kriegskindheit’ erfasst. Die Auswertung erfolgte inhaltsanalytisch nach Methoden der qualitativen Forschung.“ Unter qualitativer Sozialforschung wird in den Sozialwissenschaften die Erhebung nicht standardisierter Daten und deren Auswertung verstanden. Besonders häufig werden dabei interpretative und hermeneutische Methoden als Analysemittel verwendet (Wikipedia). Es gibt sogar ein „Institut für qualitative Forschung“. Klingt für mich sehr eindrucksvoll.
Kurze Pause. Tief durchatmen. 30 Psychoanalytiker. Semistrukturierte Interviews. Methoden der qualitativen Forschung. Leider erfährt man nicht, wer die Interviews durchgeführt hat. Aber das würde letztlich auch nicht viel ändern. Ich bin selbst ungefähr ein halbes dutzendmal zu den unterschiedlichsten Themen interviewt worden, darunter von einer Studentin, die von dem Thema (es ging um Informationsbeschaffung in Ministerien) offensichtlich nicht die geringste Ahnung hatte und deshalb auf Rückfragen auch nicht reagieren konnte. Bei qualitativer Forschung sind aber die Anforderungen an die Qualifikation des Interviewers/Beobachters recht hoch, die Qualität der Daten ist zu einem gewissen Teil auch davon abhängig (Dipl.-Psych. Stefanie Winter, Uni Mannheim).
Psychologieprofessoren sind anders als Metallarbeiter
Auf der eigens eingerichteten Homepage des Projekts heißt es zu dessen Ergebnis:
„Die Untersuchungen haben das Wissen um die Verarbeitung von kollektiven Belastungen wie dem Kindschicksal bereichert. Als Ergebnis liegen Erkenntnisse über die Einflüsse von Kriegsereignissen und Nationalsozialismus auf die Erlebnis-Verarbeitung und die späteren Repräsentanzen und Einstellungen von Betroffenen vor. Dabei handelt es sich um eine Erkundungs- und Grundlagenstudie, die keine unmittelbare Nutzanwendung hat, aber einen wertvollen Wissenshintergrund für den Einfluss kollektiver Schicksale und ihrer Behandlung eröffnet.“
Der Spiegel wollte es im Interview mit Professor Ermann etwas genauer wissen:
SPIEGEL: Worunter leiden diese Menschen?
Ermann: Sie leiden zum Beispiel unter wiederkehrenden, sich aufdrängenden Kriegserinnerungen, unter Angstzuständen, Depressionen und psychosomatischen Beschwerden. Besonders häufig tauchen Krämpfe, Herzrasen und chronische Schmerzen auf. Davon abgesehen haben wir bei fast allen befragten Kriegskindern Auffälligkeiten registriert, derentwegen aber niemand zum Arzt rennt. Etwa das Gefühl großer Leere. Oder der Eindruck, nicht das eigene Leben zu leben, irgendwie neben sich zu stehen. Oder Fremdheitsgefühle, Beziehungsstörungen. All das sind Merkmale dieser Generation.
SPIEGEL: Gibt es denn das typische Kriegskind?
Ermann: Wer den Krieg auf dem Bauernhof im Schwarzwald erlebt hat, ist von völlig anderen Dingen geprägt als ein Kind aus Königsberg, das übers Haff flüchten musste. Vor allen Dingen werden die Erlebnisse von jedem anders verarbeitet. Die einen schaffen sich eine Idylle, werden Entwicklungshelfer oder engagieren sich karitativ. Die anderen resignieren und gehen in die Isolation. Und schließlich ist auch die Bereitschaft, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, unterschiedlich ausgeprägt. Ein Psychologieprofessor ist dazu sicher eher willens und in der Lage als ein Metallarbeiter.
Hätten Sie das gedacht?
Genese ihrer Gestörtheiten
Trotzdem kommt Ermann an anderer Stelle zu dem Schluss: „Kriegskinder sind also als Erwachsene Menschen, die im Allgemeinen häufiger gefährdet sind, mit seelisch bedingten Störungen zu erkranken als andere. Vor allem aber ist die Art der Störung, die Ursache, nämlich die traumatische Genese ihrer Gestörtheiten das Besondere. Besonders ist nach meiner Erfahrung außerdem die Einstellung dazu. Sie besteht in einer Verleugnung der Möglichkeit – oder soll ich sagen: der Tatsache, dass die Ursprünge dieser Störungen in der Kriegskindheit liegen – nach dem Motto: Für uns war das doch damals alles ganz normal!“
Kann alles sein, aber genauso gut auch nicht. Es bleibt ein Stochern mit der Stange im Nebel, bei dem hin und wieder ein Treffer erzielt wird. Gesponsert wurde das Projekt von der Baumgart-Stiftung, der International Psychoanalytic Association, der Köhler-Stiftung und der Münchener Universitätsgesellschaft.
Nun ist das alles weiß Gott nicht zum Lachen. Deswegen – bevor es so ernst weiter geht – zwischendurch etwas zur Aufheiterung. An der Bremer Jacobs University, einer internationalen, privaten, staatlich anerkannte Hochschule, arbeitet der Soziologe und „Glücksforscher“ Professor Dr. Jan Delhey. Er hat herausgefunden, dass das Glück im Alltag auf drei Säulen ruht: Haben, Lieben, Sein. Auch so ein Ergebnis, auf das man als normaler Mensch nie gekommen wäre. „Das Haben sind die materiellen Lebensbedingungen, das Lieben meint Partnerschaft und soziale Beziehungen, das Sein umschreibt das, was wir mit unserem Leben anfangen, wie aktiv wir sind, welche Ziele wir haben.“ „Wenn ein Pfeiler ganz weg bricht, ist es schwierig mit dem Glück“, hat Delhey erkannt. Aber man müsse nicht in allen drei Bereichen Spitze sein. „Es geht beim Glück nicht um Höchstleistung. Ein gesunder Dreiklang, der macht es auch.“ Leider verrät er nicht, worin sich ein „gesunder“ von einem „ungesunden“ Dreiklang unterscheidet. Macht nichts, ist sowieso alles Küchenpsychologie. Da halte ich mich lieber an Heinrich Heine:
Das Glück ist eine leichte Dirne,
Und weilt nicht gern am selben Ort;
Sie streicht das Haar dir von der Stirne
Und küßt dich rasch und flattert fort.
Frau Unglück hat im Gegenteile
Dich liebefest an’s Herz gedrückt;
Sie sagt, sie habe keine Eile,
Setzt sich zu dir an’s Bett und strickt.
Ein Genderforscher schaut auf die Vaterlosen
Ein anderer Soziologe, der Schweizer Walter Hollstein, der sich als Genderforscher an der Uni Bremen einen Namen gemacht und uns gerade in einem Buch mitgeteilt hat, „Was vom Mann übrig blieb“, dieser Walter Holstein also vermittelt uns einige wissenschaftliche Erkenntnisse über Jungen, die ohne Vater aufgewachsen sind. Jean-Paul Sartre etwa, der uns die dunkle Mitteilung hinterlassen hat: „Ich war ein Waisenkind ohne Vater. Da ich niemandes Sohn war, wurde ich meine eigene Ursache.“ Tröstlich oder deprimierend? Ich weiß es nicht. „Ein absenter Vater ist – so weiß die Therapeutik – eine lebenslange Quelle von Traurigkeit, Ärger, Verbitterung und Scham.“ Verdammt, da muss bei mir etwas schief gelaufen sein, denn bisher bin ich von derartigen Stimmungen verschont gewesen, von Sonderfällen natürlich abgesehen. „Wir wissen empirisch sogar mehr“, lässt uns Hollstein wissen, „Wir kennen inzwischen die folgende Gesetzlichkeit: Es gibt einen klaren Zusammenhang von Vater-Präsenz und gesunder Entwicklung des Sohnes auf der einen Seite und von Vater-Absenz und der Gefahr des Scheiterns auf der anderen. Zum Spektrum des Scheiterns gehören innere Verwahrlosung, Sucht, Kriminalität, Gewalt, Depression und Suizid der allein gelassenen Söhne.“ Einen Sonderfall stellt offenbar Franz Kafka dar. Er hatte zwar einen Vater, kam jedoch nicht klar mit ihm, weshalb er einen rund hundert Seiten langen „Brief an den Vater“ schrieb, diesen allerdings nicht abschickte.
Die Gegenposition hat die englische Autorin Maureen Green (geb. 1957, Mutter von vier Kindern, vermutlich in Eigenarbeit geschaffen) formuliert: „Ein toter Vater ist Rücksicht in höchster Vollendung.“ Das ist trotz der schönen Verpackung ein kaum zu überbietender Zynismus. Richtig dürfte aber sein, dass zwischen einem „absenten“ Vater und einem solchen, wie etwa Kafka ihn hatte, „wissenschaftlich“ kein Unterschied feststellbar sein dürfte. Und ich persönlich würde, wenn ich die Wahl hätte, mich in einem solchen Fall für den abwesenden Vater entscheiden.
Ob nun Kriegskind oder vaterlos oder gar beides: Nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung bleibt immer etwas hängen. Was das im Einzelnen ist, lässt sich nicht durch kollektive Untersuchungen klären, sondern ist stets eine Frage des einzelnen Menschen. Dessen Schicksal wird aber nicht nur von seinem sozialen Umfeld, von seinen frühkindlichen Erlebnissen, von Freude, Angst und Schrecken, von Erfolgen und Misserfolgen, von Hochs und Tiefs bestimmt, sondern auch von seiner genetischen Disposition. Das beste Beispiel hierfür ist für mich Oliver Twist, bei dem sich trotz fehlendem Vater und fehlender Mutter und trotz der widerwärtigsten Umstände, unter denen er aufwächst, die gute genetische Veranlagung durchsetzt. Gewiss, es ist eine literarische Kunstfigur. Aber Schriftsteller wissen oft mehr über das wirkliche Leben als Wissenschaftler, die vorgeben, es zu erforschen.
So gesehen, fühle ich mich keineswegs als armes Schwein, sondern blicke mit 77 Jahren auf ein Leben zurück, wie ich es mir schöner kaum vorstellen könnte.