„Anfangs kam der Polizeichef ein Mal im Monat zu mir“, erzählte unser Wirt, „dann öfter. Er kommt immer mit Gefolge. Zwei, drei Untergebene, seine Frau, irgendwelche Verwandte. Sie spachteln reichlich, nur das Teuerste von der Karte. Trinken importiertes Zeug, nicht dieses Gesöff von der Insel. Zahlen tun sie nie.“
Er lachte. Wir: perplex. Schlechter Deal, nicht wahr? Rainer, der großzügige Bewirter, fand das nicht. „Wisst ihr, ein Polizist hat hier unten viel zu melden. Besser, man stellt sich gut mit ihm. Bevor er am ersten Abend aus meinem Lokal ging, zog er seine .45er Automatik aus dem Halfter. Legte die Knarre auf den Tisch und mir einen Arm um die Schulter. Sagte: Tu eres mi amigo. Du bist mein Freund. Wenn ich was für dich tun kann, lass es mich wissen. Rainer, flink von Kapee: „Hier unten kannst du als Ausländer einen Freund gebrauchen. Hat sich schnell rumgesprochen, dass der Oberbulle bei mir verkehrt.“
Mit Rainer war es so: Er hatte sich vor Jahren aus dem Milieu der Spielautomatenaufsteller abgeseilt. Wohl nicht ganz freiwillig. Denn Revierkämpfe am Rhein wurden mit Baseballschlägern ausgetragen, deutete er an (unser Wirt war ein begnadeter Erzähler, vermied es aber, bei bestimmten Punkten allzu konkret zu werden). Wir vermuteten, dass der Mann etwas Dreck am Stecken hatte und deshalb in die Dominikanische Republik mehr getürmt war denn übergesiedelt. Der Inselstaat unterhielt kein Auslieferungsabkommen mit der Bundesrepublik.
Auf der Halbinsel Samana, wo anno 1990 noch kein Massentourismus loderte, hatte Rainer ein hübsches, kleines, im spanischen Stil gebautes Hotel übernommen, nebenan eine Bungalowanlage hochgezogen. Sein Restaurant war klasse, der Fisch fangfrisch. Er könne gut leben von seiner Anlage, sagte er. Kein Baseballschlägerstress mehr! Was wir aber auch verstanden: Ein Ausländer, der auf einer Karibikinsel geschäftlich reüssiert, weckt Begehrlichkeiten. Irgendwem muss er Schutzgeld zahlen. Besser, er gibt es gleich dem Richtigen.
Rainer hatte rasch erkannt, wie der Hase hoppelt
Rainer hatte einen rassistischen Köter (der verbellte alle Besucher, die dunkler ausschauten als Ritters Schokoklassiker „Voll-Nuss“) sowie einen noch rassistischeren Koch, dessen Hautfarbe leicht heller war als vollnuss. Der Koch hielt alle, die brauner waren als er, für „dumme Neger“, ergo für Migranten aus dem ruinierten Nachbarstaat Haiti. Haitianer gelten in der DomRep so ziemlich als das Letzte. Kurz, wir erfuhren Interessantes über den sozialen Stellenwert von Hauttönen in karibischen Gefilden. Leider verhält es sich nicht mal in Havanna sehr viel anders.
Zurück zu unserem Wirt. Das große Fressen des Polizeichefs konnte Rainer verschmerzen, zahlte er doch kaum Steuern. Alle sechs Monate oder so suchte ihn ein lokaler Steuerbeamter auf. Nach einem ausgiebigen Gastmahl, welches – Sie ahnen es – aufs Haus ging, setzten sich die beiden zusammen und fertigten eine Steuererklärung aus der Lamäng an. Sie fiel gewöhnlich sehr moderat aus, so dass Rainer es sich leisten konnte, dem Mann vom Fiskus beim Abschied ein angemessenes Honorar bar auf die Kralle zu entrichten. Rainer hatte rasch erkannt, wie der Hase auf der Insel hoppelte. Als gelernter Ganove kam er mit Gaunern aller Breiten instinktiv klar.
Wir fanden seine farbigen Erzählungen sehr amüsant, hielten sie allerdings für typisch bananenrepublikanisch. In Deutschland sorgen Polizei und Justiz für Schutz und Recht, oder? Erst nach und nach ging uns auf: Eigentlich zahlte ja alle Welt Schutzgeld. Schon immer. Auf irgendeine Art. Ja, auch wir. Dumm nur, wir drückten daneben auch noch Einkommenssteuern ab. Und zwar nicht zu knapp.
Ein frühes, noch ganz harmloses Beispiel für eine Schutzgeldlöhnung aus meiner Tasche war ein Wohnungswechsel. Ich hatte lange in einem altehrwürdigen, baulich allerdings etwas hinfälligen Quartier nahe der schicken Hamburger Innenstadt gewohnt, das vor 40 Jahren von sogenannten kleinen Leuten bevölkert war. Lädchen, Handwerksbetriebe, bezahlbare Lokalitäten („Ohne Maggi, Knorr und Pfanni, Mittagstisch bei Tante Anni“). In verquarzten Kneipen wie dem “Kandelaber“ hockten sie nächtens am Tresen und laberten dittschemäßig. Herrlich! Freiflächen kündeten noch von den verheerenden Bombardements im Juli/August 1943, die als Hamburger Feuersturm in die Annalen eingingen.
Es wurde bunter, aber nicht vielfältiger
Dann beschloss der Senat, das Viertel zu sanieren. Manche Häuser wurden abgerissen, neue Häuser hochgezogen. Auf den Freiflächen entstanden jede Menge gelb geklinkerte Blöcke für Sozialwohnungen. Sehr ordentliche Substanz, kein Trabantenstadtschrott. Die Zahl der Bewohner des Viertels verdoppelte sich. Allerdings, die Hinzukommenden mischten sich nicht mit den Eingesessenen. Was auch - aber durchaus nicht nur - daran lag, dass reichlich Zuzug aus Anatolien stattfand.
Es wurde bunter, aber nicht vielfältiger, auf jeden Fall lärmiger in meinem Kiez. Mehr Müll als früher lag auf den Straßen und in den Ecken. Gefährlicher wurde es nicht. Schlägereien passierten so oft beziehungsweise so selten wie vor der Sanierung. An Fälle von Messerstechereien kann ich mich nicht erinnern. Periodisches Gezänk eines Paares aus einer Wohnung gegenüber, das mich spätestens aus dem Schlaf riss, wenn dort Möbel aus dem Fenster flogen, wurde auf Hamburgisch abgehalten.
Irgendwann war der struppige Charme des Viertels für mich perdu. Ich wäre trotzdem geblieben, wäre nicht eine weitere Heimsuchung eingetreten. Plötzlich avancierte die Gegend zu einem Hotspot für Kneipengänger aus der ganzen Stadt. Jahrelang terrorisierten Gäste von Bier- und Weinschänken die Anwohner mit Geschrei, Pisse und Kotze. Rund um den Großneumarkt gab es auf dem Höhepunkt des Booms 26 Lokale, frequentiert auch gern von Provinzdödeln mit Nummernschildkürzeln wie WL, PI, OH. An einem einzigen Sommerwochenende zählte die Polizei 5000 Leute auf dem Großneumarkt. Anwohner protestierten, doch die Lokalpresse schwieg fein still. Deren Vertreter becherten nämlich fleißig in angesagten Weinlokalen, von den Wirten freigehalten.
Rainer ist überall!
Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und griff in meine Schutzgeldkasse. Zahlte einen fetten Abstand und zog in eine viel teurere Wohnung auf der Uhlenhorst, nahe der Außenalster. Da war dann endlich a Ruh. Bis heute findet man dort selten Müll auf den Wegen, und nach Graffiti muss man lange suchen. Auf der Uhlenhorst, diese Adresse ist auch kein Turf von jungen Männern mit Undercut-Frisuren oder Frauen mit schwarzen Kopftüchern. Auf eine Art, scheint es mir, hatte sich der kostspielige Umzug gelohnt.
Gut, meine Erfahrung von damals ist selbstredend Kindergeburtstag, verglichen mit dem, was heutzutage nicht wenigen Menschen widerfährt, in nicht wenigen Städten. Ich habe die Geschichte nur aufgeschrieben, weil sie in meinen Augen zeigt: Wir alle waren, wie der oben erwähnte Rainer, schon mal Schutzgeldzahler. Und wir werden künftig noch viel öfter Schutzgeld zahlen. (Korrektur: Wir alle stimmt natürlich nicht. Es muss heißen: alle, die Geld für ihren Schutz erübrigen können. Die anderen sind gekniffen.)
Wer nicht gerade am Hamburger Speersort längliche Artikel verfertigt (vis-à-vis der dort residierenden „Zeit“-Redaktion befindet sich witzigerweise die hanseatische Dependance einer anderen Illusionsfabrik namens Scientology), wer also nicht von sämtlichen guten Geistern des Common Sense verlassen wurde, der wird am Arbeitsplatz, im Freundeskreis oder an sich selber feststellen: das Alltagsverhalten vieler Menschen ändert sich. Es wird darüber nicht groß gesprochen. Es geschieht einfach. In diesem Land, in dem wir gut und gerne leben.
Sehr zu Freude des Taxigewerbes, zum Beispiel. Auf bestimmten Routen leistet man sich zu bestimmten Zeiten jetzt lieber eine Kraftdroschke, als durch verwahrloste Untergründe zu tapern und auf eine U-Bahn zu warten. Da kann manches passieren, und es ist auch schon passiert.
Augen zu und durch würde ich nicht empfehlen
Eine Bekannte, die in ihrem Büro in der Hamburger Innenstadt oft lange schafft, nimmt in warmen Nächten neuerdings ein Taxi, obwohl sie lieber sportlich nach Hause radeln würde. Dabei führt ihr Sechs-Kilometer-Weg eigentlich durch ein früher total sicheres Stück Hamburg.
Wie das kommt? Nun, am Alsteranleger vor der noblen Einkaufsmeile Jungfernstieg, wo meine Bekannte früher entspannt entlang strampelte, versammelt sich – ungeachtet der vor einiger Zeit mit Grund aufgestellten Halogen-Lampenmasten – sommers oft ein vielfältiges Völkchen. Es sorgte schon für Großeinsätze der Polizei, lungert daselbst und in der Umgebung aber unbeeindruckt weiter rum.
Klar, frau kann ein Risiko eingehen. Augen zu und durch. Würde ich aber nicht empfehlen. Die Chancen, vom Rad getreten, beraubt und/oder vergewaltigt zu werden, stehen beträchtlich besser als die, dass ein deutsches Atomkraftwerk den Gau erlebt.
Hamburgs Polizeisprecher fabulieren, wenn sie von Journalisten mal auf richtig fiese Gegenden der „schönsten Stadt der Welt“ (Hamburger Selbsteinschätzung) angesprochen werden - Gebiete, wohin sich nur komplett Ahnungslose verirren – gern was von „gefühlter Bedrohung“ durch „Bildung größerer Männergruppen, wie sie für den benannten Kulturkreis üblich sind“.
Jetzt bitte nichts gegen die schwergeprüfte Polizei. Ich war mal als junger Journo mit Fahndern auf Tour um den Hamburger Hauptbahnhof und darf sagen: Nichts ekelt hartgekochte Praxisbullen mehr an als das politisch-korrekte Geblubber karrieregeiler Lautsprecher, welche ihren vom Hamburger Senat verpassten Maulkorb mit Wonne vor sich her tragen.
Don’t blame the cops
Mal eben nach Einbruch der Dunkelheit spontan joggen? War gestern, liebe Schwestern. In Hamburger Stadteilen wie Wilhelmsburg, Hammerbrook oder Harburg ist so etwas mittlerweile, nun ja, mutig. Nehmt lieber für 15 oder 20 Euro ein Taxi an die Alster, wo Safe Jogging noch geht. An der Alster wohnen Betuchte, Prominente, auch der eine oder andere Politiker. Zivilstreifen sind dort gut unterwegs. Was ist bei einer Wohnung oder einem Haus wirklich wichtig? Der Makler sagt: Lage, Lage, Lage.
Leider können nicht alle Menschen an der Alster logieren. Schutzgeld müssen auch die Bewohner bescheidenerer Stadtviertel entrichten. Dort wird aufgeknackt, was der Kuhfuß hergibt. Der Trend geht - zumal wenn wehrlose Alte ausbaldowert wurden – zum Einbruchsraub; Zusammenschlagen der Opfer oder gelegentlich auch deren Ermordung inklusive. Während „investigative Journalisten“ - ulkiger Pleonasmus übrigens – stolz wie Bolle gerade ihre „Paradise Papers“ präsentieren, sorgen sich gewöhnliche Zeitgenossen mehr darum, ob ihre Bude noch bewohnbar ist, wenn sie von der Arbeit heimkommen.
Seit etlichen Jahren durchkämmen Einbrecherbanden systematisch das Land, clever gesteuert, laut Polizei, zumeist aus Ost- und Südosteuropa. Dass derlei Beutezüge stark zunehmen würden, war schon klar, als ab dem Jahr 2000 die Aufnahme von wirtschaftlich bankrotten Gebilden von der Resterampe des Sozialismus - wie Rumänien oder Bulgarien – in die EU vorbereitet wurde.
Jede halbwegs verantwortungsbereite Regierung hätte spätestens zu dieser Zeit eine massive Verstärkung der Exekutivorgane und der Justiz beschließen müssen. Sokos für organisierte Kriminalität hätten gebildet, neue Haftanstalten gebaut werden müssen. Jeder wusste ja, wer da horch-von-draußen-rein kommen würde. Keineswegs bloß Krankenpfleger oder Servierkräfte. Sondern auch richtig schlimme Finger, frühere Geheimdienstler, gut vernetzte Ex-Staatskriminelle.
Nach erfolgter Kapitulation der deutschen Staatsgewalt vor dem Einbruchstsunami wurde Michel streng ermahnt , endlich seine private Schutzgeldschatulle aufzutun. Bring deine Behausung sicherheitstechnisch gefälligst auf Vordermann! Die zehn- oder dreißigtausend Euro dafür müssen ja wohl drin sein, oder? Wenn nicht, selber schuld.
In Hamburg plötzlich Sehnsucht nach Samana
Ja, es gibt viele frische Möglichkeiten zur Schutzgeldentrichtung. Noch mal ein Döntje aus meiner Region: in Metronom-Zügen zwischen Hamburg und Bremen oder vice versa zu reisen ist natürlich bequemer und billiger, als die Strecke mit dem Auto zu machen. Nur sind im Metronom abends öfters junge Männer aus Großfamilien an Bord, welche in beiden Hansestädten Brückenköpfe halten. Viel Spaß mit denen! Fragen Sie mal Zugbegleiter nach ihren Erlebnissen. Wetten, dass Sie danach lieber Ihr Auto anschmeißen?
Was mich betrifft, ich lebe hauptsächlich auf dem platten Land. Sehr entlegen, ziemlich weit weg vom Dorf. Bin dort aber als Mensch und Steuerzahler gemeldet. Als ich mal auf der mir nächsten, zwölf Kilometer entfernten Polizeiwache war, fragte ich nach, ob eigentlich jemals ein Streifenwagen die Grundstücke an meiner schmalen Deichstraße zwecks Kontrolle abfahren würde. Doch, ja, hieß es. Also, ich habe dort in den letzten fünf Jahren ein einziges Mal einen Polizeiwagen gesichtet. Das Auto fuhr mit Tempo 30 an meinem Haus vorbei. Einbrecher hätten sich schlappgelacht.
Lese ich Polizeimeldungen aus Berlin, Hamburg, Bad Godesberg, Frankfurt, Duisburg, Köln oder Delmenhorst, so überfällt mich manchmal beinahe eine Sehnsucht nach Samana. Könnte ich es doch halten wie der Rainer! Null Einkommensteuer zahlen, mit der eingesparten Kohle einen verlässlichen Schutzpatron heuern. Wäre gut, einen robusten Burschen mit einer .45er Automatik auf meiner Seite zu wissen. Statt Ordnungshüter zu alimentieren, die von der Politik mit sinnfreien Tätigkeiten wie dem „Blitzmarathon“ beschäftigt werden.
Sprich, um die Ordnung in einem Pipifax-Segment aufrechtzuerhalten, wo 95 Prozent der geblitzten Temposünder Überschreitungen der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zwischen 10 und 20 km/h verbrochen haben. Während anderenorts in ganzen Stadtteilen eine Ordnung nur noch auf dem Papier existiert.
Warum die meisten Leute all das einfach hinnehmen? Mir ein Rätsel. Und weshalb es hierzulande nicht mehr Durchgeknallte gibt von jener Art, die Michael Douglas in „Falling Down“ hinreißend verkörpert? I dunno. Grenzt an ein Wunder. Vermute, wenigstens die zweite Reeducation der Deutschen hat funktioniert.