Meine ganz große Städteliebe in meinen jungen Jahren hieß – na, wie denn: Berlin! Das hatte nicht nur, aber auch mit der Berliner Luftbrücke zu tun. Persönliche Gedanken zum 75. Jahrestag des Beginns der Luftbrücke und zum 60. Jahrestag des denkwürdigen Besuchs J. F. Kennedys in der eingemauerten Stadt.
Nein, Sie lesen schon richtig. Berlin war einst die einzige Stadt auf dem gesamten Erdball, für die ich in aller Herrgottsfrühe, wenn alle Anderen noch selig schliefen, in freudiger Erwartung aufstehen konnte, um sie zu nicht allzu später Tageszeit zu erreichen. Und bevor Sie mein Bekenntnis in den falschen Hals bekommen könnten, möchte ich Enno von Loewenstern zitieren. Er schrieb in der WELT am 11. Juli 1990 in seinem Leitartikel „Die Haupt-Stadt“, wie das Berlin der Kaiserzeit und der Weimarer Republik eine glanzvolle, weltoffene Stadt gewesen sei. Dieses Berlin gab es zwar auch damals schon nicht mehr. Aber zur Ehrenrettung dieser so vielfach geschundenen Metropole führte er aus:
„Hitler? Ja, glaubt denn jemand, der hätte anders regiert, wenn Bonn seine Hauptstadt gewesen wäre? Ohnehin können nur historisch Unkundige annehmen, der Zweite Weltkrieg und der Massenmord seien auf Berliner Boden ausgeheckt worden. Hitler erträumte seinen Wahn in der Idylle des Obersalzbergs. Goebbels gab schon die Meinung seines Meisters korrekt wieder, Berlin sei 'ein korruptes Stadtungeheuer in jüdischer Hand, das wieder deutsch werden' müsse; man lese völkische Autoren à la Zöberlein und deren fasziniert-haßerfüllte Beschreibungen dieser glitzernden, beschwingten, durch und durch internationalen Metropole. Es gehört nicht zu den geringsten Verbrechen der Nazis, die Träger dieses Geistes verjagt oder vernichtet zu haben. Der Nationalsozialismus war nicht Berlin, sondern der Aufstand gegen Berlin.“
Soviel der Vorrede. Das Schicksal dieser Stadt, das Schicksal der leidgeprüften Berliner, das rührte mich. Gerade ein Rückblick auf das Zeitalter der Berliner Blockade und der Luftbrücke offenbart, wie nur drei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges die Deutschen im allgemeinen und die Berliner im besonderen in ihrer überwältigenden Mehrheit ein eindeutiges Votum für Freiheit und gegen Tyrannei abgaben. Daran möchte ich erinnern. Es ist zugleich auch die Geschichte einer tiefempfundenen Städte-Liebe der Autorin.
Grundlage für einen demokratischen Neuanfang
Erzählungen aus dem Berlin der Nachkriegszeit beeindruckten mich, vor allem aber die Standfestigkeit der Berliner, dieses heute verschütt’ gegangene „uns kann keener“. Man kann, darf und sollte den Westalliierten, insbesondere den Amerikanern, dankbar sein für ihre logistische Meisterleistung der Luftbrücke, das die Berliner (West) vor dem Verhungern bewahrte, sollte dabei jedoch nicht vergessen, dass dieses Unternehmen ohne das eiserne Durchhaltevermögen der Menschen im ausgebombten und eingeschlossenen Westteil der Stadt keinerlei Früchte getragen hätte. Und übrigens auch nicht ohne die tätige Mithilfe der Westdeutschen zum Gelingen der Luftbrücke. Wie wichtig dieser gerne vergessene Umstand war, beweist nicht zuletzt das Desaster des Westens in Afghanistan. Fabian Nicolay führte hier richtig aus: „So sehr sich die Amerikaner auch 'bemühten', Vietnam, Somalia, Irak, Afghanistan und viele andere Konflikte, in die sie involviert waren, scheiterten – es gelang den USA keine weitere Etablierung der Demokratie als Beglückungsmotiv der Siegermacht.“ Außer eben in Deutschland und Japan.
Man täte Deutschland allerdings Unrecht, und da muss ich dem geschätzten Herausgeber der Achse, wenngleich ungern, widersprechen, wenn er meint, das Land sei nach 1945 geschichtlich bedingt für Segnungen der Demokratie, des Liberalismus und der Rechtsstaatlichkeit grundsätzlich nicht angelegt gewesen. Das stimmte nicht einmal für das vielgeschmähte Kaiserreich, wie ich hier ausführte. Vielmehr galt Deutschland gerade damals, nicht zuletzt in puncto Rechtsstaatlichkeit, auch bei seinen Nachbarn – was diese nicht neidlos anerkannten – als modernster Staat seiner Zeit. Die Grundlage für einen demokratischen Wiederaufbau, für ein modernes Staatswesen, die war nach 1945 sehr wohl gegeben. Aus eben diesem Grunde konnte die Demokratie im westlichen Teil Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg ein Erfolg werden. Was die heute führende Generation, welche in nie gekanntem Wohlstand aufwuchs, dieser Tage daraus macht, steht auf einem anderen Blatt und sollte nicht der Generation des Wiederaufbaus angelastet werden.
Widerstandsgeist und Entschlossenheit der West-Berliner
Die West-Berliner hätten während der sowjetischen Blockade 1948/1949 auch einfach den Kommunisten im Ostteil der Stadt in die Arme laufen können; nichts wäre für sie einfacher gewesen als das. „Hilfsangebote“ von östlicher Seite gab es genug, darunter Lebensmittel und Heizmaterial – beides überlebenswichtig. Aber nein. Lieber hungerten und froren die Berliner in den Ruinen der westlichen Stadt, als dass sie ein weiteres Mal von einem verbrecherischen Regime regiert werden wollten. Hätte es ein stärkeres Votum für die Freiheit geben können?
Unvergessen auch der legendäre Regierende Bürgermeister Ernst Reuter, ohne dessen eindringlichen Appell vom 9. September 1948 vor den Ruinen des Reichstagsgebäudes, „Heute ist der Tag, wo das Volk von Berlin seine Stimme erhebt. Dieses Volk von Berlin ruft heute die ganze Welt. [...] Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt und erkennt, daß ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft, nicht preisgeben könnt!“, die Geschichte möglicherweise anders verlaufen wäre. Es war genau dieser Widerstandsgeist, der die Amerikaner schwer beeindruckte. Man sollte ihn nicht kleinreden – und erst recht nicht ignorieren. Er wurde zum Grundstein eines deutsch-amerikanischen Neuanfangs nach dem Kriege.
Davon zeugt bis heute die Freiheitsglocke im Schöneberger Rathaus, die auf Initiative von US-General Lucius D. Clay in Anerkennung des unbeugsamen Freiheitswillens und Durchhaltevermögens der Berliner ihnen in einem feierlichen Akt am 24. Oktober 1950 übergeben wurde. Sie trägt in englischer Sprache folgende Inschrift: „Möge diese Welt mit Gottes Hilfe eine Wiedergeburt der Freiheit erleben.“ Zusammen mit den Unterschriften von 16 Millionen Amerikanern ist im Turm des Rathauses ein Dokument mit folgenden Worten hinterlegt: „Ich glaube an die Unantastbarkeit und an die Würde des einzelnen Menschen. Ich glaube, dass allen Menschen von Gott das gleiche Recht auf Freiheit gegeben wurde. Ich schwöre, der Aggression und der Tyrannei Widerstand zu leisten, wo immer sie auf Erden auftreten werden.“
In diesen Tagen vor 60 Jahren, am 26. Juni 1963, wiederum besuchte US-Präsident John F. Kennedy in Begleitung von Lucius D. Clay die damals eingemauerte Stadt. Der amerikanische Präsident nannte die Mauer „die abscheulichste und die stärkste Demonstration für das Versagen des kommunistischen Systems.“ Er rief den Berlinern unter anderem zu: „Ich möchte Ihnen im Namen der Bevölkerung der Vereinigten Staaten, die viele tausende Kilometer von Ihnen entfernt auf der anderen Seite des Atlantiks lebt, sagen, daß meine amerikanischen Mitbürger sehr stolz darauf sind, selbst aus der Entfernung die Geschichte der letzten achtzehn Jahre teilen zu können. Denn ich wüßte nicht, daß jemals eine Stadt achtzehn Jahre lang belagert wurde und dennoch lebt mit ungebrochener Vitalität, mit unerschütterlicher Hoffnung, mit der gleichen Stärke und der gleichen Entschlossenheit wie heute West-Berlin.“
Und er stellte fest: „Was von Berlin gilt, gilt von Deutschland: Ein echter Friede in Europa kann nicht gewährleistet werden, solange jedem vierten Deutschen das Grundrecht einer freien Wahl vorenthalten wird. In siebzehn Jahren des Friedens und der erprobten Verläßlichkeit hat diese Generation der Deutschen sich das Recht verdient, frei zu sein, einschließlich des Rechtes, die Familien und die Nation in dauerhaftem Frieden wieder vereint zu sehen in gutem Willen gegen jedermann.“
Zum Schluss führte er aus: „Die Freiheit ist unteilbar, und wenn auch nur einer versklavt ist, dann sind nicht alle frei. Aber wenn der Tag gekommen sein wird, an dem alle die Freiheit haben und Ihre Stadt und Ihr Land wieder vereint sind, wenn Europa geeint ist und Bestandteil eines friedvollen und zu höchsten Hoffnungen berechtigten Erdteils, dann können Sie mit Befriedigung von sich sagen, daß die Berliner und diese Stadt Berlin zwanzig Jahre lang die Front gehalten haben. Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger dieser Stadt West-Berlin, und deshalb bin ich als freier Mann stolz darauf, sagen zu können: Ich bin ein Berliner!“
Es geht nicht ohne Empathie mit den eigenen Landsleuten
Vielleicht kann man das Berührende dieses Teils unserer Geschichte nur nachempfinden, wenn man nicht nur das geteilte Berlin, das geteilte Deutschland noch gekannt, sondern sich auch die Empathie mit seinen eigenen Landsleuten bewahrt hat. Jesko Matthes hatte in einem Leserbrief einmal beanstandet, im Berlin der 1980er Jahre habe sich kein Westdeutscher noch für das Schicksal dieser Stadt interessiert. Schade, dass er mich damals nicht kannte. Ich hätte ihm das Gegenteil beweisen können und wäre doch mit Sicherheit nicht die Einzige gewesen. Auch der Verlag Axel Springer etwa hatte einst journalistisch entschlossen für ein freies Berlin gekämpft. Das alles scheint in Vergessenheit geraten zu sein.
Aber natürlich machte Berlin, machte die Berliner Politik, es einem oft nicht leicht. Besonders die rotgrüne Politik unter Momper hatte meine emotionale Treue zu dieser Stadt auf eine harte Probe gestellt. Mir entging nicht, dass man jede Menge Platz hatte für Wehrdienstverweigerer und Krawallmacher, aber nicht so gern für Flüchtlinge aus dem Osten. Das stieß mir sauer auf. Man betrieb im westlichen Berlin eine Politik der Anbiederung an die SED, die explizit gegen die hart erkämpfte Überlebensfähigkeit des freien Teils Berlins gerichtet war. Am Ende war es der Zusammenbruch der Mauer, der dieser unseligen Politik die Grundlage entzog. Nur aufgearbeitet wurde dieses schmähliche Versagen bis heute nicht. Es ist größtenteils längst in Vergessenheit geraten.
Dennoch. Nicht zuletzt der 17. Juni 1953 und der 13. August 1961 haben mein Berlin-Bild geprägt. Selbst der 13. August 1961 war doch in Wahrheit ein Beweis dafür, dass die Berliner sich eben NICHT einmauern lassen wollten. Es gab Proteste gegen den Mauerbau in beiden Teilen der Stadt. Die vielen geglückten und missglückten Fluchtversuche an der Mauer sprachen zudem eine deutliche Sprache. Da gab es nichts misszuverstehen, nein, es gab durchaus Zeiten, da hatten sich die Berliner ehrenvoll gegen die Zumutungen der Politik gewehrt. Dafür hatten sie bei mir ein Stein im Brett.
Und dann sind da natürlich noch die unvergesslichen Tage und Nächte am und nach dem 9. November 1989. An diesen hatte sich Berlin fest in das Herz der ganzen Welt eingeschrieben, welche selten eine vergleichbare Freude und Selbstlosigkeit eines ganzen Volkes gesehen hatte. Aber lesen Sie hier und hier. Dies wird viel zu selten hervorgehoben und gewürdigt. Das haben die Berliner, das haben die Deutschen nicht verdient.
Das alles ist Geschichte, gewiss. Die Gegenwart und die jüngere Vergangenheit lässt wenig Schmeichelhaftes über diese Stadt sagen. Votieren die Berliner heute noch für die Freiheit? Das Ergebnis der letzten Wahl zum Abgeordnetenhaus zeigt jedenfalls deutlich, dass es keine Mehrheit mehr für eine rotgründunkelrote Politik der Verbote und Gängelungen gibt. Wenn die Berliner CDU es heute vergeigt, so ist dies den Wählern nicht anzulasten. Was diese Partei nach der Wahl aus ihren wohlfeilen Versprechungen macht, liegt in ihrer Verantwortung – nicht in der der Wähler.
Und auch, wie sie mit dem Andenken an die überaus schicksalsträchtige Geschichte dieser Stadt umgeht. Da wären dieser Tage neben einer Geste der Dankbarkeit für den Mut und die Entschlossenheit der Westmächte ebenso die Standfestigkeit und das Durchhaltevermögen der einstigen „Insulaner“ zu würdigen. Apropos: Dafür waren sich weder Ronald Reagan noch John F. Kennedy zu schade. Hier könnten wir Deutschen noch immer von den Amerikanern lernen. Sie hatten uns eine Anerkennung gezollt, die wir unseren Landsleuten nicht versagen müssen und nicht versagen sollten. Nein, diese sind wir ihnen sogar schuldig.
Sabine Drewes ist im freien Teil des damals noch geteilten Deutschlands aufgewachsen und beschäftigt sich seit ihrer Jugend mit diversen Aspekten rund um das Thema Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands.