Sabine Drewes, Gastautorin / 17.06.2023 / 14:00 / Foto: CIA / 17 / Seite ausdrucken

70 Jahre 17. Juni: Gestohlene Erinnerung

Den Deutschen Untertanengeist und mangelnde Freiheitsliebe vorzuwerfen, ist reichlich wohlfeil. Den besten Gegenbeweis liefert der 17. Juni 1953. Setzen wir denen, die an diesem Tag vor 70 Jahren das SED-Regime fast zu stürzen vermochten, doch endlich ein würdiges Denkmal!

Den tapferen und unerschrockenen Kämpfern

für Menschenrecht, Menschenwürde,

für Wahrheit und Freiheit – 17. Juni 1953

Das ist die Inschrift der ursprünglichen, nicht mehr vorhandenen Tafel an der Berliner Potsdamer Chaussee, errichtet von 17.-Juni-Flüchtlingen. In meinen jungen Jahren war der 17. Juni in der Bundesrepublik Deutschland ein gesetzlicher Feiertag, an den ich mich gut erinnere. Ein Feiertag zu Ehren unserer Landleute „drüben“, die sich am 17. Juni 1953 gegen ein verbrecherisches Regime erhoben, das ihnen nach dem Krieg von der Sowjetunion aufgezwungen worden war. Allerdings erinnere ich mich auch – nicht ohne dabei tiefe Scham zu empfinden –, wie von gewissen Kreisen damals schon versucht wurde, diesen nationalen Gedenk- und Feiertag der Lächerlichkeit preiszugeben. Er sei ein Tag, an dem die Deutschen (West) „baden gingen“, höhnten manche; deshalb könne, nein, sollte man ihn abschaffen.

Nun, ich kann mich nicht erinnern, an einem 17. Juni jemals baden gegangen zu sein, draußen natürlich. Anders war es nicht gemeint. Es mag auch schlicht daran gelegen haben, dass das Wetter zu dieser Zeit in unseren Breiten dafür eher suboptimal war (und ist). Doch um die Frage, wie die Deutschen diesen Feiertag ganz persönlich verbrachten, ging es in Wahrheit nie. Oder mokiert sich jemand darüber, dass auch der 1. Mai und andere Feiertage für Freizeitaktivitäten genutzt werden? Nein, es störten sich gerade Anhänger der sogenannten Entspannungspolitik massiv an dem Gedenken an den für sie ungeheuerlichen Vorgang im Juni 1953. Ein Massenaufstand gegen Sozialisten reinsten Wassers, gegen die vermeintlich Guten, das ging nach ihrer Überzeugung gar nicht.

Darüber hinaus gehört es seit langem zum guten Ton, über „die Deutschen“ herzuziehen. Heute geschieht dies gerne unter der Prämisse: Feige seien sie, die Deutschen, unterwürfig, staatsgläubig, leicht zu manipulieren und überdies freiheitsfeindlich. Insbesondere aber wird das politisch-gesellschaftliche Geschehen der letzten Jahre als ultimativer Beweis für diese Behauptung vorgebracht, obwohl jedermann wissen kann, dass diese – um es vorsichtig zu sagen – wenig erfreuliche Entwicklung alles andere als genuin deutsch ist. Vor allem hat sie in Deutschland nicht ihren Ursprung; nein, sie kommt ausgerechnet aus Ländern, die wir gerne als Leuchttürme der Freiheit und Demokratie preisen. Soviel Wahrheit muss sein.

Das unverdiente Schattendasein des 17. Juni

Als genuin deutsch aber muss der Umgang mit einem besonders herausragenden Datum der deutschen Geschichte im Kampf um die Freiheit und Einheit Deutschlands bezeichnet werden. Gemeint ist der 17. Juni 1953. Im Ausland wäre das Herunterspielen eines solchen nationalen Ereignisses undenkbar. Unter den deutschen Gedenk- und Feiertagen fristete dieser Tag lange ein Schattendasein, das seiner Bedeutung in keiner Weise gerecht wird; einer Bedeutung, die Hubertus Knabe auf den Punkt bringt (1):

„Dabei gab es in der deutschen Geschichte keine andere Revolution, die ein auf Gewalt und Unterdrückung beruhendes Herrschaftssystem so schnell, so flächendeckend und so vollständig aus den Angeln hob.“

Dies hat Knabe in seinem sehr lesenswerten Buch „17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand“ (von dem gerade eine Neuauflage erschienen ist) dankenswerterweise herausgestellt. Dass nämlich den Deutschen gelungen war, wenngleich auch nur für einen Tag oder für wenige Stunden, ein verbrecherisches Regime komplett aus den Angeln zu heben, es in Angst und Schrecken zu versetzen, ist bis heute den wenigsten bekannt. Diese mangelnde Wahrnehmung steht in keinem Verhältnis zum Erfolg der Aufständischen vor der Niederschlagung durch die sowjetische Besatzungsmacht; dies umso mehr, als es keinen zentralen Anführer und keine zentrale Organisation dieser landesweiten Proteste gab. Der Massenprotest kam gerade am 17. Juni 1953 aus dem Volk heraus. Es waren Menschen wie du und ich, die auf die Straße gingen.

Feiges Duckmäusertum hätte anders ausgesehen!

Weil darauf kaum verwiesen wurde, nannte ich den 17. Juni vor vier Jahren einen gestohlenen Ehrentag. Und ich bleibe dabei. Aber es geht tiefer, viel tiefer. Wir haben es längst mit einer gestohlenen Erinnerung zu tun. So wird zwar auch mit einer ganzen Reihe weiterer Daten zur deutschen Geschichte verfahren, vor allem mit jenen, die positiv aus ihr herausragen. Jedoch lässt sich am 17. Juni sehr gut die ganze Schäbigkeit studieren, die mit diesem politisch gewollten Vergessen einhergeht.

Jene, die beständig darüber klagen, die Deutschen ließen sich alles widerspruchslos gefallen, sollten sich zunächst die Frage stellen, wie sie selbst zum 17. Juni 1953 stehen. Ob dieses Datum in ihrem historischen Gedächtnis einen Ehrenplatz einnimmt, ob sie sich jemals die Mühe gemacht haben, sich nicht nur oberflächlich, sondern tiefer mit diesem deutschen Aufstand gegen eine menschenverachtende Diktatur zu befassen, ein Aufstand, der nur acht Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges ein ganzes Teilvolk erfasst hatte, und der im übrigen schon am 16. Juni begann und erst am 22. Juni beendet war.

Dabei hatte sich, was kaum bekannt ist, schon lange vor dem Sommer 1953 erbitterter Widerstand sowohl auf dem Lande als auch unter der Arbeiterschaft gebildet (2). Im Juli 1953 gab es sogar noch eine zweiten Streikwelle, eine der Hauptforderungen war die Entlassung der verhafteten Streikführer vom 17. Juni 1953. Auf dem Land hielt der Widerstand gegen die SED-Herrschaft noch bis zum Jahreswechsel an. Dort wurden wahrhaftig (sic!) Mistgabeln gegen die Funktionäre geschwungen (3); feiges Duckmäusertum hätte anders ausgesehen!

Zudem: Eine spontane Volkserhebung in dieser Größenordnung und Intensität gegen politische Willkür und Unterdrückung sowie für Freiheit und Selbstbestimmung wie am 17. Juni 1953 hatte man zuvor im Ostblock noch nicht gesehen. In der Zeit vom 16. bis 21. Juni erhoben sich insgesamt über eine Million Menschen zwischen Ostsee und Erzgebirge, zwischen Elbe und Oder, in allen Landesteilen, in über 700 Städten und Gemeinden sowie in über 1.000 Betrieben und Genossenschaften gegen die von den Sowjets aufoktroyierte kommunistische Gewaltherrschaft und gegen die Teilung Deutschlands (4). Die Deutschen standen dabei für Ziele und Werte ein, die der Westen sich auf seine Fahnen geschrieben hatte. Und sie gaben damit dem ganzen deutschen Volke nichts weniger als ein Stück seiner Würde zurück. Wie kann es angehen, dass dies ausgerechnet in ihrem eigenen Land vergessen wird? 

Zunächst hatte man dem Aufstand in der Bundesrepublik nach seiner Niederschlagung durch sowjetische Panzer auch alle Ehre erwiesen und der Toten gedacht, wiewohl der offizielle Westen zum Zeitpunkt des Geschehens eher unsicher bis abweisend auf die Proteste reagiert hatte. Egon Bahr (SPD), damals Chefkommentator des RIAS, forderte die Demonstranten am 18. Juni auf, ihren Widerstand gegen die kommunistische Zwangsherrschaft aufzugeben (5). Und dies, obwohl die Deutschen im unterdrückten Teil ihres Landes doch nur genau das taten, was man sonst in exakt solchen Situationen von allen Deutschen verlangen würde. Nun fühlten sie sich zu Recht im Stich gelassen.

Das Versagen des Westens

Aber längst nicht alle verhielten sich so wie Egon Bahr. Nicht einmal sein Parteifreund Herbert Wehner. Von ihm nämlich ging der Vorschlag aus, den 17. Juni im Westen Deutschlands zum nationalen Feiertag zu erheben, als Tag der Deutschen Einheit (6) – was denn auch noch im gleichen Jahr geschah. Dies blieb er bis einschließlich 1990. Man hätte es dabei belassen sollen. Denn die Ereignisse in den Jahren 1989/1990 stehen in Kontinuität zum Freiheits- und Einheitskampf vom Juni 1953. Man kann diese Geschehnisse nicht isoliert voneinander betrachten. Die Freiheitskämpfer von 1989 stehen auf den Schultern der Freiheitskämpfer von 1953. Letztere hatten alles gegeben und am Ende alles verloren – einige von ihnen auch ihr Leben. 1989 trug der Kampf um die Freiheit und Einheit Deutschlands dann endlich einen Sieg davon.

Dass dies so lange dauerte, ist den Deutschen, die gegen die SED-Diktatur aufbegehrten, nicht anzulasten. Ein Grund dafür, weshalb der 17. Juni 1953 – im Gegensatz zum Aufstand in Ungarn 1956 und der Tschechoslowakei 1968 – im historischen Gedächtnis, auch des Auslandes, sich größtenteils wie ein weißer Fleck ausnimmt, dürfte unter anderem darin zu suchen sein, dass der Westen sich seinerzeit nicht mit Ruhm bekleckert hatte. Nicht nur für die Regierung Adenauer, sondern auch für die amerikanische Regierung unter Eisenhower kam der Volksaufstand im anderen Teil Deutschlands völlig überraschend, obwohl es lange vor dem 17. Juni genügend Vorboten (7) für eine stetig wachsende Unzufriedenheit mit dem SED-Regime in der Bevölkerung gab, der es gelinde gesagt dreckig ging, worüber die westlichen Medien sehr wohl berichteten. Dazu kam im Frühjahr 1953 ein Höchststand an Flüchtlingen (8).

Eine direkte Unterstützung der Aufständischen des 17. Juni lehnte der US-Präsident aus Angst vor einem Atomkrieg ab (9); auch erhielten sie keine moralische Rückendeckung durch die Regierungen der drei Westmächte. Diese zeigten nämlich nicht nur vorsichtige Zurückhaltung, sondern sogar offene Ablehnung bis hin zur brüsken Zurückweisung – vor allem die Briten und Franzosen (10), die aus purem Egoismus, so Knabe, nicht einmal vor der UNO den Militäreinsatz zur Sprache brachten (11). Bei den Amerikanern gab es immerhin noch Überlegungen, wie man den Aufständischen helfen könnte (10). Eine besondere Rolle in den Juni-Tagen spielte der unter amerikanischer Kontrolle stehende Sender RIAS (12). Einerseits war er dort, wo man ihn in der "DDR" empfangen konnte, eine wichtige Informationsquelle und verbreitete die Nachricht von Streiks und Demonstrationen, andererseits war er nicht bereit, am 16. Juni den Aufruf zu einem Generalstreik zu senden.

Auf den Schock folgten Enttäuschung und Resignation

An den Demonstrationen am 17. Juni 1953 in Berlin beteiligten sich auch Bürger aus dem Westteil der Stadt; und zwar gegen die ausdrückliche Weisung der Westmächte (13). Die Berliner selbst machten keinen Unterschied zwischen Ost und West. Man empfand sich als ein Volk; die Unterstützung der bedrängten Landsleute war da für viele selbstverständlich (14). Unverständnis und Wut entlud sich dagegen gegen die Westberliner Polizei, die nach Aufforderung der Westalliierten die Westberliner zurückdrängte (15). Zusammenläufe an der Berliner Sektorengrenze und Proteste gegen die Sperrmaßnahmen wurden von den Briten aufgelöst (14), anstatt dass sie gemeinsam mit Amerikanern und Franzosen gegen die östlichen Absperrungen protestierten, die gegen den Viermächtestatus verstießen (16). Von britischer Unterstützung oder wenigstens Sympathie für die Aufständischen, so schreibt Knabe in seinem Buch, konnte jedenfalls keine Rede sein. Die Briten seien sogar der Auffassung gewesen, die Sowjets hätten das Recht gehabt, ihre Zone notfalls mit Gewalt unter Kontrolle zu bringen (10). Auch das gehört zur ganzen Wahrheit dazu.

Für die Deutschen, die unter der sowjetischen Besatzungsmacht und der SED-Herrschaft litten und sie in jenen Juni-Tagen abzuschütteln versuchten, war diese Erkenntnis ein Schock. Sie hatten mit Unterstützung des Westens, insbesondere der USA, in ihrem Kampf gegen die kommunistische Unterdrückung gerechnet und wurden bitter enttäuscht. Worte und Taten des Westens klafften hier sichtbar auseinander. Zwar wäre ein Einmarsch der Amerikaner wegen des hohen Kriegsrisikos nicht sinnvoll erschienen, aber es gab durchaus Hilfsmöglichkeiten, wie zum Beispiel oben genannt, die nicht genutzt wurden (17).

Die Erkenntnis, dass jedes Aufbegehren gegen eine menschenverachtende Diktatur letztlich vergeblich erscheinen musste, wirkte sich nach der Niederschlagung des Aufstandes psychologisch entsprechend negativ aus; die Enttäuschung wiederholte sich beim Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961. Deshalb ist es reichlich wohlfeil, den Deutschen pauschal Duckmäusertum vorzuwerfen. Die ganz normalen Deutschen hatten im Juni 1953 (und im August 1961) eben nicht versagt; von ihren Landsleuten im Westen wiederum, besonders im westlichen Berlin, wurde der Aufstand 1953 mit großer Anteilnahme begleitet. Über die Politik der Bundesrepublik fällt Knabe dagegen ein hartes Urteil: Freiheit und Demokratie hätte sie fortan „mit der Preisgabe der Ostdeutschen an den Kommunismus“ bezahlt (17).

Verdrängte Antworten auf unterlassene Fragen

Liegt in der Frage, wie wir und insgesamt der Westen mit dem Andenken und dem Vermächtnis der Freiheitskämpfer von 1953 umgehen, womöglich ein Schlüssel zum Verständnis der Deutschen, denen man so gerne vorwirft, sie würden nicht gegen Unrecht aufbegehren? Darüber sollten gerade jene nachdenken, die prinzipiell kein gutes Haar an den Deutschen lassen und die gleichzeitig ihren Freiheitskampf von 1953 kleinreden. Die Bundesstiftung Aufarbeitung führt dazu aus: „Annähernd 15.000 Personen wurden (bis 1955) verhaftet, 1.800 von ihnen zu teilweise hohen Haftstrafen verurteilt. Insgesamt sind 55 Todesopfer durch Quellen belegt, darunter 35 während des Aufstands umgekommene Demonstranten, sieben zum Tode Verurteilte, acht in Haft Verstorbene und fünf Angehörige der Sicherheitsorgane.“ Zu den Namen der Todesopfer siehe auch hier.

Es sind Opfer, die so gut wie keiner kennt. Oder wem sagt, um nur ein Beispiel von vielen zu nennen, der Name Paul Othma etwas (siehe hier und hier)? Wer weiß noch, dass Jugendliche die verhasste rote Fahne als Symbol kommunistischer Unterdrückung vom Brandenburger Tor herunterholten und unter dem Jubel der Umstehenden zerrissen, dass für kurze Zeit die schwarz-rot-goldene Fahne über dem Tor wehte und das Deutschlandlied als Sehnsucht nach einem freien, ungeteilten Deutschland nicht nur dort, mitten in Berlin, sondern auch an vielen anderen Orten, gesungen wurde?

Wem ist geläufig, dass es nicht minder heftige Bauernproteste und Proteste von Seiten der verbliebenen Selbstständigen wie beispielsweise Handwerkern gab (18), dass es sich eben nicht um einen reinen Arbeiteraufstand handelte, wie oft kolportiert wurde, sondern um einen Aufstand von Angehörigen aus allen Schichten der Bevölkerung gegen eine Diktatur? Wer weiß, dass es den Aufständischen in einigen Orten zeitweilig gelang, die Macht zu übernehmen, so etwa in Halle (19), Bitterfeld und Görlitz?

Wem ist bekannt, dass es zum erfolgreichen Sturm auf die Gefängnisse (20) kam, um über 1.500 meist aus politischen Gründen Inhaftierte zu befreien, die nach der Niederschlagung des Aufstandes fast alle wieder eingesperrt wurden? Wer weiß, dass über 250 öffentliche Gebäude, so auch der SED, des MfS, der Volkspolizei, des FDGB und der Verwaltungen, besetzt wurden (4)? Und schließlich: Wer macht sich heute noch bewusst, dass ohne die Niederschlagung des Aufstandes durch die Rote Armee die Teilung Deutschlands, und damit das mit ihr verbundene millionenfache Leid, schon 1953 Makulatur gewesen wäre?

Diese und andere Fragen werden seit Jahren, ja seit Jahrzehnten, in der Regel selten gestellt, geschweige denn beantwortet. Die Antworten passen nicht in das Bild, das wir uns von unseren Landsleuten machen (sollen). Folgerichtig  ist eine Feierstunde im Parlament, die diesen Aufstand „für Menschenrecht, Menschenwürde, für Wahrheit und Freiheit“, wie es auf einem Gedenkstein an der Berliner Potsdamer Chaussee stand, würdigt, allenfalls eine seltene Ausnahme.  

In den Jahren 1968 bis einschließlich 1982 wurde im Deutschen Bundestag ganz auf eine Feierstunde zum Gedenken an den 17. Juni 1953 verzichtet (außer zum 25. Jahrestag 1978); erst mit der Kanzlerschaft Helmut Kohls wurde sie wieder eingeführt. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet Kohl den 17. Juni als nationalen Feiertag wieder abschaffte. Auch in Schulen wird der 17. Juni 1953 in der Regel kaum je behandelt. 

Vergessene Signalwirkung des 17. Juni

Jene deutschen Freiheitskämpfer und ihre Opfer wurden und werden weitestgehend dem Vergessen überantwortet, wenn es nicht gerade – wie heute – ein rundes Jubiläum zu begehen gilt. Der 17. Juni als Feiertag ihnen zu Ehren wurde zugunsten des 3. Oktobers abgeschafft; auch ließ und lässt man an diesem Gedenktag Akteure und Überlebende des Aufstandes im Hohen Hause nicht zu Wort kommen. Die Frage ist deshalb nicht, ob „die“ Deutschen freiheitsfeindlich sind, die Frage ist vielmehr, ob und wie unsere Institutionen in Politik, Medien und Gesellschaft deutsche Freiheitsbestrebungen wahrnehmen und würdigen wollen; vor allem dann, wenn sie gegen eine kommunistische Gewaltherrschaft gerichtet waren.

Apropos. Der 17. Juni 1953 hatte auf den Ostblock eine Signalwirkung. Zwar wurde von allen im sowjetischen Machtbereich installierten Führungen versucht, den Juni-Aufstand zu vertuschen. In Polen aber, so berichtet der Historiker Krzysztof Ruchniewicz (21), verbanden – gerade in jenen Gebieten, in denen noch nach 1945 in ihrer angestammten Heimat verbliebene Deutsche als Minderheit lebten – etliche Menschen mit dem Juni-Aufstand die Hoffnung auf ein Ende der kommunistischen Gewaltherrschaft. Die offizielle Version der Ereignisse wurde von vielen Berichterstattern in Polen bezweifelt; das zeigte sich daran, dass sie mit teils erstaunlich detaillierten Schilderungen des Geschehens aufwarten konnten, so Ruchniewicz. Den Rest reimte sich man sich zusammen.

Ruchniewicz schreibt aber auch ganz klar, dass es Ereignisse gebe, die im Bewusstsein der polnischen Gesellschaft nur ganz schwach ausgeprägt seien und auch kein Forschungsinteresse hervorrufen würden:

Zu jenen Ereignissen gehören zweifellos die dramatischen Vorgänge in der DDR vom Juni 1953, die zum ersten Massenaufstand gegen das kommunistische System im sowjetisch dominierten Ost-Mitteleuropa geführt haben. Es wird hier selten daran gedacht, dass die Vorläufer der heldenhaften Bewohner von Budapest, Prag, Warschau oder Danzig, die sich gegen ihre Armut und die Lügen der kommunistischen Propaganda aufgelehnt haben, die Bewohner von Ost-Berlin waren.

Die Intellektuellen lagen falsch, nicht das Volk

Am 16. Juni 1987 erinnerte Günter Zehm in seinem WELT-Leitartikel „Gedenktag aller Völker“ außerdem daran, dass der 17. Juni zusammen mit den nur wenig später ausbrechenden, aber kaum bekannten Häftlingsrevolten im Gulag Workuta in Sibirien, in dem sich auch deutsche Kriegsgefangene befanden, die aufbegehrten und dabei ihr Leben verloren, der erste nachstalinistische Aufstand gegen das kommunistische Zwangs- und Lagerregime war. (Anmerkungen der Autorin: Hier sei kurz ergänzend der ebenfalls niedergeschlagene Aufstand in Pilsen Anfang Juni 1953 erwähnt, der allerdings bei weitem nicht an die Dimension des 17. Juni 1953 heranreichte.)

Zehm schrieb: „Bis dahin war so etwas von den Soziologen und Politikbeobachtern jeglicher Couleur für schlechthin unmöglich gehalten worden. Das Herrschaftsgebäude Stalins“, so Zehm, das habe man noch bei Louis Fischer 1950 nachlesen können, „sei derart 'total', sei derart komplett mit Kontrollmechanismen, Spitzelsystemen und Sanktionsdrohungen ausgerüstet, daß allenfalls Veränderungen 'von oben' denkbar seien; 'von unten', von der Seite der Arbeiter, denen man all ihre unabhängigen Organisationen genommen habe, könne es nur noch Gefolgschaft und ohnmächtiges Aufbegehren einzelner geben.

Und er fügte hinzu: „Diese seinerzeit allgemein geteilte Ansicht wurde durch den 17. Juni (und durch Workuta) regelrecht ad absurdum geführt.“ In der Tat. Auf den 17. Juni 1953 folgte der Aufstand in Workuta im selben Jahr, in Posen und in Ungarn 1956, in der Tschechoslowakei 1968, der Solidarnosc 1980, der Balten und wiederum der Deutschen im Jahre 1989. Und beide Male waren es in Deutschland nicht die Intellektuellen, von denen diese Bewegungen ausgingen, sondern die einfachen Bürger. Der Aufstand vom 17. Juni 1953 hat klar gezeigt, dass die Deutschen sehr wohl gegen ein repressives Regime auf die Straße zu gehen bereit sind und für die Freiheit ihr Leben riskieren. Ihre Zuversicht gründete 1953 allerdings auch in dem fatalen Irrglauben, der Westen würde hinter ihnen stehen.

Den Willen der Deutschen zur Freiheit hochhalten

Hubertus Knabe hat eine deutliche Antwort (17) auf die Frage, ob der Aufstand vom 17. Juni 1953 umsonst gewesen wäre: Nein! Dem schließe ich mich an. Denn der Aufstand, so führt Knabe sehr überzeugend aus, sei ein unübersehbares Plebiszit gegen die kommunistische Diktatur gewesen, die gegen den Willen der Bevölkerung errichtet worden war, und der der SED endgültig jede politisch-moralische Legitimation entzogen hatte. Das sei ein Makel gewesen, den die SED nie mehr abstreifen konnte, schreibt der Historiker.

Umso beschämender muss man es nennen, dass jene Deutschen in ihrem eigenen Land für ihren Mut so wenig Beachtung und Anerkennung erfahren. Setzen wir ihrem Freiheitskampf vom 17. Juni 1953 doch endlich ein würdiges Denkmal, das sie mehr als verdient haben. Wer an dieses herausragende Datum der deutschen Geschichte nicht mehr erinnern will, der sollte sich nicht über einen tatsächlich oder doch eher vermeintlich mangelnden Willen der Deutschen zur Freiheit wundern – und erst recht nicht darüber beklagen. Das eine bedingt vielmehr das andere.

Verweisen wir also endlich auf jene Vorbilder aus unseren eigenen Reihen, die wir sehr wohl haben. Ehren wir sie und ihre Opfer in angemessener, würdiger Weise – wenigstens einmal im Jahr, am 17. Juni. Lassen wir, wo immer dies noch möglich ist, endlich auch Zeitzeugen selbst sprechen. Wer nicht einmal dies fertigbringt, der kann nicht verlangen, dass die Heutigen in vergleichbaren Situationen große Opfer zu bringen bereit wären. Denn sie sehen ja, was sie davon hätten. Für ihren Mut des Aufbegehrens ernteten sie am Ende doch nur eines: Entweder werden ihre Bemühungen kleingeredet, gar lächerlich gemacht, oder sie verfallen der damnatio memoriae. Ein bitteres Fazit zum 70. Jahrestag des 17. Juni.

 

Sabine Drewes ist im freien Teil des damals noch geteilten Deutschlands aufgewachsen und beschäftigt sich seit ihrer Jugend mit diversen Aspekten rund um das Thema Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands.

 

Quellen und Empfehlungen zum Weiterlesen:

  • Hubertus Knabe: 17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand. Ullstein (Ausgabe 2003), Seite 21/22: (1), Seite 87 (2), Seite 407 (5), Seite 16 (6), Seite 85 (7) Seite 410/411 (10), Seite 434 (11), Seite 124-130. (12), Seite 403 (13), Seite 403 (15), Seite 405 (16), Seite 434/435 (17), Seite 201ff. (19), Seite 189ff. (20)
     
  • Andreas H. Apelt, Jürgen Engert (Hrsg.): Das historische Gedächtnis und der 17. Juni 1953. Mitteldeutscher Verlag 2014, Seite 36/37 (3)Seite 25 (8), Seite 57ff. (21)
     
  • Ilko-Sascha Kowalczuk: Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in Wissenschaft und Erinnerungskultur. PDF-Dokument, 2013, Seite 11 (4)
     
  • Andreas H. Apelt, Robert Grünbaum, János Can Togay (Hrsg.): Die Ostmitteleuropäischen Freiheitsbewegungen 1953-1989. Metropol Verlag 2014, Seite 27 (9)
     
  • Ehrhart Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949 – 1989. Ch. Links Verlag 1998, Seite 86 (14), Seite 85/86 (18)

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Leserpost

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Franz Klar / 17.06.2023

Am 17. Juni 1953 wurde der Grundstein gelegt für die unverbrüchliche Völkerfreundschaft zwischen den Bürgern des ArbeiterundBauern - Staates und dem ruschissen Volk , das das imperialistische Eindringen sogenannter “westlicher Werte” siegreich verhinderte . Diese Dankbarkeit ist gänzlich unverblaßt bis zum heutigen Tage , an dem der Westen erneut , diesmal in der Ukraine ,  aggressiv zündelt . Druschba ( pl. Druschbären ) sei unser aller Gruß !

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