Waren und sind die Deutschen wirklich so schrecklich untertänig und freiheitsfeindlich? Wagen wir doch einmal einen Blick auf die freundlichen Seiten unserer Geschichte!
Henryk M. Broder schreibt hier, nicht unzutreffend, über die Deutschen: „Alle autoritären Systeme funktionieren nur, weil sie genug Follower haben, keine Überzeugungstäter, sondern eben Nutznießer ...“ Ich kann Herrn Broders Frust ja verstehen, möchte aber zu bedenken geben: Diese Sichtweise, konsequent angewandt, heißt keineswegs, dass die Deutschen da besonders herausragen würden, weil die allermeisten Völker nach dieser Definition Völker der Mitläufer wären, denn autoritäre Systeme stellen auf der Welt die erdrückende Mehrheit dar. Freiheitliche Demokratien befinden sich seit jeher in der Minderheit.
So betrachtet, kann man Deutschland und die Deutschen auch einmal loben, dass sie es in den erlauchten Kreis freiheitlicher Demokratien geschafft haben, trotz all ihrer Schwächen (die andere Länder auch haben) und ungeachtet der Tatsache, dass die Freiheit bedroht ist und immer wieder neu verteidigt werden muss. Ich fände es fatal, den Deutschen so lange einzureden, dass sie freiheitsfeindlich seien, bis sie mehrheitlich selber daran glaubten.
Beginnen wir mit Preußen und dem deutschen Kaiserreich. Sie waren besser als ihr Ruf. Gewiss stellten sie keine Demokratien im klassischen Sinne dar, doch so eingeengt, wie in der Regel behauptet, lebte es sich in ihnen nicht. Beide waren ihrer Zeit weit voraus, sehr viel moderner und offener, als gemeinhin bekannt. Das hat bis jetzt Auswirkungen auf das heutige Deutschland. Allein das Eisenbahnnetz wurde schon im Kaiserreich angelegt, und nach der Reichsbahn und der Bundesbahn profitiert noch immer die Deutsche Bahn davon.
Preußen: modern und weltoffen
Aber nicht nur das. So erinnert René Nehring zu recht an „staatlichen Kontinuitäten, in denen sich die Bundesrepublik Deutschland befindet. Preußen war in seinen großen Jahren, als es in wenigen Generationen von einem nachrangigen Agrarstaat zu einer prägenden Großmacht Europas wurde, gerade nicht reaktionär, sondern – unter anderem mit dem Aufbau einer effektiven Verwaltung, einer durchgehenden Alphabetisierung bis in die letzten Dörfer des Hohenzollernstaates hinein und nicht zuletzt einer konsequenten Rechtsstaatlichkeit auf allen Ebenen – der in vielerlei Hinsicht modernste Staat seiner Zeit.“
Auch schottete sich Preußen keineswegs ab: „Preußens Monarchen waren zwar längst nicht alle den Gedanken der Aufklärung verbunden wie Friedrich der Große, aber sie achteten durchgehend die Freiheit ihrer Untertanen. Der beste Beleg dafür sind die Migrationsströme vom 17. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Die Salzburger Protestanten und die französischen Hugenotten, die orthodoxen Philipponen aus Russland und die Juden aus den verschiedensten Himmelsrichtungen wählten mit Preußen als Zufluchtsort kein Land, in dem ihnen neues Ungemach gedroht hätte, sondern ein neues Zuhause, das ihnen neben Wohlstand vor allem auch Sicherheit bot.“
Gelassenes Kaiserreich
Dem gängigen Bild vom „deutschen Untertan“ hat Alexander Wendt ein Bild entgegengesetzt, welches zeigt, dass die Deutschen durchaus Chuzpe hatten, sich gegen die Obrigkeit und gegen die Zensur zu stellen, und dass der Kaiser toleranter war, als sich die meisten heute vorstellen können oder wollen. Wendt: „An der Publikationsgeschichte von 'Caligula' zeigt sich exemplarisch, welche publizistische Breite in dem heute als illiberale Halbdemokratie verschrienen Kaiserreich existierte.“
Und eben auch wie das Volk damit umging:
„Vor allem kauften die kaiserlichen Untertanen das kleine Heftchen. Innerhalb weniger Wochen gingen 150.000 Exemplare an die Leser. Falls es Buchhändler gab, die Haltung zeigten und 'Caligula' aus Prinzip nicht anboten, dann konnten es nicht viele gewesen sein. Anderenfalls wäre der Verkaufserfolg nicht möglich gewesen. Nach zeitgenössischen Schilderungen erwarben auch tausende Offiziere und Beamte die Schrift, und zwar nicht verschämt und verdeckt, sondern ungeniert. Sicherlich gab es Diederich Heßlinge im Kaiserreich, allerdings weniger, als Kaiserreichskritiker heute annehmen. Ludwig Quiddes 17-Seiten-Werk wurde die einflussreichste deutsche Veröffentlichung der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts.“ Donnerwetter, kann man da nur sagen.
Wendts Fazit sollte uns aufhorchen lassen:
„Die Gelassenheit, mit der das kaiserliche Deutschland auf den Publizisten reagierte, kam in der ersten Linie aus der Stärke seiner Ordnung. Die neunziger Jahre gelten in der Geschichtsschreibung heute als nervöses Jahrzehnt. Aber das Deutsche Reich litt nicht unter einer inneren Dauerhysterie. Das lag nicht zuletzt an der aus heutiger Sicht geradezu märchenhaften publizistischen Vielfalt, in der sich jeder seine Stimme verschaffen konnte.“
Er schlussfolgert weiter: „Im Kaiserreich gab es zum einen die historisch nicht seltene Praxis, durch Allüren und bizarre Auftritte des Herrschers gewissermaßen hindurchzusehen. Gleichzeitig existierte eben eine Liberalität, ja Lässigkeit im Umgang mit Kritik und Spott. Beides hielt einander die Waage.“
Fünf Fakten über Bismarck
Zu Reichskanzler Otto von Bismarck wiederum – ein Name, den die Außenministerin aus unserem historischen Gedächtnis tilgen möchte, weil alles, was sich um ihn und die deutsche Reichsgründung von 1871 dreht, als „igittigittigitt“ gilt – wartet Josef Kraus mit vier Fakten auf, die das vermeintlich tiefdunkeldeutsche Bild doch in einem etwas anderen Licht erscheinen lassen:
„Erstens: Mit der von Bismarck maßgeblich initiierten Reichsgründung wurde Deutschland ein einheitlicher Rechtsstaat. Das Deutsche Reich steht zudem für das Bürgerliche Gesetzbuch, bereits ab 1869 für die Gleichberechtigung der rund 500.000 in Deutschland lebenden Juden, für die Zivilehe und für die Sozialgesetzgebung (mit der Krankenversicherung 1883, der Unfallversicherung 1884 und der Alters- und Invalidenversicherung 1889).
Zweitens: Das Deutsche Reich erfuhr ab 1871 eine gewaltige Dynamik in Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Kultur – im Eisenbahnwesen, im Automobilbau, im Maschinenbau, in der Elektrotechnik, in der Optik, im Bergbau, in der Pharmazie (Deutschland als „Apotheke der Welt“). Und es gab einen Gründerboom. Aus einem Agrarland mit 40 Millionen Bewohnern wurde ein führendes Industrieland mit 65 Millionen Menschen. Basis für den Aufschwung und den Wandel waren auch Bildungsreformen: Neben den Gymnasien etablierten sich Realgymnasien, Oberrealschulen, Realschulen und Fachschulen sowie die Gründung von Forschungsgemeinschaften wie vor allem der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften“ (der Vorgängerin der heutigen Max-Planck-Gesellschaft). Vor 1914 ging jeder dritte naturwissenschaftliche Nobelpreis nach Deutschland.
Die nachfolgenden Punkte übernehmen wir gerne aus einer Kolumne von Theo Sommer vom 14. Juli 2020.
Drittens: Bismarck war nicht antidemokratisch, denn er verstand sich durchaus auf die parlamentarische Auseinandersetzung der Parteien. Allerdings war er gegen die Sozialistische Arbeiterpartei und gegen Gewerkschaften; von 1878 bis 1890 verboten seine Sozialistengesetze deren politische Betätigung, obwohl einzelne Politiker – etwa August Bebel – im Reichstag saßen und durchaus eine Rolle spielten.
Viertens: Halblang müssen wir es auch mit dem Vorwurf machen, dass der Reichsgründer Bismarck ein Kolonialist war. Nicht von ungefähr ist er ein 'widerwilliger Gelegenheitskolonialist' genannt worden. Als ihm die Franzosen 1870 Kolonien in Nordafrika anboten, wenn er dafür auf Elsass-Lothringen verzichte, beschied er sie abschlägig: 'Wir sind nicht reich genug, um uns den Luxus von Kolonien leisten zu können.' Bei der Berliner Kongo-Konferenz von 1887 setzte er durch, dass 'die Rekrutierung von Negertruppen für europäische Kriege' verboten wurde; auch wurde das Verbot des Sklavenhandels festgelegt. Und sehr lange widersetzte er sich den Ansinnen des Kolonialvereins und dem Drängen besonders der Bremer und Hamburger Kaufmannschaft, in Afrika und Asien deutsche 'Schutzgebiete' einzurichten. Noch 1885 notierte er: 'Die Begehrlichkeit unserer Kolonialjingos ist viel größer als unser Bedürfnis und unsere Verdauungsfähigkeit.'“
An dieser Stelle von mir noch ein fünfter Fakt zu Bismarck. Er kannte seine Pappenheimer, die Deutschen, recht gut. Das zeigt sich in einem Zitat des Reichskanzlers:
„Die Neigung, sich für fremde Nationalitäten und Nationalbestrebungen zu begeistern, auch dann, wenn dieselben nur auf Kosten des eignen Vaterlandes verwirklicht werden können, ist eine politische Krankheitsform, deren geographische Verbreitung leider auf Deutschland beschränkt ist.“
Mehr als blinder Gehorsam
Gegen die verbreitet negative Sicht auf das Verhältnis der Deutschen zur Freiheit möchte ich an dieser Stelle noch ein Buch für den Gabentisch empfehlen: „Freiheit in Deutschland. Geschichte und Gegenwart“ von Gerd Habermann. Was den Reiz dieses Buches ausmacht, bringt Prof. Dr. Erich Weede von der Universität Bonn auf den Punkt: „In unserem Land haben viele Leute das Gefühl, dass man Deutschland und die Freiheit nicht gleichzeitig lieben kann. Wer Gerd Habermann liest, lernt hoffentlich Deutschland und die Freiheit gleichzeitig zu lieben.“ Diesem Wunsch kann ich mich nur anschließen.
Der Autor, Prof. Dr. Habermann (Universität Potsdam), hat in seinem Werk einiges über die angeblich so duckmäuserischen und freiheitsfeindlichen Deutschen geradegerückt. Dafür ist ihm zu danken. An seine Ausführungen immer wieder zu erinnern, dürfte sehr viel mehr bringen, als sich endlos am „deutschen Untertan“ abzuarbeiten und damit dieses Bild zu zementieren. Und: Wenn uns das wirklich in den Genen stecken sollte, dieses Untertänige, dann bräuchten wir uns gar nicht mehr um die Freiheit zu bemühen.
Im ersten Kapitel seines Buches erklärt Habermann seine Intention: „Dieses Buch will eine andere Geschichtslinie der Deutschen zeigen – als Träger einer reichen politischen Kultur der Freiheit, des Universalismus, einer fast unglaublichen Vielfalt politischer Institutionen und dazu einer reichhaltigen Freiheitsliteratur. Die Deutschen waren nirgends und zu keiner Zeit nur ein Land des obrigkeitstreuen Gehorsams, einer 'terra oboedientiae'.
Jeder Libertäre wird staunen
Habermann zeigt in seinem Buch, „dass es in der deutschen Geschichte ('deutsch' als kultureller Begriff) wunderbare Beispiele von Nicht-Zentralisation der Macht gab: ein Freiheitsbewusstsein unabhängiger Bauern und Bürger; stolze, konföderierte Städte; um Wohltaten für ihre Bürger konkurrierende Kleinstaaten mit liberal 'aufgeklärten' Herrschern, ja sogar 'Frauenstaaten'. Jeder Libertäre wird staunend zur Kenntnis nehmen, dass es sogar unabhängige Dörfer, ja einzelne freie Bauernhöfe, auch Hunderte von kleinen Ritterstaaten gab, deren Vielzahl allein die Macht jedes Einzelnen reduzierte, von politisch selbständigen Bistümern, Klöstern und Abteien abgesehen.“
Was macht das Buch von Habermann so wertvoll? Ein Zitat von Lothar W. Pawliczak bringt das einleuchtender und treffender zum Ausdruck, als ich es je könnte: „Dem miesepetrischen deutschen Mainstream, der Deutschland, die Deutschen und sich selbst unermüdlich historischer Fehltritte und Verbrechen anklagt, der bei deutschen Dichtern und Denkern akribisch nach Verfehlungen fahndet, um sie beckmesserisch mit unhistorischen Verdammungsurteilen zu überziehen und um sich selbst dazu zugleich in einem Gefühl moralischer Überlegenheit zu suhlen, setzt er eine andere Geschichtslinie der Deutschen entgegen [...]“
„Tiefes Verlangen nach Zugehörigkeit“
Warum wäre es bitter nötig, der so einseitig negativen Sicht auf unsere Geschichte etwas entgegenzusetzen? Gerd Habermann beruft sich auf Herfried Münkler, wonach jede Nation zu ihrem Selbstverständnis einer „großen Erzählung“, der Symbole und Mythen, bedürfe, um ihren Zusammenhalt und ihr Überleben zu sichern. So liest man in Habermanns Buch: „Zu den Elementarbedürfnissen der Menschen gehört eben auch ein tiefes Verlangen nach Zugehörigkeit. Warum nicht die große Erzählung von der Freiheit und dem Wettbewerb in der deutschen Geschichte?“
Und Pawliczak ergänzt: „Wir müssen mit der Schande leben, in Deutschlands dunkelsten Zeiten von den Grundsätzen der Freiheit abgefallen und brutaler Machtpolitik verfallen zu sein. Wer darob aber die Besinnung auf die großen Traditionen verwirft, gibt die Kulturleistungen der Deutschen auf, gibt sich selbst als Deutscher und als freiheitliche Person auf.“ Schöner könnte ich es auch nicht sagen.
Man darf und sollte an dieser Stelle – ebenso wie Habermann in seinem Buch – auch daran erinnern, dass nicht zuletzt der 17. Juni 1953 sowie die Ereignisse im Sommer und Herbst 1989 und im März 1990 (siehe hier und hier und hier und hier) der Mär von den freiheitsfeindlichen Deutschen grandios widersprochen haben. Umso weniger verständlich ist, dass all die vielen positiven Beispiele aus der deutschen Geschichte, die Habermann in seinem Buch zusammengetragen hat, und mit denen wir uns guten Gewissens identifizieren könnten, so gut wie nie erwähnt werden – von der Politik und den Medien genauso wenig wie von anderen Institutionen. Das ist allerdings dem ganz normalen deutschen Bürger nicht anzulasten. Und auch nicht, wenn dem Nachwuchs das Wissen darüber in der Schule vorenthalten wird.