Kopf oder Herz? Wehe, wenn Staaten auf Gefühle hören

Die wunderhübsche Anna war eine Frau nach dem Geschmack der Männer. Sie hatte die Wahl, wem sie einmal ihre Hand fürs Leben reichen würde. Nach gründlicher Überlegung traf es dann Graf Alexei Alexandrowisch Karenin. Er würde ihr ein Dasein in Luxus und Sicherheit bieten, eingebettet in die High Society des zaristischen Russland.

Anna Karenina, so wie sie von nun an hieß, hatte ihre Schönheit zu angemessenem Preis verkauft, doch sie war unglücklich, denn sie liebte ihren Gatten nicht. Schließlich begann sie eine amouröse Beziehung zu dem jungen und schneidigen Alexej Bronski. Sie war so verliebt, dass sie sich um Diskretion nicht scherte, so dass ihr Ehemann von der Liaison erfuhr und ihr das Leben zur Hölle machte. Das war insbesondere deswegen schmerzlich für Anna, weil der Graf den gemeinsamen Sohn Serjoscha als wehrloses Werkzeug zu ihrer Erpressung einsetzte.

Auch die Petersburger Aristokratie, in der Anna zahlreiche Freundinnen und Verehrer hatte, wandte sich jetzt von ihr ab, und die schöne Frau und junge Mutter versank in verzweifelter Einsamkeit. Aus dieser Lage wusste sie keinen anderen Ausweg, als ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sie wollte lieber sterben als in Schande leben. Was hatte die so hoffnungsvolle, ehrgeizige Anna falsch gemacht? Wofür hatte das Leben sie so unerbittlich gestraft?

Sie hatte eine Todsünde begangen, die ihr nicht nur einst den Weg durch die Perlentore zum himmlischen Paradies verwehren würde, sondern ihr bereits zu Lebzeiten die Hölle auf Erden bescherte. Und das war ihre Sünde: In einer Situation, wo das Gefühl hätte entscheiden sollen, da hatte sie ihrem berechnenden Verstand nachgegeben und den Grafen geheiratet. Und in einer Situation wo der Verstand sie dringend warnte, da hörte sie auf ihr Herz und ließ sich von Bronski verführen.

Unermessliches menschliches Leid entsteht, weil Fragen, die nur das Herz beantworten kann, vom Verstand entschieden werden und umgekehrt, dass dann, wenn der Verstand die Lösung hätte, die Gefühle dominieren. Suchen Sie jetzt bitte nicht, liebe Leserin, lieber Leser, in Ihrem eigenen Leben nach Beispielen solch tragischer Irrungen. Es könnte Ihnen den Rest des Tages verderben.

Nicht alle Herzen schlagen im gleichen Takt

Gibt es aber eine Formel dafür, wann welches Instrument zum Einsatz kommen soll? Wann sollten wir dem Kompass des Verstandes und wann dem Drängen des Herzens folgen? Wie ist das bei der Wahl der Kinderzahl, des Berufs, des Wohnorts, des Urlaubs oder des Restaurants?

Sicherlich finden wir auf diese Frage bei Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ Antworten, aber eines ist sofort offensichtlich: Entscheidungen, die viele Menschen betreffen, sollten nicht vom Herzen gefällt werden, denn nicht alle Herzen schlagen im gleichen Takt. Nur wenn Personen ein „Herz und eine Seele“ sind, dann mag das gut gehen: bei verliebten Paaren, in Familien oder unter sehr guten Freunden. Schon kleinere Clubs aber beschäftigen sich mit ihrer Satzung, die schriftlich fixiert und von den Mitgliedern abgesegnet werden muss.

Da haben wir’s also: das geschriebene Wort, auf Griechisch „Logos“, es ist das Element der Logik, auf die wir uns leichter einigen können als auf die Gefühle. Man stimmt leichter überein, dass zwei und zwei vier sind, als dass Richard Wagners Musik besser ist als die von Abba. Die Logik ist die Welt des Richtig und Falsch. Oder, wie es der Philosoph Antoine de Saint-Exupéry relativierte: „Nichts ist richtig oder falsch, die Dinge sind nur mehr oder weniger nützlich.“

In der Tat ist es in der Buchhaltung nützlicher, aus zwei und zwei vier zu machen statt fünf. Letzterer Ansatz ist nur etwas für Betrüger oder Milchmädchen. Logik ist nicht nur die Grundlage, die wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technischen Fortschritt ermöglicht hat; auf ihr sind auch die humanen Regierungsformen entstanden. Es war kein Zufall, dass während der Blüte der griechischen Demokratie Zeitgenossen wie Pythagoras oder Archimedes hohes Ansehen genossen.

In der Umgebung von Irrationalität meist Mord und Elend

Auch die nach dem zweiten Weltkrieg gegründete westdeutsche Demokratie konnte vom Erbe der Dichter und Denker unseres Landes profitieren. Der finstere Geist extremer völkischer Ideologie wurde ersetzt durch Logik und politische Vernunft. Doch in den zwei Generationen seither wird die politische Logik millimeterweise, aber kontinuierlich abermals durch Ideologie verdrängt. Heute sind nicht nur zwei und zwei fünf, heute kostet eine Kugel Eis ein halbes Vermögen, und die Einwanderung ohne Obergrenze bei garantierter Sozialleistung wird nicht als Verbindlichkeit ohne Obergrenze gesehen, sondern als „Herausforderung, die wir schaffen“.

Die Verwahrlosung der Sprache, des gesprochenen Wortes, der Logos, ist sowohl Ursache als auch Folge der Erosion der Vernunft. Wir sollen auf die Ebene der Gefühle gebracht werden, damit wir nicht erkennen, wie die Wahrheit verbogen wird. Doch wer betreibt dies und wer profitiert von der systematischen Abschaffung der Logik im politischen Leben? Wer will uns vormachen, zwei und zwei seien fünf? Sind es Betrüger oder Milchmädchen? Entscheiden Sie selbst, liebe Leserin, lieber Leser.

Gefühle eignen sich jedenfalls nicht zur Lösung komplexer Aufgaben. Versuchen Sie mal ein Problem mit Ihrem Computer zu lösen, wenn Sie wütend sind. Gefühle quantifizieren nicht, sie kennen kein Abwägen, sondern nur Gut und Böse. Aber damit lassen sich Angelegenheiten, die Millionen von Menschen betreffen, nicht bearbeiten. Gut und Böse auf politischer Ebene führt unweigerlich zu Mord und Totschlag

Kommen wir am Ende zurück zu Leo Tolstoi und seiner tragischen Heldin Anna Karenina. Der Roman beginnt mit einer Feststellung, die uns nicht kalt lassen kann: „Alle glücklichen Familien ähneln einander; unglückliche Familien sind jede auf ihre Weise unglücklich.“ Gilt das auch für Völker? Sind erfolgreiche Staaten einander ähnlich? Analysieren wir die heutige Welt oder auch die Geschichte der Menschheit, dann werden wir erkennen, dass Epochen und Reiche, deren Bürger ein würdiges Leben führen konnten, eher von Vernunft dominiert waren, während in der Umgebung von Irrationalität meist Mord und Elend herrschten und auch heute noch herrschen, egal auf welchem Kontinent.

Um ihre wahre Absicht zu erkennen, darf man politische Bewegungen nur in zweiter Hinsicht nach ihrem Programm beurteilen. Ihr wahres Gesicht erkennt man daran, wie sie ihr Programm durchsetzen: ob mit Zensur der Andersdenkenden und Schlägertrupps oder durch zivilisiertes, logisches Gespräch. Was die politische Kultur in Deutschland heute dringend braucht, ist weder mehr Rechts noch mehr Links; sie braucht weniger empörte Emotionen und mehr kühle Logik, und sie braucht Bürger, die das einfordern. Wir wollen doch nicht so enden wie die arme Anna.

Dieser Beitrag erschien zuert auf Hans Hofmann-Reineckes Blog Think again!

Foto: Bildarchiv Pieterman

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Alexander Wildenhoff / 01.01.2020

Zitat: „Wehe,  wenn Staaten auf Gefühle hören“.  In Ihrer Argumentation, Herr Hofmann-Reinecke, schilden Sie dann ein unglückliches Individuum, das sehr wohl zwischen Vernunft und Gefühl unterscheiden konnte, aber jeweils das vernünftige und das gefühlte Richtige zum falschen Zeitpunkt tat. Nun neigen nicht nur einfältige Menschen zu der Ansicht, man könne die Verhaltensweisen von Individuen und Staaten miteinander vergleichen, weil Individuen und Staaten psychologisch gesehen sich gleich verhalten würden.  Selbst Jared Diamond schlägt in seinem neuen Buch über die Krise der Staaten das als Lösungsmuster vor.  Das halte ich von der Grundannahme her schon für komplett falsch. Eine Nation ist kein Individuum, und ein Individuum ist keine Nation. Es kommt bei Staaten also nicht wie bei Individuen auf die Wahl des richtigen Augenblicks an. Staaten haben prinzipiell keine Freunde, sondern nur vernunftgesteuerte Interessen.  Diese Einsicht stammt vermutlich schon von Talleyrand – Star beim Wiener Kongress. 

Gottfried Meier / 01.01.2020

Das geht nur weil die Menschen das zulassen. Und warum tun sie das? Weil es in der Zeitung gestanden hat oder in den Nachrichten gekommen ist. Und was in der Zeitung steht ist wahr! Wer jahrelang gehirngewaschen würde, der braucht keine Logik!

Sepp Kneip / 01.01.2020

Ann hatte sich für Karenin entschieden. Die Deutschen nach dem Krieg für Demokratie. Anna hat Karenin wegen Wronski verlassen. Die Deutschen die Demokratie wegen einer Utopie. Anna fasste ihre Entschlüsse delbst. Gut, sie wurde von Wronski verführt. Die Deutschen entschieden nichts selbst. Sie sind als Nichtsouveräne in die Mühlen der Weltpolitik gestoßen worden. Allerdings wurden auch sie verführt und missbraucht. Vor allen Dingen als Zahlmeister für die Utopie Europa, genannt EU. Ein Ungetüm, das mit Demokratie nichts mehr zu tun hat. Anna fasste auch ihren Entschluss zum Selbstmord eigenständig. Deutschland dagegen wird in diesen Selbstmord von anderen gedrängt. Allerdings haben diese anderen in Deutschland selbst ihre willfährigen Helfer: Die gesamte politische “Elite”, angeführt von Merkel. Wir schaffen das!

sybille eden / 01.01.2020

In einem vom Sozialdemokratismus und ökologischem Fanatismus verseuchtem Land gelten Vernunft und Logik als KONSTRUKTE von ALTEN, WEISSEN MÄNNERN ! Darum wird es nie wieder so wie es einmal war. Nur eine KONSERVATIVE REVOLUTION könnte dies ändern. Diese wird es in Deutschland aber niemals geben. Damit müssen wir uns abfinden !

Thomas Schmidt / 01.01.2020

Herz oder Verstand sind nur 2 Strategien, was zählt ist der Erfolg. Dummheit gepaart mit totaler Irrationalität kann viel erfolgreicher sein als die reine verstandesmäßige Vernunft.

Dr. Gerhard Giesemann / 01.01.2020

Will man Vernunft als jene gute Mischung aus Herz und Verstand sehen, so kann man damit ganz gut durch’s Leben kommen. Dabei ist “Herz” ein bisschen mehr als nur Gefühl, es kommt mindestens noch die Komponente Menschlichkeit hinzu, während Verstand nicht nur Logik ist, sondern etwas mit “verstehen” zu tun haben sollte. Also “Gefühl und Logik” sind weniger wert als Herz und Verstand. Theoretisch einfach, in der Praxis ein ständiges Austarieren - but who says it’s easy?

Heinz Gerhard Schäfer / 01.01.2020

@Frank Holdergrün: Frei nach Goethe: “Der Sozialismus ist die Kraft, die stets das Gute will und nur das Böse schafft!”

Werner Arning / 01.01.2020

Rationalität wurde/wird in Deutschland (wieder einmal) zugunsten von Irrationalität aufgegeben. Warum sind gerade die Deutschen so anfällig für diese Vorgehensweise? Warum sind etwa Italiener, denen nachgesagt wird, sie seien so emotional und unberechenbar, viel berechenbarer und rationaler als die Deutschen? Liegt es daran, dass die Deutschen so unheimlich beherrscht sind? Dass sie ihre Gefühle ständig „unter Kontrolle“ haben und dann in regelmäßigen Abständen völlig ausflippen? Plötzlich völlig irrational handeln? Ist das eine Art kompensatorisches Verhalten? Eine Gegenmittel für ihre Verklemmtheit? Das Problem ist, dass sie immer mächtig genug sind, mit ihrer Irrationalität auch Unbeteiligte mit ins Verderben zu ziehen. Deshalb sind die Deutschen in gewisser Weise gefährlich. Man sollte sie unter Kontrolle behalten. Und im Moment kontrolliert sie niemand.

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