Rainer Grell / 04.05.2018 / 12:00 / Foto: National Geographic / 13 / Seite ausdrucken

Als vaterloses Kriegskind zwischen den Studien

Ich habe es nie wahr haben wollen, aber jetzt ist es quasi amtlich: Ich bin ein ganz armes Schwein. Ein doppelt armes Schwein sogar. Denn ich bin nicht nur ein Kriegskind, sondern auch noch ohne Vater aufgewachsen (er fiel in Russland, als ich zehn Monate alt war). Doch der Reihe nach.

„Ich selbst“, schreibt der Münchener Psychoanalytiker Michael Ermann, „1943 in Stettin in Pommern zwischen Bombennächten geboren, bin ein typisches Kriegskind. Ich habe trotz langer Selbstanalyse erst in den letzten Jahren begonnen, meine Biographie zu begreifen, eine Kriegskindbiographie, die ich mit Tausenden teile. Ich habe spät begonnen, meine Persönlichkeit im Lichte dieser Biographie neu zu sehen und mein Leben neu zu lesen. Das hat mich neugierig auf die Leben anderer gemacht, die diesen Lebensbeginn mit mir teilen. Daraus ist ein verstärktes Interesse an dieser Thematik entstanden, die inzwischen in ein wissenschaftliches Projekt gemündet ist.“

Und weiter: „Wenn es etwas Auffälliges an uns [Kriegskindern] gibt, dann am ehesten die kleinen Schrullen: Kaum einer von uns kann beherzt einmal Kleidung oder Essen wegwerfen. Bei vielen zeigt der Umgang mit der Zeit bemerkenswerte Relikte von Flucht und Fliegerangriffen: Das Hinauszögern von Abschieden, von Entscheidungen, das Ausnutzen von Zeit bis zur allerletzten Sekunde, die Unentschlossenheit bei Reisen, das Chaos vor der Abreise. Oder merkwürdige, oft unbemerkte kleine Phobien, zum Beispiel beim Hinabsteigen in den U-Bahn-Schacht. Und das Erschrecken über Banales: Das Zusammenzucken bei Aufheulen von Sirenen, beim Vorüberfahren der Feuerwehr. Oder das schleichende Unbehagen, wenn im September über den dunkelblauen Himmel ein einsames Flugzeug fliegt. Ja, überhaupt Stimmungen, die plötzliche Melancholie bei einem bestimmten Licht, die Berührung in weiten Landschaften, die Beklommenheit an manchen Nachmittagen oder an stillen Abenden, bei Gerüchen oder Lauten.“

Und auf die Frage des „Spiegel“: „Hat der Krieg auch bei Ihnen Spuren hinterlassen?“ antwortete Ermann: „O ja! Ich denke, das reicht bis hin zur Wahl meines Berufs als Psychotherapeut und Psychoanalytiker. Denn hinter der Profession, Schicksale zu erforschen, steht letztlich auch das Bedürfnis, das eigene Schicksal besser zu verstehen. Aber es dauerte lange, bis ich begriffen habe, wie viele Eigenheiten meines Wesens durch den Krieg geprägt worden sind.“

Ein „Institut für qualitiative Forschung“

Nun ja, da war ich zunächst sprachlos. Dann fragte ich mich, was denn alle diejenigen, die unabhängig von Kriegserlebnissen diesen Berufsweg eingeschlagen haben, dazu bewegt haben mag.  

Machen wir uns nichts vor: Man braucht keine wissenschaftlichen Studien, um zu der Erkenntnis zu kommen, dass derart einschneidende Erlebnisse wie Krieg, Flucht und Vertreibung auch auf Kinder eine nachhaltige Wirkung ausüben können. Wovor man sich jedoch hüten muss, sind Verallgemeinerungen, die bei solchen Studien herauskommen, herauskommen müssen, denn sonst wären sie ja ihr Geld nicht wert. Mit den Verallgemeinerungen sind sie es zwar erst recht nicht, aber das ist nicht so einfach zu belegen, denn schließlich handelt es sich ja um „wissenschaftliche“ Erkenntnisse.

Wie diese Erkenntnisse zustande gekommen sind, interessiert allenfalls ein paar „Fachleute“, die dann dagegen in „Fachzeitschriften“ argumentieren – fernab von der allgemeinen Öffentlichkeit. Das Forschungsprojekt an der Ludwig-Maximilians-Universität München „Kriegskindheit im 2. Weltkrieg und ihre Folgen” „sollte empirische Beiträge zur Verarbeitung der Kindheit im Zweiten Weltkrieg … erbringen.“ Zu diesem Zweck wurden Vorstudien und Fragebogenuntersuchungen durchgeführt. „Für diese Studien wurden auf der Grundlage einer breit gestreuten Fragebogenuntersuchung 100 [sic!] Angehörige der Geburtsjahrgänge 1933 – 1945 rekrutiert, die im Machtbereich des damaligen deutschen Reichsgebietes einschl. der sog. Anschlussgebiete als Deutsche geboren wurden, darunter 30 Psychoanalytiker [sic!]. Gegenstand der Studie waren die gegenwärtigen Repräsentanzen von Erfahrungen und Beziehungen im Zweiten Weltkrieg und unter dem Nationalsozialismus sowie in der unmittelbaren Nachkriegszeit und die spätere Weiterentwicklung. Diese wurden in einem eigens für diesen Zweck konzipierten semistrukturierten ‚Interview zur Kriegskindheit’ erfasst. Die Auswertung erfolgte inhaltsanalytisch nach Methoden der qualitativen Forschung.“ Unter qualitativer Sozialforschung wird in den Sozialwissenschaften die Erhebung nicht standardisierter Daten und deren Auswertung verstanden. Besonders häufig werden dabei interpretative und hermeneutische Methoden als Analysemittel verwendet (Wikipedia). Es gibt sogar ein „Institut für qualitative Forschung“. Klingt für mich sehr eindrucksvoll.

Kurze Pause. Tief durchatmen. 30 Psychoanalytiker. Semistrukturierte Interviews. Methoden der qualitativen Forschung. Leider erfährt man nicht, wer die Interviews durchgeführt hat. Aber das würde letztlich auch nicht viel ändern. Ich bin selbst ungefähr ein halbes dutzendmal zu den unterschiedlichsten Themen interviewt worden, darunter von einer Studentin, die von dem Thema (es ging um Informationsbeschaffung in Ministerien) offensichtlich nicht die geringste Ahnung hatte und deshalb auf Rückfragen auch nicht reagieren konnte. Bei qualitativer Forschung sind aber die Anforderungen an die Qualifikation des Interviewers/Beobachters recht hoch, die Qualität der Daten ist zu einem gewissen Teil auch davon abhängig (Dipl.-Psych. Stefanie Winter, Uni Mannheim).

Psychologieprofessoren sind anders als Metallarbeiter

Auf der eigens eingerichteten Homepage des Projekts heißt es zu dessen Ergebnis:

„Die Untersuchungen haben das Wissen um die Verarbeitung von kollektiven Belastungen wie dem Kindschicksal bereichert. Als Ergebnis liegen Erkenntnisse über die Einflüsse von Kriegsereignissen und Nationalsozialismus auf die Erlebnis-Verarbeitung und die späteren Repräsentanzen und Einstellungen von Betroffenen vor. Dabei handelt es sich um eine Erkundungs- und Grundlagenstudie, die keine unmittelbare Nutzanwendung hat, aber einen wertvollen Wissenshintergrund für den Einfluss kollektiver Schicksale und ihrer Behandlung eröffnet.“

Der Spiegel wollte es im Interview mit Professor Ermann etwas genauer wissen:

SPIEGEL: Worunter leiden diese Menschen?

Ermann: Sie leiden zum Beispiel unter wiederkehrenden, sich aufdrängenden Kriegserinnerungen, unter Angstzuständen, Depressionen und psychosomatischen Beschwerden. Besonders häufig tauchen Krämpfe, Herzrasen und chronische Schmerzen auf. Davon abgesehen haben wir bei fast allen befragten Kriegskindern Auffälligkeiten registriert, derentwegen aber niemand zum Arzt rennt. Etwa das Gefühl großer Leere. Oder der Eindruck, nicht das eigene Leben zu leben, irgendwie neben sich zu stehen. Oder Fremdheitsgefühle, Beziehungsstörungen. All das sind Merkmale dieser Generation.

SPIEGEL: Gibt es denn das typische Kriegskind?

Ermann: Wer den Krieg auf dem Bauernhof im Schwarzwald erlebt hat, ist von völlig anderen Dingen geprägt als ein Kind aus Königsberg, das übers Haff flüchten musste. Vor allen Dingen werden die Erlebnisse von jedem anders verarbeitet. Die einen schaffen sich eine Idylle, werden Entwicklungshelfer oder engagieren sich karitativ. Die anderen resignieren und gehen in die Isolation. Und schließlich ist auch die Bereitschaft, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, unterschiedlich ausgeprägt. Ein Psychologieprofessor ist dazu sicher eher willens und in der Lage als ein Metallarbeiter.

Hätten Sie das gedacht?

Genese ihrer Gestörtheiten

Trotzdem kommt Ermann an anderer Stelle zu dem Schluss: „Kriegskinder sind also als Erwachsene Menschen, die im Allgemeinen häufiger gefährdet sind, mit seelisch bedingten Störungen zu erkranken als andere. Vor allem aber ist die Art der Störung, die Ursache, nämlich die traumatische Genese ihrer Gestörtheiten das Besondere. Besonders ist nach meiner Erfahrung außerdem die Einstellung dazu. Sie besteht in einer Verleugnung der Möglichkeit – oder soll ich sagen: der Tatsache, dass die Ursprünge dieser Störungen in der Kriegskindheit liegen – nach dem Motto: Für uns war das doch damals alles ganz normal!“

Kann alles sein, aber genauso gut auch nicht. Es bleibt ein Stochern mit der Stange im Nebel, bei dem hin und wieder ein Treffer erzielt wird. Gesponsert wurde das Projekt von der Baumgart-Stiftung, der International Psychoanalytic Association, der Köhler-Stif­tung und der Münchener Universitätsgesellschaft.

Nun ist das alles weiß Gott nicht zum Lachen. Deswegen – bevor es so ernst weiter geht – zwischendurch etwas zur Aufheiterung. An der Bremer Jacobs University, einer internationalen, privaten, staatlich anerkannte Hochschule, arbeitet der Soziologe und „Glücksforscher“ Professor Dr. Jan Delhey. Er hat herausgefunden, dass das Glück im Alltag auf drei Säulen ruht: Haben, Lieben, Sein. Auch so ein Ergebnis, auf das man als normaler Mensch nie gekommen wäre. „Das Haben sind die materiellen Lebensbedingungen, das Lieben meint Partnerschaft und soziale Beziehungen, das Sein umschreibt das, was wir mit unserem Leben anfangen, wie aktiv wir sind, welche Ziele wir haben.“ „Wenn ein Pfeiler ganz weg bricht, ist es schwierig mit dem Glück“, hat Delhey erkannt. Aber man müsse nicht in allen drei Bereichen Spitze sein. „Es geht beim Glück nicht um Höchstleistung. Ein gesunder Dreiklang, der macht es auch.“ Leider verrät er nicht, worin sich ein „gesunder“ von einem „ungesunden“ Dreiklang unterscheidet. Macht nichts, ist sowieso alles Küchenpsychologie. Da halte ich mich lieber an Heinrich Heine:

Das Glück ist eine leichte Dirne,
Und weilt nicht gern am selben Ort;
Sie streicht das Haar dir von der Stirne
Und küßt dich rasch und flattert fort.

Frau Unglück hat im Gegenteile
Dich liebefest an’s Herz gedrückt;
Sie sagt, sie habe keine Eile,
Setzt sich zu dir an’s Bett und strickt.

Ein Genderforscher schaut auf die Vaterlosen

Ein anderer Soziologe, der Schweizer Walter Hollstein, der sich als Genderforscher an der Uni Bremen einen Namen gemacht und uns gerade in einem Buch mitgeteilt hat, „Was vom Mann übrig blieb“, dieser Walter Holstein also vermittelt uns einige wissenschaftliche Erkenntnisse über Jungen, die ohne Vater aufgewachsen sind. Jean-Paul Sartre etwa, der uns die dunkle Mitteilung hinterlassen hat: „Ich war ein Waisenkind ohne Vater. Da ich niemandes Sohn war, wurde ich meine eigene Ursache.“ Tröstlich oder deprimierend? Ich weiß es nicht. „Ein absenter Vater ist – so weiß die Therapeutik – eine lebenslange Quelle von Traurigkeit, Ärger, Verbitterung und Scham.“ Verdammt, da muss bei mir etwas schief gelaufen sein, denn bisher bin ich von derartigen Stimmungen verschont gewesen, von Sonderfällen natürlich abgesehen. „Wir wissen empirisch sogar mehr“, lässt uns Hollstein wissen, „Wir kennen inzwischen die folgende Gesetzlichkeit: Es gibt einen klaren Zusammenhang von Vater-Präsenz und gesunder Entwicklung des Sohnes auf der einen Seite und von Vater-Absenz und der Gefahr des Scheiterns auf der anderen. Zum Spektrum des Scheiterns gehören innere Verwahrlosung, Sucht, Kriminalität, Gewalt, Depression und Suizid der allein gelassenen Söhne.“ Einen Sonderfall stellt offenbar Franz Kafka dar. Er hatte zwar einen Vater, kam jedoch nicht klar mit ihm, weshalb er einen rund hundert Seiten langen „Brief an den Vater“ schrieb, diesen allerdings nicht abschickte.

Die Gegenposition hat die englische Autorin Maureen Green (geb. 1957, Mutter von vier Kindern, vermutlich in Eigenarbeit geschaffen) formuliert: „Ein toter Vater ist Rücksicht in höchster Vollendung.“ Das ist trotz der schönen Verpackung ein kaum zu überbietender Zynismus. Richtig dürfte aber sein, dass zwischen einem „absenten“ Vater und einem solchen, wie etwa Kafka ihn hatte, „wissenschaftlich“ kein Unterschied feststellbar sein dürfte. Und ich persönlich würde, wenn ich die Wahl hätte, mich in einem solchen Fall für den abwesenden Vater entscheiden.

Ob nun Kriegskind oder vaterlos oder gar beides: Nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung bleibt immer etwas hängen. Was das im Einzelnen ist, lässt sich nicht durch kollektive Untersuchungen klären, sondern ist stets eine Frage des einzelnen Menschen. Dessen Schicksal wird aber nicht nur von seinem sozialen Umfeld, von seinen frühkindlichen Erlebnissen, von Freude, Angst und Schrecken, von Erfolgen und Misserfolgen, von Hochs und Tiefs bestimmt, sondern auch von seiner genetischen Disposition. Das beste Beispiel hierfür ist für mich Oliver Twist, bei dem sich trotz fehlendem Vater und fehlender Mutter und trotz der widerwärtigsten Umstände, unter denen er aufwächst, die gute genetische Veranlagung durchsetzt. Gewiss, es ist eine literarische Kunstfigur. Aber Schriftsteller wissen oft mehr über das wirkliche Leben als Wissenschaftler, die vorgeben, es zu erforschen.

So gesehen, fühle ich mich keineswegs als armes Schwein, sondern blicke mit 77 Jahren auf ein Leben zurück, wie ich es mir schöner kaum vorstellen könnte.

Foto: National Geographic tumblr via Wikimedia Commons

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G. Horstmeier / 04.05.2018

Interessanter als der Gedanke, dass manche Kriegskinder Probleme haben, ist, wie viele ihre oft schwerwiegende Erfahrungen so gut wegstecken. Qualitative Forschung ist eigentlich dafür gedacht, mehr Einsicht in Themenfelder zu bekommen, worüber nicht viel bekannt ist. Einen ersten Einblick sozusagen om zu schauen welche Themen hochkommen. Es nützt ja nichts eine Umfrage zu beginnen, in dem wichtige Fragen außer acht bleiben. Es handelt sich also oft um einen Auftakt für mehr “klassische” Forschung. Ob der Ansatz sinnvoll ist bei einem Thema worüber schon soviel geschrieben wurde wie Kriegskinder ist die zweite Frage.

Karla Kuhn / 04.05.2018

“Ich habe spät begonnen, meine Persönlichkeit im Lichte dieser Biographie neu zu sehen und mein Leben neu zu lesen.”  Meine Güte, hat diese Frau nichts anderes zu tun ? Aus den meisten Kindern der Kriegs- und Nachkriegszeit sind verantwortungsvolle, bodenständige und autarke Menschen geworden. Wir haben vor allem eine interessante, kreative Kindheit verbracht und mußten zum großen Teil auch Verantwortung übernehmen.  Ich kenne niemand von meiner Generation, der das “Leben neu lesen muß”, sorry, aber mit solchen selbst gezimmerten Problemen befasse ich mich nicht.

Otto Nagel / 04.05.2018

Verdammt, warum hat man mir Kriegskind nicht gesagt, daß mir eine Laufbahn als Psychoanalytiker oder was mit Psycho zusteht, bei meiner Veranlagung !  So muß ich mich unter Palmen mit einer Cohiba und Lagavulin zufrieden geben ! Mist aber auch !

P. Werner Lange / 04.05.2018

Sehr geehrter Herr Grell, Dank für diese Betrachtung, die mir (geboren 1943 und sieben Jahre ohne Vater aufgewachsen, weil der damals im Umkreis von Swerdlowsk, heute Jekaterinburg, der sowjetischen Forstwirtschaft unentbehrlich war) wieder einmal meine Verachtung für viele Soziologen erhellt. Deren Forschungsergebnisse kann ich ohnehin nicht bereichern: Das Leben war schön, wunderschön, besonders dann, wenn man es sich selbst einbrocken konnte!

Werner Arning / 04.05.2018

In heutiger Zeit, in der das väterliche, das männliche Prinzip immer mehr infrage gestellt wird, stellt sich ebenso die Frage, ob die Väter zwar physisch anwesend sind, emotional jedoch ihre Bedeutung für die Kinder verloren haben. Denn das Kind muss wegen der gesellschaftlichen Ächtung des Männlichen möglicherweise auf den Vater „verzichten“. Der Vater wird zu einer Art zweiten Mutter. Zwei Mütter, die sich die Erziehung teilen. Im günstigsten Fall steht/stand der Vater für eine gütige, liebevolle, jedoch auch fordernde Strenge, die dem Kind den Rücken stärkt, es aber auch an die Härten des Lebens heranführt. Die Mutter beschützt und vermittelt bedingungslose Geborgenheit, der Vater ermuntert, sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen. Er verlangt etwas vom Kind. Er stellt Bedingungen für seine Liebe. Er fordert Anpassung an die Erfordernisse des Lebens. Wenn jedoch beide „nur noch“ beschützen, fehlt das Prinzip, welches hilft, das Leben verantwortlich und mutig zu bewältigen, welches hilft, aus dem Nest springen zu wollen, die Verwöhnung und das Beschützsein eintauschen zu wollen für das „Abenteuer“, welches eigenverantwortliches Leben heißt. Das „war“ einmal die „Aufgabe“ der Väter, vor allem im Hinblick auf ihre Söhne. Heute wird diese „Aufgabe“ nicht mehr so gesehen. Eltern sehen heute häufig ihre Aufgabe darin, Spielkameraden ihrer Kinder zu sein. Dafür zu sorgen, bei diesen keine Langeweile aufkommen zu lassen, sie möglichst perfekt zu „bespaßen“. Väter werden zu besseren Pausenclowns. Die „Abwesenheit“ der Väter ist möglicherweise zur Regel geworden.

Michael Limburg / 04.05.2018

Dank Ihnen lieber Herr Grell, weiß ich nun, dass auch ich ein doppelt armes Schwein bin. Mein Vater wurde im Februar 1945 in der Nähe von Königsberg mit einem Bauchschuß abgeschossen und starb qualvoll 6 Wochen später im Lazarett. Er liegt namenlos in Heiligenbeil mit einigen zehntausend andere begraben. Ich war da gerade in Berlin lebend 5 Jahre alt geworden. Meine Geschwister waren damals 6 und 8 Jahre alt. Den Endkampf um Berlin durften wir vom Balkon aus mit erleben. Dank der sehr wissenschaftlichen Studie, weiß ich nun, warum ich so bin wie ich bin. Ein eigentlich ganz erfolgreicher Mann, seit fast 55 Jahren mit derselben Frau verheiratet, die es trotz meiner kriegsbedingten Marotten, die ich allerdings so unterdrückte, das ich nicht mal selber weiß, dass ich sie habe, zwei erwachsenen schon seit längerem verheirateten Kindern und 3 prachtvollen Enkelsöhnen. Gut dass ich jetzt weiß dass das alles nur Fassade wahr. Damit ist mir sehr geholfen. Warum erinnert mich diese wissenschaftliche Arbeit nur so an gewisse Klimastudien? Wissen Sie’s?

E.R.Rath / 04.05.2018

Ich bin auch Kriegswaise. Jahrgang 1941. Vater 1943 gefallen. Erinnerungen an den Krieg: Keine, bis auf das brennende Hamburg bei der Ausbombung. Ich soll begeistert gewesen sein. Nächste Kriegserinnerung: ein schwarzer US-Soldat, der mir 1945 von einem Panzer herab weiße Schokolade schenkte. Die prägenden Jahre meines Lebens vom 5. bis 14. Lebensjahr wurden durch den Haushalt von vier Frauen, davon zwei Kriegerwitwen, in dem ich aufwuchs bestimmt. Nicht nur rückblickend war das die Hölle bei Nulltoleranz der Frauen zu meinen „männlichen“ Eigenheiten. Gott sei Dank hatte ich die Möglichkeit, und nahm die Gelegenheiten auch wahr, mich durch das Studium von Literatur jeglichen Genres zu einem Normalo zu erziehen. Der einzige Vorteil, den ich als einziger Sohn einer Kriegerwitwe hatte war der, dass ich den Dienst bei der Bundeswehr umgehen konnte. Ein Nachteil, den ich erst heute erkenne ist der, dass ich Nulltoleranz gegen die chillende Lebensauffassung der heutigen jüngeren Generation aufbringen kann. Auch verstehe ich die Beweggründe am Festhalten an der inzwischen mehrfach durchgelegenen sozialen Hängematte nicht. Und politisch erschüttert mich nichts mehr.

Gertraude Wenz / 04.05.2018

Wie schön, Herr Grell, dass Sie auf ein Leben zurückblicken, wie Sie es sich kaum schöner vorstellen könnten! Das freut mich für Sie. Danke für das köstliche und so wahre Gedicht von Heinrich Heine! Ich habe es mir gleich abgeschrieben. Was für ein wunderbarer feiner, trauriger Humor in dieser so hübsch verpackten Lebensweisheit! Statistiken sind oft zweifelhaft mit dann noch zweifelhafteren Auswertungen. Herr Krämer weist ja monatlich darauf hin, wie falsch man sie auslegen kann. Dass die vaterlos aufwachsenden Jungen öfter als andere kriminell werden oder sonstwie auffällig im negativen Sinn, hat bestimmt nicht hauptsächlich mit dem fehlenden Vater zu tun, sondern mit allerlei anderen Faktoren. Die für mich ausschlaggebendste ist die genetische Disposition, die ja inzwischen fast als anrüchig, biologistisch gilt. Zerbrochene Ehen, uneheliche Kinder, verantwortungslose Väter, wenig Bildung und geringe seelische Festigkeit kommmen sicherlich in allen Schichten vor, aber AUCH sicher häufen sie sich in bestimmten Gruppierungen, und das hat auch mit bestimmten Verhaltensweisen zu tun, die AUCH eine genetische Ursache haben. Die Umwelt tut dann das Ihrige dazu. DAS scheint mir die Ursache für die bedauernswerte Entwickung dieser Kinder zu sein. Ein wunderbarer unterstützender Vater ist ein Geschenk des Lebens. Aber lieber keinen als einen gewalttätigen, drangsalierenden und traumatisierenden Vater. Und davon gibt es nicht wenige. Es ist also nicht der fehlende Vater, sondern es ist ein ganzer, unentwirrbarer Kranz von Ursachen, an denen diese vaterlosen Menschen zerbrechen.

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