Ahmet Refii Dener, Gastautor / 02.12.2022 / 16:00 / Foto: ARD / 33 / Seite ausdrucken

Türkischer Facharbeiter verpasst das Achtelfinale

Die Bundesregierung hat sich ein Punktesystem ausgedacht, nach dessen Kriterien die dringend benötigten Facharbeiter künftig ausgesucht werden sollen. Realitätsfremder kann man kaum vorgehen.

Die Bundesregierungen kommen und gehen, und immer wieder heißt es: Fachkräftemangel. Wieder hat man sich etwas ausgedacht, das viel einfacher sein soll als das, was bis jetzt da war. Allein, wenn ich höre, dass da ein Punktesystem eingeführt wird, wonach sich einer mit mehr Qualifikation, wie zum Beispiel Deutschkenntnissen, Deutschlandkenntnissen, Abschlüssen, Diplomen etc. eine höhere Punktzahl ergattern kann, denke ich mir … Ach, du Schei***e! Schon wieder bürokratische Spielchen, die allen wieder alles erschweren werden.

Ich erzähle Euch mal von einem türkischen Maschinenarbeiter, einem Guru, den ich live in Aktion erlebt habe. Ein türkischer Unternehmer kauft eine Produktionslinie bei einem deutschen Hersteller. Er holt sich Angebote für die Demontage in Krefeld und die Montage in der Türkei ein. Ihn trifft fast der Schlag. Über 600.000 Euro soll es kosten. Sofort ruft er seine Mitarbeiter an: „Versucht mal für Mehmet Usta (das zweite Wort heißt Meister), ein Visum zu holen. Er soll sich mal die Anlage anschauen, ob er was machen kann.“ Nach drei Wochen der Antragstellung und Bemühungen weiß man, dass er kein Visum bekommen wird. Wahrscheinlich stellt er neben den Millionen Flüchtlingen in Deutschland eine ganz besondere Gefahr dar.

Am Ende holt man für ihn ein Schengen-Visum von der polnischen Botschaft, und Meister Mehmet reist über Polen nach Deutschland ein. Er schaut sich die 50 Meter lange Produktionsstraße an und sagt: „Olur!“ – bedeutet: „Geht in Ordnung!“ Für sieben weitere Mitarbeiter holt man Schengen-Visa. Allesamt reisen sie über Polen ein und fahren mit dem Auto weiter nach Deutschland.

Keine Schraube fehlte

Die Demontage ist nach circa drei Wochen erledigt. Gekostet hat sie, wenn wir von den Monatslöhnen der anwesenden Mitarbeiter ausgehen, circa 3.000 Euro. Rechnen wir noch Hotel und Spesen dazu, sind wir bei circa 8.000 Euro. Jetzt kommen wir zu Meister Mehmet und seinem Team. Ich liste Euch hier auf, welche Berufsabschlüsse er hat: keine. Ich liste Euch die Sprachen auf, die er spricht: gebrochenes Türkisch.

Nach dem neuen Punktesystem der Bundesregierung hätte der Facharbeiter auf der nach oben offenen Skala die Punktzahl: null! Er hat sich aber die Produktionsanlage angeschaut, demontiert und montiert. Es klappte sogar. Noch wichtiger ist, weil mir das zum Beispiel immer passiert: Keine Schraube blieb übrig oder fehlte.

Meister Mehmet ist ein Mann, wie es sie zu Zehntausenden in der Türkei gibt. Die deutsche Wirtschaft braucht sie händeringend. Wie ich von einigen Arbeitgebern weiß, würden sie solche Mitarbeiter sofort nehmen, aber der Haken ist: Sie haben es nicht einmal bis zum bürokratischen Achtelfinale geschafft und sind mit null Punkten ausgeschieden.

Im Türkischen gibt es einen Spruch für einen, der als nicht schlau genug angesehen wird. „Er muss noch vierzig Bäckereien leer fressen, bis er das kann!“ Auch wenn trocken Brot nicht gerade intelligenzfördernd ist, sagt man das halt. Der Bundesregierung sage ich nichts. Weiter so! Der Holzweg ist unendlich lang, und die deutsche Bürokratie braucht neue Nahrung.

 

Dr. Ahmet Refii Dener arbeitet als Berater mit dem Schwerpunkt Türkei. 2017 ist „ARD“, wie er sich nennt, nach Berlin gezogen. 

Foto: ARD

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Ludwig Luhmann / 02.12.2022

Wir brauchen keine Mehmets in Deutschland. Und in der Türkei braucht es auch keine Michel.

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