Karl Detroit, ein 1827 geborener Brandenburger Hugenotte, heuerte mit 16 Jahren als Schiffsjunge an und floh in Istanbul von Bord. Er konvertierte zum Islam und machte beim osmanischen Militär Karriere. Und wurde der Urgroßvater des bedeutendsten türkischen Dichters, Nâzim Hikmet.
„Wenn du nicht brennst, wenn ich nicht brenne, wenn wir nicht brennen, wie wird die Dunkelheit ans Licht kommen?“
Das Zitat stammt von Nâzım Hikmet (Ran, 1902-1963), einem türkischen Dichter und Dramatiker. Er gilt als Begründer der modernen türkischen Lyrik und als einer der bedeutendsten Dichter der türkischen Literatur.
Er war ein Freigeist und ein ewig Andersdenkender. Das wird der Grund sein, weshalb ich ihn so verehre. Zeit seines Lebens war er entweder im Gefängnis oder im russischen Exil. Dort verstarb er auch.
Karl kommt in Istanbul an
Im Jahre 1827 kommt in Brandenburg ein Junge namens Karl auf die Welt. Karl war hugenottischer Abstammung und der Sohn des preußischen Hofmusikers Carl Friedrich Detroit und dessen Ehefrau Henriette Jeanette Severin.
Nach dem Besuch der Grundschule wechselte Ludwig Karl Friedrich Detroit auf das Domgymnasium Magdeburg. In der Tertia (vor der „mittleren Reife“) brach er die Schule ab und versuchte sich in einer kaufmännischen Ausbildung.
Danach heuerte Karl Detroit auf einer mecklenburgischen Brigg als Schiffsjunge an, laut manchen Quellen schon im Alter von zwölf Jahren. Als er 16 war, lag sein Schiff im Hafen von Istanbul, und er flüchtete er mit einem Sprung ins Wasser. Er schwamm zum Leanderturm (Kiz Kulesi), einem der Wahrzeichen von Istanbul. Zufällig wurde er vom späteren Großwesir Ali Pascha gerettet, der ihn in seine Obhut nahm. Bis zum Tod des Paschas 1871 blieb dieser Karls Gönner.
Wer zum Islam konvertiert, muss auch den Namen aufgeben
Karl Detroit konvertierte danach zum Islam, nahm den Namen Mehmet Ali an und wurde auf Vermittlung des Paschas 1846 mit 19 Jahren an einer osmanischen Kadettenschule angenommen; ein Umstand, der beinahe zu einem Politikum geriet, da die preußische Gesandtschaft für den Deutschen Bund offiziell bei der osmanischen Regierung protestierte.
Ab jetzt hieß Karl Detroit „Karl Mehmet Ali“. Mehmet Ali kämpft einige Zeit später neben dem Osmanischen Herrscher Abdülhamit II. in Bosnien, Bergkarabach, auf der Krim und so weiter. Er bekam den Pascha-Titel. Mehmet Ali Pascha war einer der drei Osmanischen Vertreter bei der Unterzeichnung des Berliner Vertrages von 1878. Er sprach neben seiner Muttersprache Deutsch noch Französisch, Griechisch, Persisch, Arabisch und dichtet sogar in diesen Sprachen.
Er hatte vier Töchter. Eine der Töchter, nämlich Leyla, gebar wiederum eine Tochter, die Celile hieß. Celile bekam ihrerseits einen Sohn – den großen türkischen Dichter Nâzim Hikmet. Wie man sehen kann, gab es neben den Fabeln auch wahre Geschichten um den Mädchenturm (Kiz Kulesi, Leanderturm) von Istanbul. Wenn Karl nicht am Mädchenturm gerettet worden wäre, gäbe es den großen Nâzim nicht.
Hier ein Gedicht von Nâzim Hikmet, ins Deutsche übersetzt. Das Gedicht ist damals wie heute aktuell. Nâzim stellt „den Menschen“ als die merkwürdigste Kreatur der Welt hin, der dem Mainstream und der Obrigkeit ohne zu hinterfragen widerstandslos folgt.
Der Welt merkwürdigste Kreatur
Wie ein Skorpion bist du, mein Freund
in der angsterfüllten Finsternis gefangen, einem Skorpion gleich.
Wie ein Spatz bist du, mein Freund
so furchtsam und hastig, einem Spatzen gleich.
Wie eine Muschel bist du, mein Freund,
fest verschlossen, einer Muschel gleich, sorglos und zufrieden.
Und wie ein erloschener Vulkanschlund, schrecklich bist du, mein Freund.
Du bist nicht einer allein,
ihr seid nicht fünf,
Hunderte Millionen zählt ihr, ja, bedauerlich.
Wie ein Hammel bist du, mein Freund,
sobald der Viehhändler in seiner Felljacke den Knüppel schwingt,
bist du längst in die Herde eingereiht.
Und voller Stolz schreitest du zur Schlachtbank hinauf.
Will sagen, der Welt merkwürdigste Kreatur bist du, mein Freund.
Noch viel merkwürdiger als jener Fisch,
der im Meere lebt, es doch kein Bisschen kennt.
Und all dies Unrecht und Leid auf dieser Welt
ist nur möglich, weil du es zulässt.
Und wenn wir nun Hunger leiden, zerschunden sind, blutüberströmt,
und wenn wir noch immer wie Trauben zerquetscht werden, um Wein zu sein
der Grund bist du.
– Dies zu sagen, bring ich kaum übers Herz –
Die Hauptschuld, mein lieber Freund, trägst du!
(Nâzım Hikmet Ran, Original: „Dünyanın En Tuhaf Mahluku“)
Ins Deutsche Übertragen von meinem lieben Freund Danyal Nacarlı, Hamburg, der diese Kunst beherrscht wie kein anderer.
Des Landes zerstückelter Leib
Hier noch eine Anekdote über Nâzim, wie er die Türkei an den Pranger stellt.
Aus Ankara trafen Inspektoren ein, sie wollten das Gefängnis in Bursa inspizieren. Nach einigen Tagen der Inspektion saßen sie bei einem Kaffee im Zimmer des Gefängnisdirektors. Der Chefinspektor sagte: „Der Nâzım soll herkommen, ruf ihn doch mal, dass wir auch mal sehen, was er für einer ist.“
Nâzım wurde ins Zimmer des Direktors gebracht. Der Chefinspektor, bereits auf dem Sessel des Gefängnisdirektors sitzend, schaute sich Nâzım von oben bis unten an. „Du bist also der Nâzım.“ Ihm wurde kein Platz angeboten, er musste während des kurzen Gespräches immer stehen. „Sie können gehen!“, hieß es danach.
Gerade, als er das Zimmer verlassen wollte, drehte sich Nâzım um und fragte den Inspektor: „Kennen Sie Ömer Hayyam?*“ (persischer Dichter, Mathematiker und Astronom, Anm.) Der Inspektor ganz forsch: „Wer kennt Hayyam nicht!“ Nâzım entgegnete: „Wer war denn der Premier damals im Iran, zu Zeiten von Hayyam?“ Der Inspektor war verdutzt und wusste keine Antwort.
Nâzım führte weiter aus und sagte: „Sehen Sie, den Künstler kannten Sie, aber den Regenten nicht. In späteren Jahren, wenn es mich nicht mehr gibt, wird die Welt über mich reden und niemand wird wissen, wer der Justizminister zu meiner Zeit war.“ Danach verließ Nâzım das Zimmer und ging.
Der Inspektor merkte nach kurzer Zeit, dass er einen Fehler gemacht hatte und begnadigte Nâzım. Dieser betätigte sich weiter als Dichter, obwohl er später erneut verhaftet wurde.
1913, als Elfjähriger, hatte er „Heimatklage“ geschrieben. Es gilt als sein erstes Gedicht:
Es war ein nebliger Morgen
Ein Dunst schlug die Gegend in Bann
Von ferne stöhnte es ach aman (Wehklagen)
Hör zu! Deine Heimat wehklagt hier
Hör auf dein Gewissen und handle so
Des Landes zerstückelter Leib
Erwartet Hoffnung von dir.
Der Elfjährige entwirft darin sein Lebensprogramm, indem er sein zentrales Thema vorwegnimmt: die Tragödie des Landes, die zugleich die eigene sein wird. Das mag der Grund dafür sein, dass ich mich ihm so nah und verbunden fühle.