Gastautor / 26.05.2019 / 06:27 / Foto: Pixabay / 18 / Seite ausdrucken

Wenn Oligarchen ihre Macht verlieren

Von Wolfgang Sofsky.

Nicht die Revolution schwächt die Repräsentation, sondern der Autoritätsschwund der Stellvertreter. Die Dekadenz der Machtelite stärkt den Aufstand. Revolutionen brechen aus, wenn die Macht auf der Straße liegt, weil die alte Elite nicht mehr Herr im eigenen Hause ist. Sie hat ihr manipulatives Geschick verloren, ihr Selbstvertrauen, ihren Zusammenhalt oder ihre Handlungsfähigkeit. Sie wirkt untätig und schwach, die Finanzmittel drohen auszugehen, die Leistungen, die ihr bislang Legitimität verschafft haben, bleiben aus. Immer tiefer verstrickt sie sich in diplomatische Wendemanöver. Weder sorgt sie für die Selbsterhaltung der Gruppe, noch repräsentiert sie einen kollektiven Willen. Ihre Aktivitäten schützen nur noch die eigenen Privilegien. Die Elite spricht und handelt nur mehr für sich selbst. 

Der Unfähigkeit entspricht die soziale Isolation. Eliten, die kurz vor der Abdankung stehen, sind im Begriff, die äußere und innere Unterstützung zu verlieren. Die Marionetten werden fallen gelassen, der Apparat zieht sich zurück, die mittleren Ränge weigern sich, Befehle auszuführen, die Fachleute halten ihre Expertisen zurück, die Parteisoldaten sabotieren die Eintreibung der Beiträge und die Mobilisierung der Mitglieder. Stäbe und Gremien kündigen die Mitwirkung auf, die Hilfstruppe schrumpft auf die Palastgarde zusammen, die Organisation, welche die Oligarchie getragen hat, ist paralysiert. 

Die Agonie des Apparats schafft ein Handlungs- und Machtvakuum, in das die Aufständischen hineinstoßen können. Dass in Eliten, die dem Untergang geweiht sind, die Füchse über die Löwen, die Diplomaten und Manipulateure über Polizei und Militär obsiegt haben, hat seine Ursache in der strukturellen Schwäche einer Repräsentation, welcher der organisatorische Unterbau bereits abhanden gekommen ist. Zur Repression, welche die Opposition niederhalten, die Unbotmäßigen aus dem Verband jagen und die aufflackernden Feuer austreten könnte, reichen einfach die Zwangsmittel nicht mehr. 

Elitenzirkulation ist notwendig

Es ist nur die Kehrseite dieses Prozesses, wenn sich die Elite mehr und mehr nach außen abschließt und in den Bunker zurückzieht. Vertretung verliert ihre öffentliche Qualität, sie verkommt, sofern sie überhaupt noch stattfindet, zur Privatsache. Der Kontakt zwischen Repräsentanten und Repräsentierten bricht ab. Petitionen, Klagen, Bitten erfahren keine Resonanz mehr. Damit ruiniert die Oligarchie das System, das sie trägt. Im Zustand des Schweigens ist sie kein Adressat mehr für Wünsche, Ansprüche oder Protest. Wenn die Vertreter nicht mehr reagieren, ja sogar glauben, ihre Passivität nicht einmal rechtfertigen zu müssen, wird es für die Vertretenen sinnlos, Appelle an sie zu richten. Es ist nicht nur so, dass sich die Repräsentanten ihrer politischen Pflichten entledigen. Mit ihrer Ignoranz stoßen sie die Rebellen auf sich selbst zurück. Und nichts schürt die Unzufriedenheit mehr, als dem Protest mit blasierter Missachtung oder väterlicher Beschwichtigung zu begegnen.

Indem sich die Oligarchie in eine geschlossene Kaste verwandelt, verliert sie die Fähigkeit, die Führer der Opposition rechtzeitig in ihren Kreis aufzunehmen, gegenläufige Strömungen aufzusaugen und die interne Elitenzirkulation in Gang zu halten. Oligarchien, die ihre Systemgrenzen offen halten und Wettbewerb zulassen, haben meist keine Revolution zu fürchten. Rivalität und Wettbewerb binden die Kraft der Konkurrenten und sichern die formale Stellung der Vertreter. Konkurrenz koppelt das Publikum an seine jeweiligen Führer, die ihren Gefolgsleuten Aufstiegschancen versprechen. Elitenzirkulation beschränkt sich nämlich in der Regel keineswegs auf den Wechsel des Spitzenpersonals. Sie versorgt auch den Tross der Anhänger mit neuen Ämtern, Aufgaben und Privilegien. Ohne eine Gefolgschaft kann niemand aufsteigen. Und wenn derjenige oben ist, wollen die Anhänger auch entlohnt werden, mit Posten, Pensionen, Gesten der Dankbarkeit. Treue und Loyalität fallen ungleich leichter, wenn es ein materielles Entgelt gibt. Wird dieser soziale Mechanismus jedoch durch Intransigenz angehalten, schaufelt sich das alte Regime sein eigenes Grab.

Undurchlässige Standesschranken versperren den friedlichen, legalen Weg der Veränderung. Geschlossene Reihen und eingehegte Privilegien blocken die Aufsteiger ab und treiben sie in den Widerstand. Die Elite verspielt die Chance, neuen Bedürfnissen vorzugreifen und die Politik daran anzupassen. Revolutionen haben zunächst keine andere Funktion, als den Kreislauf der Eliten und ihrer Anhängerschaft gegen das alte Regime erneut in Gang zu setzen und die Macht neu zu verteilen. 

Dies ist ein Auszug aus: „Macht und Stellvertretung“ von Wolfgang Sofsky, 2019, hier bestellbar.

Wolfgang Sofsky, geboren 1952, lehrte als Professor für Soziologie und Anthropologie an den Universitäten Göttingen und Erfurt. Seit 2001 arbeitet er als Schriftsteller und politischer Kommentator. 1993 erhielt er den Geschwister-Scholl-Preis für sein Buch „Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager“, 2015 den Holbach-Preis für sein Lebenswerk. Seine Bücher wurden in über zehn Sprachen übersetzt. Seinen Blog „Aufklärungen“ finden Sie hier.

Foto: Pixabay

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Matthias Braun / 26.05.2019

” Nicht die ans Licht gekommenen Wahrheiten fördern Revolutionen, sondern Wahrheiten, die unterdrückt wurden.” ( Lucius Annaeus Seneca )

R. Nicolaisen / 26.05.2019

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