Mein Sohn kam erst als Teenager und ohne Sprachkenntnisse nach Deutschland. Nach der Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann macht er nun eine Umschulung auf Fachinformatik-Anwendungstechnik und besucht nebenbei eine Programmier-Schule. Ich bin wahnsinnig stolz auf ihn, in der Türkei sind aber alle entsetzt, dass er nicht studiert.
„Was wird Ihre Tochter studieren?“ Die Mutter: „Wir haben ihr geraten, Rechtsanwältin zu werden, es ist ein angesehener Beruf, wie Sie wissen.“ Wie kann man als Eltern zu einem Beruf raten, wenn man nicht einmal weiß, ob die Tochter oder der Sohn überhaupt Interesse daran haben? In der Türkei gilt es als Makel, wenn die Kinder über die Berufsschule einen anständigen Beruf erlernen und garantiert nicht arbeitslos bleiben. Denn wer nicht studiert, so glauben die Eltern und die Gesellschaft auch, ist ein Niemand. Doch auch in der Türkei gibt es einen Fachkräftemangel, besonders in den handwerklichen Berufen.
Da meine Frau meine Beiträge nicht liest, kann ich die folgende Geschichte erzählen. 2017 hatte ich den Staate Erdogan wegen meiner Kritik an ihm verlassen müssen. Frau und Kind folgten ein Jahr später. Mein Sohn kam in die 8. Klasse einer Regelschule und das mit null Deutschkenntnissen. Ich wusste, dass er mit dem Deutsch, das er in der Klasse von seinen Klassenkameraden aufschnappte, die sowieso vor allem Türkisch sprachen, nicht weiterkommen würde. Ich schlug ihm vor, nach seinem Schulabschluss zunächst etwas Einfaches wie eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann zu absolvieren. Obwohl wir wussten, dass er voll mit Wissen war.
Seine Lehrerin auf der Mittelschule sagte sogar, dass man ihm, abgesehen vom Sprachlichen, bis zum Ende der 10. Klasse nichts beibringen könne, weil er mehr wüsste als verlangt war. In der Türkei hatte er nur bis zum Ende der 7. Klasse die Schule besucht. Aber so ist das dort in den Privatschulen – die Kinder bekommen schnell viel eingetrichtert. Im Wettbewerb zueinander überschlagen sich die Privatschulen. 1971 war es bei mir auch nicht anders, als ich nach Deutschland kam. Als ich in der 7. Klasse auf dem Gymnasium war, war ich vom Wissenstand her viel weiter als die anderen. Nur sprach ich eben kein Deutsch, genauso wie mein Sohn.
Mittlerweile hat er gute Deutschkenntnisse. Er ist Einzelhandelskaufmann und macht derzeit eine Umschulung auf Fachinformatik-Anwendungstechnik und ist erst 18 Jahre alt. Ohne mich, der sich in Deutschland gut auskennt, wäre er hier verlorengegangen. Ich möchte mir nicht selbst auf die Schulter klopfen, sondern nur aufzeigen, wie schwierig es andere Kinder haben müssen, die keine so engagierten Eltern haben wie uns.
Die Weitsicht brachte es mit sich, dass mein Sohn jeden Samstag vier Stunden lang eine Coding-School, also eine Programmier-Schule, besucht. In drei Monaten wird er Junior-Programmierer sein, parallel zu seiner jetzigen Berufsausbildung. Nach der 7. Klasse in der Türkei wollte er testen, wie gut sein Englisch ist. Auf Anhieb schaffte er ein B2-Zertifikat. Jaja, ich höre jetzt auf, mit meinem Sohn anzugeben. Eigentlich sollte sein bisheriger Ausbildungsweg nur die Einleitung zu dem sein, was ich eigentlich berichten wollte.
Der Mutter ist es peinlich, dass er keine Uni besucht
Während ich ein stolzer Vater bin, ist meine Frau in Bezug auf den Werdegang unseres Sohnes sehr türkisch und bemerkt nicht annähernd, was für einen Prachtburschen wir im Hause haben. Immer wenn sie mit ihren Freundinnen aus der Türkei telefoniert und die Frage aufkommt: „Welche Uni besucht dein Sohn?“, fängt sie zu stottern an. Ihr ist es peinlich, dass unser Sohn keine Uni besucht, wie das in der Türkei der Fall gewesen wäre, wenn wir dort immer noch leben würden.
Ich sage ihr, dass ihr das nicht peinlich sein muss, zumal unser Sohn beruflich viel weiter sein wird als Gleichaltrige in der Türkei. In zwei Jahren wird er zwei Berufe in der Tasche haben und als Fachinformatiker recht gut verdienen, während andere noch in der Türkei die Schulbank drücken, um am Ende entweder arbeitslos oder aber branchenfremd arbeiten werden. Sie packt es nicht. In ihrem Weltbild ist es ein Makel. Unvermittelt sagt sie ihm schon mal: „Wenn du wolltest, könntest du anschließend noch die Uni besuchen und studieren.“ Wir, ich und mein Sohn, antworten nicht mehr darauf.
Nun kommen wir zu den Rechtsanwälten. Die Ausbildung an der türkischen Uni dauert tatsächlich meistens nur zwei Jahre. Vielleicht, weil in der Türkei kein Recht gesprochen wird? Da fällt mir der Witz ein, dass sich der türkische Justizminister und der Kriegsminister aus der Schweiz unterhalten. Der türkische Minister fragt: „Warum braucht die Schweiz einen Kriegsminister, wo sie doch immer neutral bleibt?“ Der Schweizer Minister antwortet: „Wozu braucht die Türkei einen Justizminister, wo doch kein Recht gesprochen wird?“
Das dicke Ende kommt nach dem Studium
Derzeit soll es 175.533 Rechtsanwälte in der Türkei geben (stand 31. Dezember 2022, laut Rechtsanwaltskammer). In Deutschland soll es 130.000 Rechtsanwälte geben, aber mit einem Unterschied: Die Zahl der Rechtsanwälte steigt nicht so rasant wie in der Türkei. Im Jahr 2018 gab es dort nur 105.000 Rechtsanwälte. In vier Jahren eine Zunahme von 70.000 ist schon gewaltig. Allein in Istanbul gibt es 59.274 Rechtsanwälte (Stand wieder 12/2022 laut Rechtsanwaltskammer).
Derzeit gibt es jedes Jahr im Schnitt 17.000 neue Rechtsanwälte, zumeist Rechtsanwältinnen. Auch diese Zahl steigt von Jahr zu Jahr um 1.000 neue Absolventen an. Es ist einfach erklärt, warum das so ist. Eine Fakultät für Rechtswissenschaften in eine Universität zu integrieren ist denkbar kostengünstig und die Nachfrage nach dem Beruf ist recht groß. Wie sagte einer der angesehensten Rechtsanwälte der Türkei: „Vier Klassen mit 50 Stühlen, vier schwarze Tafeln und schon können sie loslegen.“
Durfte man 1983 in nur fünf Universitäten der Türkei Jura studieren, so konnte man das 2018 bereits an 120 Universitäten. Ich weiß, die Zahl der Unis lässt einen staunen, aber jeder, der die Finanzmittel dazu hat, eröffnet eine Universität in der Türkei. Qualität spielt dabei eine untergeordnete Rolle, ist auch kaum zu realisieren, zumal die Lehrkräfte fehlen, aber es geht ja sowieso um die Quantität und dass die eigenen Familienmitglieder darin unterkommen.
Als eine bekannte Anwaltskanzlei zehn Praktikanten suchte, bewarben sich gleich 3.000. In der Praktikantenzeit gibt es kein Geld. Wer Rechtsanwalt werden möchte, muss selbst Geld mitbringen. Dafür kann man so ein Studium in zwei Jahren durchziehen. Einige, die der AKP nahestehen, wurden in der Vergangenheit zu Staatsanwälten und Richtern erklärt, direkt von der Schulbank aus. Mittlerweile gibt es sogar welche, die nicht mal Jura studiert haben, aber über Menschen richten, eher Menschen vernichten.
Das dicke Ende kommt nach dem Studium. Eine Horde von Rechtsanwälten, die kaum Fälle bekommen und am Ende auf andere Berufe ausweichen. Recht wird selten gesprochen. Unter Erdogan sowieso kaum mehr. Als die Staatsanwälte und Richter mal befragt wurden, was für sie vorrangig wäre, der Staat oder die Gerechtigkeit, sagten 85 Prozent „der Staat“. Ende der Durchsage!
Wobei, eine Sache kommt noch. Ich habe in der Türkei einigen Gerichtsverhandlungen beigewohnt. Es geht, im Vergleich zu Deutschland, mit merkwürdiger Geschwindigkeit zu. Eigentlich wird alles in Schnellverfahren ad acta gelegt. Und im Grunde kommt kein Anwalt so richtig zu Wort. In einem Fall hatte der Rechtsanwalt des Angeklagten neue Beweise, die er vorbringen wollte. Der Richter sagte, O-Ton: „Ach, das ist Ihnen jetzt eingefallen. Jetzt ist zu spät, wir müssen voranmachen.“
Ahmet Refii Dener, geb. 1958, ist deutsch-türkischer Unternehmensberater, Blogger und Internet-Aktivist aus Unterfranken. Mehr von ihm finden Sie auf seiner Facebookseite.