Von Ben Krischke.
In den Jahren 2006 und 2010 stimmten 94 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen der Aussage zu, sie hätten auf die Politik sowieso keinen Einfluss. Ganz egal wie sie reden, ob sie protestieren, wählen. Politikverdrossenheit war eines der großen Themen. Hatten im Jahr 1972 noch über 91 Prozent der Wähler bei der Bundestagswahl abgestimmt, waren es im Jahr 2013 nur noch knapp 71 Prozent.
Wie kann es sein, wunderten sich politische Journalisten, Parteimitglieder und Forscher, dass den Bürgern die Möglichkeit gegeben wird, mitzugestalten, aber so viele Wähler an einer politischen Teilhabe gar nicht interessiert sind? Und wie kann es sein, wunderte ich mich 2013, dass einige meiner Kommilitonen entweder gar nicht wählen gehen oder – was mir fast noch schlimmer vorkam – es als eine lästige Pflicht empfanden. Ein bisschen wie den Müll runter bringen. Ich habe übrigens Journalistik studiert. Ein Studium also, in dem sich tendenziell sogar mehr Studenten für Politik interessieren als anderswo.
Mittlerweile ist – wie man in München sagt – viel Wasser die Isar runtergeflossen. AfD, Pegida, Euro, „Islamischer Staat“ und die „Flüchtlingskrise“, die eher eine Migrationskrise ist, haben ihren Teil dazu beigetragen, dass niemand mehr von Politikverdrossenheit spricht. Insofern der Begriff nicht als eine von vielen hanebüchenen Erklärungen für den Erfolg der AfD herhalten muss.
Trauerspiel auf der Theaterbühne Deutschland
Vor wenigen Tagen erst saß ich mit Freunden und Bekannten zusammen, und wir diskutierten einige Bier und mindestens zwei Kurze lang nicht nur über Trump, Asylbewerber und die AfD, sondern auch über die Bundespräsidentenwahl in Österreich. In Österreich! Darunter ein Bauingenieur, eine Kunstpädagogin und andere, die sich plötzlich auch dafür interessieren, was in der Alpenrepublik vor sich geht. Politik ist wieder Thema. Eigentlich eine gute Nachricht, möchte man meinen.
Aber: So ruhig und sachlich diese Diskussion verlief, in letzter Zeit wünsche ich mir immer öfter die Politikverdrossenheit zurück. Dass Menschen wieder sagen: „Ich habe keine Ahnung davon, also lass' uns über etwas anderes reden“. Dass politische Themen wieder für die Politik- und Wirtschaftsressorts reserviert sind. Dass AfD und Migration kein Thema mehr auf Plattformen sind, deren publizistische Ergüsse sich ansonsten um Themen wie Erasmus-Semester, Liebeskummer und die Klitoris drehen. Weniger AfD, mehr Bundesliga, weniger Trump, mehr Wetter, ja, weniger Pegida, mehr Klitoris. Das wäre schön.
Die Politikverdrossenheit in Deutschland war ohne Frage unangenehm und dennoch war sie viel angenehmer als die politische Hysterie und Paranoia, die gerade zur Volkskrankheit wird. „Sag mir, wo du politisch stehst, und ich sage dir, ob du mein Freund oder ein Arschloch bist“, ist das Motto der Stunde. Heißt eigentlich: Sag mir, wie du zur Flüchtlingspolitik stehst und ich sage dir, ob du ein guter Mensch oder ein rechter Hetzer bist. Es ist ein Trauerspiel, das wir auf dieser Theaterbühne namens Deutschland gerade erleben – und irgendwer hat uns mit Kabelbinder am Stuhl fixiert.
Dass man seinem politischen Gegner nicht einmal mehr gegenüberstehen muss, weil in den sozialen Medien nach Herzenslust umgedeutet, beschimpft und denunziert werden kann, macht es gleichzeitig jenen besonders einfach, denen es an sachlichen Argumenten mangelt. Schließlich reicht es heute schon aus, mit „Buzzwords“ um sich zu werfen, um schnell und unkompliziert andere zu mobilisieren, denen es ebenfalls an sachlichen Argumenten mangelt: „homophob“, „islamophob“, „rechtspopulistisch“, „sexistisch“ und so weiter. Der Zweck heiligt die Unsachlichkeit.
Politikverdrossenheit? Wie angenehm!
Besonders plakativ macht das aktuell Gerald Hensel von der Werbeagentur Scholz & Friends, die – das nur am Rande – unter anderem für die FAZ-Kampagne „Dahinter steckt immer ein kluger Kopf“ verantwortlich ist. Hensel jedenfalls will sich nicht mehr damit zufrieden geben, auf Twitter und Facebook Menschen ins Abseits zu schimpfen, deren politische Einstellung nicht in sein mindestens sehr linkes, wenn nicht linksradikales Weltbild passen. Nein, Herr Hensel stellt mit seiner Aktion #KeinGeldfuerRechts jetzt auch Firmen an den Pranger, die aus seiner Sicht bei den Falschen werben, bei „Salon-Faschos“, wie er auf seinem Blog schreibt. Antifa in digital.
Die Falschen: Zu denen gehören auch alle Autoren, die bei der Achse des Guten publizieren und – natürlich – auch alle Leser, die sich erdreisten, dem Geschriebenen Aufmerksamkeit zu schenken. Das ist ein bisschen wie „Kauft nicht bei Juden“, hat Henryk Broder treffend kommentiert. Hensel selbst verteidigt seine Aktion übrigens mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung. Ich glaube – reine Spekulation! –, dass es ihm eigentlich darum geht, sich ein wenig zu profilieren und so ein bisschen Aufmerksamkeit zu bekommen, die er anderswo ganz doll vermisst. Der Arme.
Ja, die Politikverdrossenheit war unangenehm. Aber dennoch, das muss man ihr zugute halten, war sie auch ein Filter, der mal mehr, mal weniger garantierte, dass sich in den politischen Prozess vor allem Menschen einmischten, die der Komplexität des Ganzen wenigstens teilweise gewachsen waren. Mindestens aber war Politik eben Politik, Werbung eben Werbung und Klitoris eben Klitoris. Das waren noch Zeiten.
Ben Krischke, Jahrgang 1986, lebt und arbeitet als Journalist und freier Autor in seiner Wahlheimat München. Er schreibt über Politik, Medien und die Schattenseiten der Political Correctness.