Von Wolfgang Mayr.
Die reiche und rote Region Emilia-Romagna will mehr Autonomie. Der Präsident der Region, Stefano Bonaccini von den Sozialdemokraten PD, vereinbarte bereits mit Ministerpräsidenten Gentiloni, die Region auf den Weg der Autonomie zu bringen. Eine Vereinbarung, getroffen vor den Autonomie-Referenden in den nicht weniger reicher Regionen Venetien und Lombardei, verwaltet von einer Mitte-Rechts-Koalition.
Mehr Autonomie ermöglicht die Verfassungsreform von 2001, initiert von der damaligen Mitte-Links-Regierung. Der Artikel 116 der Verfassung sieht vor, dass die Regionen in Absprache mit der Zentralregierung eine Autonomie aushandeln können. 16 Jahren dauerte es, bis eine Region die Umsetzung des Artikels 116 der Verfassung in Anspruch nahm. Der emilianische Präsident verhandelte mit dem mächtigen Staatssekretär Gian Claudio Bressa, einem Parteifreund, bereits die ersten Schritte aus. Ein Zufall?
„Unglaublich, aber wahr: 16 Jahre lang ist es keiner Region eingefallen, den Artikel 116 zu beanspruchen“, kommentierte auf dem Nachrichtenportal saltobz Gerhard Mumelter die Phantasielosigkeit der Regionalpolitiker Italiens. 33 „Kompetenzen“ -Aufgabenbereiche von der Bildung über den Denkmal- und Umweltschutz, von der Ziviljustiz über die Energie bis hin zu den internationale Beziehungen - können vom Staat auf die Regionen übertragen oder mit dem Staat geteilt werden. Für jede Region muss die Regierung einen Gesetzentwurf vorlegen, der vom Parlament mit absoluter Mehrheit genehmigt werden muss. Ein schwieriges und besonders langwieriges Unterfangen.
Mit Referenden schneller zur Autonomie?
Zwei weitere reiche Regionen, Venetien und die Lombardei, wollen mit ihren nicht bindenden Volksbefragungen die Autonomie-Verhandlungen beschleunigen. Beiden Regionen stehen Politiker der Lega vor, Luca Zaia in Ventien und Roberto Maroni in der Lombardei. Zaia war während einer der Regierungen von Silvio Berlusconi kurzfristig Landwirtschaftsminister, Maroni Innenminister. Viel Föderalistisches setzten die beiden Legisten damals nicht um, jetzt wollen sie es offensichtlich nachholen.
Venetiens Präsident Zaia forderte nach dem erfolgreichen Referendum eine Autonomie wie Südtirol, die Region Venetien soll ein Sonderstatut erhalten. Zaia will alle 33 möglichen Kompetenzen für seine Region und die entsprechende Verankerung in der Verfassung. Vorbild Südtirol. Zaia will mehr als sein lombardischer Kollege Maroni, der sich mit jenen 27 Kompetenzen zufrieden geben will, die der Zentralstaat nicht exklusiv für sich beansprucht, wie Bildung, Umweltschutz, Ziviljustiz, Kulturgüter, Umweltschutz, Energie und internationale Beziehungen.
Maroni tritt leiser auf, in der Lombardei beteiligten sich nur 37 Prozent der Wähler, ein Drittel also. In Mailand waren es gar nur 25 Prozent. Die Wähler von Mitte-Links boykottierten das Referendum, offensichtlich auch die Berlusconi-Anhänger. Trotzdem, Maroni hat ein zustimmendes Votum erhalten, mit der Regierung in Rom über mehr Selbstverwaltung zu verhandeln. Weniger zurückhaltend agiert Zaia, fast 60 Prozent Wahlbeteiligung, fast alle für Autonomie. Ein Ereignis, das dem Fall der Berliner Mauer gleicht, schwärmte Zaia. "Jetzt bleiben 90% der Steuern in der Region", verkündete er.
Nur zu den eigenen Konditionen
Beide Regionen überweisen jährlich an die Regierung 100 Milliarden Euro, im Verhältnis deutlich mehr als die westdeutschen an die ostdeutschen Bundesländer. Zurück fließt spürbar weniger, das hat aber mit Egoismus nichts zu tun, sagt der Bozner Sozialwissenschaftler Thomas Benedikter. Die beiden Regionen gelten als die Wirtschaftsmotoren des Landes, sorgen mit ihrem ökonomischen Schwung auch für eine wirtschaftliche Aufhellung in anderen Regionen. Die hohe Steuerlast bremse aber immer wieder den Motor und damit auch die gesamtstaatliche wirtschaftliche Erholung. Zaia und Maroni betonen, dass sie sich zur Solidarität mit dem Rest des Landes bekennen, aber zu den eigenen Konditionen.
Derzeit überweist die Regierung an die nicht-autonomen Regionen das Geld direkt. Die Summen fallen mehr als bescheiden aus, gemessen am sogenannten residuo fiscale, den von den Regionen eingenommenen und an den Staat übertragenen Steuergeldern. Die Differenz zwischen dem, was ein Bürger an Steuern und Abgaben bezahlt und dem, was er an Dienstleistungen zurückbekommt, ist erheblich. Die Lombardei beziffert diesen Betrag auf 54 Milliarden, Venetien auf 15 Milliarden jährlich.
Das Nord-Süd-Gefälle
Die Zahlen bestätigen das Nord-Süd-Gefälle: Während jeder Lombarde jährlich rund 4.000 Euro "ausgibt", "verdient" jeder Sarde ohne eigenes Zutun fast 3.200 Euro. Jeder Südtiroler trägt jährlich mit 2.200 Euro zum gesamtstaatlichen Steueraufkommen bei, jeder Bewohner Venetiens mit etwas mehr als 700 Euro.
Mit einem satten Teil der Steuergelder aus dem Norden werden die Schulden der südlichen Regionen abgezahlt. So erhält die Region Sizilien jährlich 10,6 Milliarden Euro, Sardinien 5,2, Kalabrien 5,8, Kampanien 5,7 und Apulien 6,4 Milliarden. Schon 2015 versuchte Venetiens Präsident Zaia mit einem Antrag auf eine Volksabstimmung das Verteilungssystem auszuhebeln. Mit dem Ziel, 80 Prozent der im Veneto erhobenen Steuern in der Region zu behalten. Das Verfassungsgericht lehnte die Volksabstimmung als verfassungswidrig ab. Volksabstimmungen über das Steuersystem sind in Italien nicht zulässig.
Zaia und seine Forderungen schreckten den Regierungsapparat auf. Für Staatssekretär Bressa vom PD ist es eine Provokation, strategisch gut getimet vor den anstehenden Parlamentswahlen im Frühjahr. Das von Zaia angestrebte Sonder-Statut für Venetien ist in der Verfassung nicht vorgesehen, diese müsste geändert werden, lehnt Bressa die Zaia-Wünsche ab.
Italien bleibt unteilbar
Derzeit gibt es fünf autonome Regionen mit Sonderstatuten, also weitreichenden Autonomien, mit sehr unterschiedlichen rechtlichen und geschichtlichen Hintergründen. Dabei bleibt es, bleibt Bressa stur. Er bot Zaia allerdings Verhandlungen an. Voraussetzung dafür ist ein entsprechendes Regionalgesetz, das der Regionalrat verabschieden muss. Bressa verweist auf die Emilia-Romagna, den regionalen Musterschüler.
Im Vorfeld der venezianischen und lombardischen Referenden meldete sich auch das italienische Verfassungsgericht zu Wort. Italien ist eine unteilbare Republik, erinnerten die Höchstrichter die Lega-Politiker an die Kernaussage der Verfassung. Mit dieser Feststellung bezogen sich die Verfassungsrichter auf die angestrebte Steuerhoheit, die einem Steuer-Sezessionismus gleichkommt. Das schmeckt nach „Wehret den katalanischen Anfängen“.
Schützenhilfe bekam Bressa auch vom ehemaligen Präsidenten des Verfassungsgerichts, Ugo De Siervo. Diese kritisiert Zaia scharf wegen seiner Forderung, Venetien mit einem Sonderstatut auszustatten: Zaia und seine Regionalregierung ließen die Bürger für mehr Autonomie abstimmen und nicht für ein Sonderstatut.
Woher der Wind weht
Der neue autonomistische Wind, unter dem Segel der Lega in Venetien und in der Lombardei, sorgt für Nachahmer. Auch in Ligurien (Mitte-Rechts), in Piemont (Mitte-Links) – beides norditalienische Regionen – und in der süditalienischen Region Basilicata (Mitte-Links) werden autonomistische Wünsche artikuliert. Auch sie setzen auf Referenden.
Vor einem Jahr wollte der damalige Ministerpräsident Renzi die Verfassung grundlegend umkrempeln. Mit der Reform plante Renzi die restlose Streichung der minimalen Autonomie für die Regionen. Dagegen gab es kaum Protest und Widerstand. In der sogenannten Staat-Regionen-Konferenz warnte nur der Vertreter des autonomen Südtirols vor der geplanten zentralistischen Reform. Letztendlich waren es die Bürger, die im Dezember 2016 beim Referendum die Reform ablehnten.
Damit blieb die Verfassungsreform von 2001 in Kraft, die den sogenannten regionalismo differenziato vorsieht, also mehr regionale Autonomie. Warum die Regionen erst jetzt die Chance erkennen? Mehr Autonomie bedeutet mehr Macht aber auch eine größere Verantwortung. Sonderlich scharf darauf sind viele der Regionalpolitiker nicht. In der Ära Berlusconi kam die Lega unter die Räder der Zentralisten von Forza Italia und Alleanza Nazionale. Das große föderalistische Projekt blieb im Gestrüpp der beiden anderen Parteien hängen.
Der Autonomie-Frühling im Herbst stärkt innerhalb der Lega den traditionellen Flügel, die norditalienischen Föderalisten um Zaia und Maroni. Trotzdem reklamierte Lega-Chef Salvini die Referendums-Siege für sich, er kündigte Unterstützung für alle Regionen an, die per Volksvotum ihre Autonomie anstreben.
Ein halbes Jahr vor den Parlamentswahlen knirscht es im Gebälk des Staates. „Die Regierung wird gut beraten sein, angesichts der Aufregung um Katalonien und der wachsenden Krise der Nationalstaaten in Europa den Anliegen der Regionen entgegenzukommen – unabhängig davon, ob es sich um leise Autonomieforderungen wie in der Emilia Romagna handelt oder um lautstarke wie im Veneto“, so kommentierte der Bozner Journalist und Italien-Kenner Gerhard Mumelter den italienischen Autonomie-Frühling.