Eine freie Künstlerin, die an meiner Uni sprechen sollte, behauptete in den sozialen Medien, Israel würde gezielt palästinensische Kinder erschießen und den Palästinensern ihr Grundwasser vergiften. Als ich mich beschwerte, wurde mir ein „Frontalangriff“ auf das gesamte Institut vorgeworfen. Als Jüdin ist das für mich ein Schlag ins Gesicht.
Ich habe diesen Text bereits im Juli verfasst, lange vor den aktuellen Gräueltaten, die sich aktuell in Israel ereignen. In Berlin werden die Morde in Israel zelebriert, Journalisten und Polizisten bedroht und angegriffen und hasserfüllte Mobs beherrschen die Straßen. Jetzt fragen sich alle, wie so etwas passieren konnte. Wehret den Anfängen! – das gilt nicht nur für Rechtsradikale. Zu Israel und Juden zu stehen, darf sich nicht nur auf die Zeit von Katastrophen beschränken.
Die Künstlerin, um die es im folgenden Text geht, war vom 13. September bis 9. Oktober Leiterin mehrerer Workshops für sogenannte „BIPOC“, also Menschen mit Migrationshintergrund sowie Schüler, junge Erwachsene und Pädagogen in den Altonaer Museen in Hamburg zum „Thema Social Media, Fake News und KI“.
In Deutschland vergeht kaum ein Monat, in dem kein neuer antisemitischer Skandal entbrennt und eine Diskussion darüber ausbricht, wie es nur so weit kommen konnte. Documenta, WDR-Mitarbeiterin Nemi El-Hassan oder zuletzt die Debatte um Dr. Muriel Asseburg – sobald uns antisemitische Ressentiments außerhalb von randalierenden, vulgären Straßenmobs, z.B. im gepflegten Akademikermilieu, begegnen, fällt häufig der Satz, dass Antisemitismus wieder salonfähig geworden sei.
Die Dozentin fühlte sich nicht mehr sicher
Kürzlich habe ich erlebt, dass Antisemitismus nicht nur salon-, sondern auch hörsaalfähig ist. Als Medizinstudentin an der Berliner Charité muss ich im Laufe meines Studiums mehrere Wahlfächer absolvieren. Im letzten Semester besuchte ich ein Wahlfach des Instituts für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, welches den Zusammenhang von Kunst und Medizin thematisiert. Für mich ist es wichtig, neben dem exzellenten Studium an der Charité, welches sehr auf Naturwissenschaften, moderne medizinische Forschung und gute Medizin fokussiert ist, trotzdem nicht den Blick für das große Ganze im Sinne eines Studium generale zu verlieren.
Einige Tage vor Kursbeginn erhielt ich den Stundenplan sowie die Liste der Dozenten und Referenten. Bei der Durchsicht der angegebenen Referenten und weiterer Informationen zu ihnen fiel mir der Social-Media-Auftritt einer Referentin sehr negativ auf. Die Referentin, die sich in ihrem Profil als „visual & conceptual artist“ bezeichnet, schreibt in einem Text von 2022: „The shooting of children playing on the beach, in the backyard or on their way to school is not an isolated incident …The poisoning of groundwater is not an isolated incident …” („Die Erschießungen von Kindern, die am Strand oder im Garten spielen oder auf dem Weg zur Schule sind, sind kein Einzelfall … Die Vergiftung von Grundwasser ist kein Einzelfall.) Aus dem weiteren Text wird klar, dass sie sich mit diesen Vorwürfen (und vielen weiteren) auf Israel bezieht. Auch auf weiteren Social-Media-Plattformen findet man ähnliche Aussagen ihrerseits.
Daraufhin habe ich mich an die Leitung des Wahlfachs gewandt, meine Enttäuschung zum Ausdruck gebracht, aber auch geäußert, ich ginge davon aus, dass bei der Auswahl der Dozenten nicht bekannt gewesen sei, dass diese Künstlerin antisemitische Propaganda betreibe. Es folgte eine Überprüfung durch die Leitung des Instituts, die zu dem Schluss kam, dass die Künstlerin sich kritisch zur aktuellen Politik Israels äußere, aber keine antisemitischen Tendenzen erkannt worden seien. Die Künstlerin wurde anschließend über meine Anfrage (ohne Nennung meines Namens) und das Ergebnis der Überprüfung informiert. Daraufhin habe sie den Vortrag selbst abgesagt, da sie sich unter diesen Umständen nicht mehr sicher fühle, über ihre persönlichen Erfahrungen zu berichten. Diese Antwort hat mich sehr verwundert. Gerade diese beiden Beispiele gehen auf klassische antisemitische Verschwörungstheorien, die Legende der Brunnenvergiftung und die der Ritualmorde, zurück. Diese Verschwörungstheorien waren die Rechtfertigung für zahlreiche Pogrome und tausende ermordete Juden. Normalerweise ist das Stoff des Geschichtsunterrichts der Mittelstufe.
„Frontalangriff“ auf das gesamte Institut
Aus diesem Grund wollte ich gerne verstehen, nach welchen Kriterien die Institutsleitung (von der drei Personen studierte Historiker sind) zu diesem Entschluss gekommen ist. Bei einem Gespräch wurden keine konkreten Kriterien genannt. Die gesamte Institutsleitung sei beteiligt gewesen, habe den Vorwurf ernst genommen und lange diskutiert. Die Aussagen der Künstlerin seien zwar als sehr pointiert wahrgenommen worden, aber sie seien nicht antisemitisch. Als Argument wurde genannt, dass sie nicht von Juden, sondern von Israel spräche. Als ich wegen der beiden Aussagen, ihrer historischen Bedeutung und der offensichtlichen Lügen in Bezug auf Israel nachfragte, wurde mir von einer Professorin gesagt, sie habe nicht die Expertise auf diesem Gebiet und werde inhaltlich keine Stellung dazu beziehen, was wahr und was unwahr sei. Mir wurde bestätigt, dass das Institut beschlossen habe, sich hinter die Künstlerin zu stellen und, wenn sie den Vortrag nicht selbst abgesagt hätte, hätte sie ihn mit voller Rückendeckung des Instituts halten dürfen.
Stattdessen wurde mir zurückgemeldet, dass meine Anfrage als „Frontalangriff“ auf das gesamte Institut wahrgenommen worden sei. Im Verlauf des Wahlfachs wurden auch die anderen Studenten des Kurses über die Angelegenheit ohne Nennung meines Namens informiert. Auch ihnen wurde bestätigt, dass der Vorwurf des Antisemitismus nicht zutreffend sei und das Leitungsteam des Wahlfachs bedauere, dass die Künstlerin nicht kommen würde.
Die Aussagen und Meinungen der Künstlerin auf ihren Social-Media-Auftritten verwundern mich nicht. Solche Ansichten sind leider sehr verbreitet. Aber ich frage mich, ob für eine staatliche Universität nicht andere Standards als für die sozialen Medien gelten sollten? Sollten Steuergelder dafür genutzt werden, um Antisemiten eine Bühne zu bieten? Darf bei dem Versuch, frischen Wind, mehr Diversität und kreative Ideen in den Hörsaal zu bringen, Antisemitismus als Ausdruck einer modernen Internetkultur mit eingeschleppt werden? Ich weiß nicht, ob dem betreffenden Institut bekannt ist, dass die Charité wissenschaftliche Verbindungen mit Israel pflegt. Erst vor einigen Monaten hat die Charité mit einer weiteren Klinik in Israel einen Kooperationsvertrag geschlossen – wäre das moralisch vertretbar mit einem Staat, der Grundwasser vergiftet und Kinder ermordet?
Als Jüdin ist es für mich ein Schlag ins Gesicht
Es ist eine Strategie, um dem Antisemitismusvorwurf zu entkommen, statt von Juden von Israel oder Zionisten zu sprechen. Mit bloßer Naivität kann man es nicht erklären, wenn jemand glaubt, dass alles eine politische Meinung sein kann, solange man „Israel“ statt „Juden“ sagt. Als einzig jüdischer Staat und mit mehrheitlich jüdischer Bevölkerung ist Israel nicht vom Judentum zu trennen. Kritik gegenüber politischen Entscheidungen in Israel darf geübt werden, aber sicherlich nicht mit solchen antijüdischen Motiven, die seit Jahrhunderten als Legitimation für Gräueltaten gegenüber Juden gedient haben. Die deutsche Bundesministerin für Bildung und Forschung, Bettina Stark-Watzinger, twitterte nach ihrem Besuch am 19. Juli in Yad Vashem: „… Wann immer uns heute Antisemitismus, Verschwörungserzählungen und Hass begegnen, ist es unsere Pflicht, dagegen aufzustehen.“ Es ist jedoch keiner aufgestanden. Auch im akademischen und universitären Umfeld scheint es eine immer größere Akzeptanz gegenüber antisemitischen Ressentiments zu geben, besonders wenn sie sprachlich pseudointellektuell verpackt werden.
Für mich ist es nach wie vor ein Privileg an dieser herausragenden Universität studieren zu dürfen. Trotzdem macht mich dieser Vorfall betroffen und nachdenklich. Als Jüdin ist es für mich ein Schlag ins Gesicht, dass diese Aussagen nicht als das verurteilt wurden, was sie sind: purer Judenhass mit langer Tradition. Gleichzeitig fühle ich mich beschuldigt, den Kurs um einen Vortrag gebracht und das Institut angegriffen zu haben.
Gerade dieses Institut hat einen großen Beitrag zur Aufarbeitung der Rolle der Charité während der Nazizeit geleistet und engagiert sich für die Erinnerung der verfolgten und ermordeten Ärzte und Forscher der Charité. Ich möchte den gesamtgesellschaftlichen Wert der Erinnerungskultur auf keinen Fall schmälern, und trotzdem hilft es den heute in Deutschland lebenden Juden wenig, in Bezug auf aktuellen Judenhass. Wie passe ich als Jüdin in diese Gesellschaft, wenn ich keinen Rückhalt bei antisemitischen Ressentiments erhalte, wenn ich bei sachlichen Beschwerden darüber als angreifend und Ruhestörerin wahrgenommen werde?
Michal Kornblum, geb. 1997, stammt aus Münster und studiert Medizin an der Berliner Charité.