Thilo Sarrazin / 18.03.2024 / 06:15 / Foto: Achgut.com / 121 / Seite ausdrucken

Abstieg im Land der Tüftler und Denker

2010 hatte ich in „Deutschland schafft sich ab“ die Fortsetzung des Verfalls der Bildungsleistung prognostiziert. Es kam tatsächlich noch schlimmer.

Vor einigen Tagen stieg ich morgens um elf Uhr am Bahnhof Zoo aus der U-Bahn-Station ans Tageslicht, um über den Breitscheidplatz zum Kurfürstendamm zu gehen. Mein Blick traf durch eine Fensterfront auf mir unbekannte Automodelle. Das dort angesiedelte Schuhgeschäft war verschwunden, der Berliner Flagship-Store von Görtz war der Einzelhandelskrise zum Opfer gefallen. Ich trat näher, das Kind im Manne wurde wach. Ein freundlicher junger Mann erspähte mich durch die Panoramascheibe, eilte hinaus, und unversehens sass ich im ET7, dem Spitzenmodell des chinesischen Autoproduzenten Nio, auch die anderen beiden ausgestellten Modelle, SUV und Mittelklasse, probierte ich aus. Verarbeitung vom Feinsten, und durch das Batteriewechselkonzept des Herstellers schien auch das Ladeproblem lösbar. Die Leasing-Konditionen mit Servicepaket waren sehr ansprechend.

Ich hatte mir ja fest vorgenommen, unseren zehn Jahre alten dieselgetriebenen BMW SUV noch für zehn Jahre weiterzufahren. Bei sechs Liter Verbrauch ist der Betrieb auch dann noch günstig, wenn künftig steigende CO2-Abgaben den Liter-Preis auf drei Euro treiben. Und 900 km Reichweite – ohne Tankpause von Berlin nach Zürich – sind auch nicht zu verachten.

Als ich den Nio-Showroom verließ, war mir gleichwohl klargeworden, wie schwer es die deutsche Autoindustrie künftig haben wird: Ohne Verbrennungsmotor hat sie keinen technischen Vorsprung mehr. Der Schwerpunkt der Wertschöpfung verlagert sich in Richtung Batterie und Elektronik, also dahin, wo China und die USA besonders stark sind: Wird es den deutschen Autoherstellern so ergehen wie den britischen vor sechzig Jahren?

Und es ist ja nicht das einzige Problemfeld: In der Kernenergie hat sich Deutschland, einst weltweit führend, selbst aus dem Spiel genommen. In der Grundstoffindustrie und bei allen energieintensiven Produktionen fehlt es zunehmend an sicher verfügbarer preisgünstiger Energie, der Standort wackelt. Kann die deutsche mittelständische Industrie das alles auf die Dauer ausgleichen?

Die Bildungsleistung ist entscheidend – und sinkt dramatisch

Die Optimisten setzen ungebrochenes Vertrauen in deutschen Einfallsreichtum und Tüftlergeist, und auch ich möchte das gerne glauben. Schön und anheimelnd ist die Idee, dass der wichtigste natürlich nachwachsende Rohstoff für die deutsche Wirtschaft die geistigen Gaben der Kinder und Jugendlichen sind, die in unseren Kindergärten und Schulen heranwachsen und sodann an den deutschen Universitäten auf internationales Höchstniveau getrimmt werden. Da macht es auch nichts, dass mittlerweile 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen einen Migrationshintergrund haben, während der Anteil der „Bio-Deutschen“ fortlaufend sinkt. Entscheidend ist doch nicht die ethnische Herkunft, sondern die Bildungsleistung!

Richtig, die Bildungsleistung ist entscheidend, und an genau diesem Punkt sollten die Alarmsirenen schrillen. Aus Pisa 2018 ergibt sich, dass in den Ländern Ostasiens der Anteil der Schüler mit Spitzenleistungen in Mathematik und Naturwissenschaften rund dreimal so hoch liegt wie in Deutschland.

Kürzlich machte die Meldung die Runde, dass an einer Grundschule in Ludwigshafen ein Drittel der Kinder das erste Schuljahr wiederholen muss, weil es an elementaren Voraussetzungen fehlt. Dabei sind unter den Ursachen sozialer Hintergrund, ethnische Herkunft und Migrationsgeschichte untrennbar vermischt. Als skandalträchtiger Einzelfall ist dies aber quasi nur die Spitze des Eisbergs.

Für 2021 ergab die im Auftrag der Kultusminister durchgeführte IQB-Länderstudie über die Leistungen der Schüler im vierten Schuljahr, dass bundesweit in Mathematik nur noch jedes zweite Kind die Anforderungen bewältigt, die dem Regelstandard entsprechen und jedes fünfte Kind selbst die Mindeststandards verfehlt. Das sind doppelt so viele wie zehn Jahre zuvor. Besonders dramatisch sinken die Spitzenleistungen, auf die Deutschland als rohstoffarmes Land vor allem angewiesen ist. Ähnlich verheerend war die Entwicklung der Leistungen in Lesen und Rechtschreibung. Von dieser negativen Tendenz bleibt kein deutsches Bundesland verschont.

2010 hatte ich in „Deutschland schafft sich ab“ die Ursachen für den Verfall der Bildungsleistung analysiert und die Fortsetzung dieses Negativtrends prognostiziert. Es kam tatsächlich noch schlimmer, und dies wird durch die aktuellen Studien quasi amtlich  bestätigt.

Dieser Beitrag erschien zuerst in Die Weltwoche.

 

Dr. Thilo Sarrazin, geb.1945 in Gera, aufgewachsen in Recklinghausen. Er studierte Volkswirtschaftslehre in Bonn. Er bekleidete zahlreiche politische Ämter und war unter anderem von 2002 bis 2009 Senator für Finanzen im Land Berlin. Sein im August 2010 erschienenes Buch „Deutschland schafft sich ab“ löste eine anhaltende Diskussion aus und wurde zum meistverkauften deutschen Sachbuch seit 1945.

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G. Männl / 18.03.2024

1/3 die die erste Klasse nachholen müssen. Wo ist da jetzt Dunkel-Deutschland zu verorten?

A. Buchholz / 18.03.2024

Ein kompletter Sarrazin-Artikel ohne AfD-Bashing. Glückwunsch!

L. Luhmann / 18.03.2024

@“Dr. Gerhard Maus / 18.03.2024 ”(...) Seitdem ist Herr Sarrazin persona non grata im Deutschen (!) Fernsehen - wie inzwischen wohl auch Prof. Hans-Werner Sinn. (...)”—- Der vermutlich durchgeboosterte Herr Prof. Hans-Werner Sinn ist auch ein vollständig überzeugter Klimagläubiger. Ich meine mich erinnern zu kōnnen, dass er Greta gegenüber Sympathien hegte.

B.Kroeger / 18.03.2024

Welchen Stellenwert hat Bildung denn heute in unserer Gesellschaft? Sieht sich manche Schule heute nicht eher als eine Art Jugendzentrum? Die mediale Dauerberieselung klammert Bildung ebenfalls weitgehend aus. Bildung muss gewollt sein, ist das noch so?

Matthias Popp / 18.03.2024

@Harald Hotz: ... and pigs can fly ...

Hubert Romero / 18.03.2024

Nur eine kleine Randnotiz: Auf YT ist ein Video zu sehen. Tausende Schüler einer Privatschule (!) stehen in Reih und Glied stramm im Hof. Vor Ihnen ein Uniformierter, der Handys von Schülern zertrümmert. An dieser Schule sind Handys verboten. Warum wohl? Weil Handys Kinder und Jugendliche dumm machen (nicht meine Erkenntnis, siehe Prof. Spitzer u.a.) und daher in der Schule erst recht nichts verloren haben.

Dr. Gerhard Maus / 18.03.2024

Es ist bezeichnend, dass es nirgendwo - oder habe ich da was verpasst? - im öffentlich-rechtlichen TV eine Nachschau nach 10 Jahren “Deutschland schafft sich ab” gegeben hat. Wenn die Prognosen von Herrn Sarrazin NICHT eingetreten wären, hätte es eine solche Nachschau mit Sicherheit gegeben. - Ich kann mich noch sehr gut an die Talkshow bei Beckmann erinnern (= kurz nach der Veröffentlichung des “Skandalbuches”, dessen Lektüre die damalige Bundeskanzlerin - auch ohne es gelesen zu haben - als “nicht hilfreich” ansah), bei der ALLE (einschließlich Beckmann!) auf den tapfer kämpfenden Sarrazin regelrecht eindroschen. Es war eine Sternstunde des “Haltungsfernsehens”. Seitdem ist Herr Sarrazin persona non grata im Deutschen (!) Fernsehen - wie inzwischen wohl auch Prof. Hans-Werner Sinn. Sarrazin und Sinn hat man intellektuell nichts entgegenzusetzen, und ihre Thesen passen nicht in das heute politisch korrekte Weltbild. Armselig ...

Talman Rahmenschneider / 18.03.2024

Herr Sarrazin, Sie haben gewiss Recht. Dennoch möchte ich anmerken, dass die Mathe-Leistungen der Migrantenkinder in dem Moment schlagartig besser würden, in dem man diese niederträchtigen Textaufgaben abschaffen und mit mathematischen Instrumenten arbeiten würde, Rechnungen, Gleichungen, Formeln, die für jede Sprachherkunft gleich verständlich oder unverständlich sind. Haben Sie diese lächerlichen, unverständlichen, verschwurbelten Textaufgaben mal angesehen? Z.B. 1. Paul will sich ein Rennrad kaufen. Es kostet 895 Euro. 631 Euro hat er schon gespart. Ab Januar spart er an jedem Monatsanfang 26 Euro. Zum Geburtstag am 27. September bekommt er von seiner Omi noch das fehlende Geld geschenkt. Wie viel Geld erhält er von Omi? Übersetzung 895 minus 631 minus 9 mal 26 gleich 30. “Omi” - oh Gott - gibt 30 Euro. Omi ist arm oder geizig. Wozu denn der Text? Und wer von diesen Bildungsfernen kann denn für ein Rennrad sparen? Krank. Übrigens war das eine leichte Textaufgabe. Es gibt echte Hämmer. Ich habe einen Tip, wir man den dt. Pisaschnitt noch verschlechtern könnte: Viel gendern.

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