Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Schultag? Wie man voller Erwartungen in herausgeputzter, feiner Kleidung, eine überdimensionale Schultüte festumklammernd, in diesem neuen fremden Gebäude war, die unbekannten Gesichter der Kinder und Lehrer musterte und sich Freude und Nervosität ein haarscharfes Rennen lieferten? Ich erinnere mich noch sehr gut an meinen ersten Schultag und auch an meine Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche für die Schulzeit.
In meinem naiven kindlichen Verständnis war ich fest davon überzeugt, dass ich da gerade einen großen Schritt in Richtung erwachsener-werden gehe und in den kommenden Wochen, Monaten und Jahren mein unendlicher Wissensdurst gestillt würde, sodass ich diese verwirrende Welt verstehen kann. Heute, drei Jahre nach meinem Abitur, ist mein Wissensdurst zwar noch immer da, aber diese Welt scheint für mich verwirrender denn je.
Meine Erinnerung an die ersten Schulwochen sind der gelangweilte Blick meiner Klassenlehrerin, der verpflichtende Kauf einer Blockflöte sowie das tägliche Tröten auf dieser (und die Benutzung selbiger als Schlagstock in den Pausen). Einen Kulturschock aller Sinne erfuhr ich bei den Schultoiletten in den Kellerräumen des alten Gemäuers meiner Schule, der mich dazu brachte, diese Toiletten zukünftig nur im äußersten Notfall aufzusuchen und den Heimweg in deutlich erhöhter Geschwindigkeit anzutreten.
Verpflichtender Deutsch-Förderkurs
Dank der Internationalität meiner Familie bin ich zweisprachig, mit Deutsch und Russisch, groß geworden. Schon seit frühester Kindheit war ich als Simultanübersetzerin zwischen meinem deutschsprachigen Vater und meinen russischsprachigen Babuschka und Deduschka tätig. Ich konnte mit meiner Mutter und meiner Schwester hinter dem Rücken meines Vaters lästern, ohne dass er es verstand. Schon deswegen habe ich als Kind meine Zweisprachigkeit als großen Vorteil empfunden.
Als mein Vater den ersten Elternabend besuchte, wurde gefragt, welche Kinder denn mit mehreren Sprachen aufwüchsen. Mein Vater, der sehr stolz auf meine sprachliche Leistung war, meldete sich ganz brav wie ein vorbildlicher Deutscher. Einige Wochen später haben wir den Grund für die damalige Umfrage erfahren. Alle Kinder, die schon Erfahrungen in anderen Sprachen vorweisen konnten, wurden zu einem verpflichtenden Deutsch-Förderkurs eingeladen. Ich war total beleidigt, denn während meine monolingualen Mitschüler teilweise nicht in ganzen Sätzen sprechen konnten, war ich in der Lage, in zwei Sprachen halbwegs flüssig zu lesen.
Mit dem optimistischen Hinweis meiner Mutter, dass ich vielleicht beim Unterrichten helfen könnte, bin ich dann zähneknirschend zum ersten Kurstermin gegangen. Weinend, wütend und enttäuscht bin ich nach Hause gekommen. Der Unterricht bestand aus dem Lernen der korrekten Bezeichnungen von Körperteilen: „die Nase“, „das Ohr“, „die Augen“ etc. Meine Eltern haben nie etwas gegen Lernen gehabt, aber dieser Kurs war eine sinnlose und entwürdigende Zumutung. Es begann eine sehr lange Zeit der Klärung in Bezug auf diesen Kursus, währenddessen sich der Name der Veranstaltung mehrmals änderte.
Tatsächliche Deutschkenntnisse haben nicht interessiert
Von „Deutsch als Fremdsprache“ wurde „Deutsch für Nicht-Muttersprachler“ (mit der logischen Begründung, dass Deutsch nicht meine Muttersprache sein kann, da mein Vater der Urdeutsche ist und meine Mutter einen Migrationshintergrund hat. Ergo wäre Deutsch meine Vatersprache, dies zählt aber nicht) und bei der Benennung „Deutsch für Ausländer“ durfte ich den Kurs beenden, da ich nie Ausländerin war. Im Zuge dieses ganzen Zirkus' hat mein Opa Hausverbot in der Schule bekommen, weil er mich nach dem regulären Unterricht, aber vor dem „Zusatzangebot“ abgeholt hat und die besorgten Lehrer dies als Entführung bewertet haben, obwohl mein Großvater mich täglich von der Schule nach Hause brachte und den Lehrern durchaus bekannt war.
Schlussendlich stellte sich heraus, dass dieser Kurs ursprünglich für türkischstämmige Schüler initiiert worden war, die zu Hause kein Deutsch sprechen. Da es aber nur sehr wenige davon an der Schule gab und das Bildungsministerium diesen Kurs erst ab einer bestimmten Anzahl von Schülern finanziert, wurde einfach jeder Schüler mit fremdsprachlichem Background rekrutiert. Die tatsächlichen Deutschkenntnisse haben dabei keinen interessiert.
Als ich in die vierte Klasse gekommen bin, ist meine Familie in ein Neubaugebiet am Stadtrand umgezogen. Um uns herum waren nur Baustellen, es gab noch keinen öffentlichen Nahverkehr, und die einzige Straße, die zu uns führte, war regelmäßig durch Baufahrzeuge, Umzugs-LKWs und Lieferanten gesperrt. So kam es, dass ich ab und zu zu spät zum Unterricht erschien, da wir längere Zeit im Stau standen und warten mussten, bis die Straße wieder freigemacht wurde. Damals war im Stundenplan meist Mathematik für die erste Stunde geplant. Meine Lehrerin fand es pädagogisch sehr sinnvoll, mir für das Zuspätkommen zusätzliche Aufgaben als Bestrafung zu geben.
Nie wieder „Strafaufgaben“
Das hat mich tierisch aufgeregt, zum einen, weil sie die Verkündung der Strafarbeiten vor der gesamten Klasse zelebrierte und die Schüler mich natürlich kollektiv ausgelacht haben und zum anderen, weil diese Lehrerin offensichtlich völlig von Empathie befreit war, da ich ihr mehrmals den Grund für mein spätes Erscheinen erklärte. Nachdem ich darüber mit meinen Eltern gesprochen hatte, war meine Mutter total empört, dass Kindern Lernen nicht als Freude, sondern als Strafe vermittelt wird.
Gerade weil viele Kinder in anderen Ländern Lernen als Privileg empfinden, erschien dieses Verhalten sehr paradox. Als ich da also völlig aufgelöst zu Hause saß, haben meine Eltern und ich einen Plan geschmiedet. Ich habe alle „Strafaufgaben“ gemacht und sogar noch mehr (als Puffer für weitere Verspätungen) und, als ich das nächste Mal zu spät war, bin ich sofort zur Lehrerin gegangen und habe mich zunächst für die Extraaufgaben bedankt, dass sie mir damit eine zusätzliche Lernmöglichkeit bietet, und nach weiteren Aufgaben wegen der Verspätung gefragt. Irgendetwas an meinem Verhalten muss aber schon wieder falsch gewesen sein, da ich nach diesem Tag nie wieder „Strafaufgaben“ bekam.
Das sind die Erlebnisse aus meiner Schulzeit, über die ich heute lachen kann, auch wenn ich sie damals ganz und gar nicht lustig fand. Es gab jedoch auch Erlebnisse, über die ich nie werde lachen können.
„H“ für „Häftling“
Am Ende meiner Grundschulzeit hat mich ein relativ neuer Schüler in der Klasse regelrecht terrorisiert. Der Junge, der den Holocaust und die NS-Diktatur nach Erzählungen seines Großvaters glorifizierte, scheute weder vor antisemitischen Beleidigungen noch vor Schubsereien zurück. Während einer Mathematik-Arbeitsphase sollten sich die Schüler, die zügig mit der Bearbeitung fertig waren, ein Stück Malerkrepp mit einem großen „H“ für „Helfer“ nehmen und die anderen Schüler beim Lösen der Rechnungen unterstützen. Da ich dank der zusätzlichen Übungen durch meine Verspätungen ziemlich flink im Kopfrechnen war, nahm ich mir so ein „H“ und wollte meinen Mitschülern helfen.
Da sagte dieser Mitschüler, dass das „H“ für „Häftling“ stünde und ich jetzt 50 Liegestütze machen müsse und dann in die Gaskammer gehen soll. Die anwesende Lehrerin hat es nicht für nötig gehalten zu intervenieren und mir bei meiner Beschwerde am Ende der Stunde gesagt, dass ich nicht so empfindlich sein soll.
Umso mehr freute ich mich, als ich nach den Sommerferien aufs Gymnasium gehen durfte. Es war schon seit Jahren meine absolute Wunschschule. Das mittelalterliche Gebäude und die Geschichten und Sagen von Mönchen, Priestern und Gelehrten hatten eine faszinierende Wirkung auf mich. Als ich durch den alten Kreuzgang der Schule ging, hatte ich das Gefühl, das alte Gemäuer spräche zu mir.
Ich empfand es als großes Geschenk, an dieser Schule lernen zu dürfen. Ich wurde auch nicht enttäuscht und genoss eine einzigartige humanistische Bildung in Latein und später Altgriechisch sowie den üblichen Schulfächern. Sehr gebildete und weise, überwiegend kurz vor der Pensionierung stehende Lehrer für Sprachen und Geisteswissenschaften haben uns Schülern einen Fundus an Allgemeinbildung und auch den Blick über den Tellerrand gegeben.
Es ging nicht um's Wissen, sondern um die Noten
Es wurde nicht nur am Lehrplan, sondern auch an unserer tatsächlichen Bildung gearbeitet. So gehörten zum Latein- oder Griechischunterricht ganz selbstverständlich nicht nur Grammatik und Vokabeln, sondern auch die Geschichte, die Mythen und Sagen über Gottheiten und weitere Fakten, die eine humanistische Bildung auszeichnen. Plötzlich waren Diana, Juno und Merkur meine Kindheitshelden, ich las viel über Cäsar und das Kolosseum, und als ich das Forum Romanum besichtigte, konnte ich die Inschriften stolz entziffern.
Meine Mitschüler am Gymnasium kamen aus gut bürgerlichen Akademikerfamilien, und die Konkurrenz und der Notenneid innerhalb der Klasse waren sehr hoch. Ein Migrationshintergrund war bei uns in der Schule eher die Ausnahme. Es ging uns meist nicht ums Wissen, sondern nur um die Noten.
Bis zur achten Klasse konnte ich mich für Naturwissenschaften nicht begeistern, dafür standen Sprachen, Geschichte und Religion im Mittelpunkt meiner Interessen. Ich träumte von einer Karriere als Anwältin in Bleistiftrock und Jimmy Choos. Markenkleidung war bei uns in der Klasse zu diesem Zeitpunkt ohnehin der inoffizielle Dresscode. Aber, wie es oft im Leben ist, kam es durch eine Begegnung zu einer Kehrtwende.
Kindern und Jugendlichen Flügel verleihen
Wir bekamen nach einer esoterischen und ewig Kaffeepausen machenden Biolehrerin einen neuen motivierten Lehrer für Biologie. Plötzlich habe ich verstanden, dass Biologie nicht nur der Regenwurm oder die Seegurke ist, sondern auch die faszinierende Welt der Genetik und das geheimnisvolle Zellleben. Ich verbrachte meine Freizeit damit, in dicken Biobüchern zu blättern, Anatomieatlanten meiner Mutter anzuschauen und wurde zu einem ausgewachsenen Freak. Damit war entschieden, dass meine Zukunft in die naturwissenschaftliche Richtung geht und ich belegte Biologie als Schwerpunkt für die Oberstufe.
Während der Oberstufenzeit habe ich leider merken müssen, dass in der Schule wirklich alles mit dem Lehrer steht oder fällt. Ein guter Lehrer, der selber von seinem Beruf begeistert ist und sein Fach gut beherrscht, kann motivieren, Interesse fördern und Kindern und Jugendlichen Flügel verleihen. Andere Lehrer dagegen schaffen es, junge Menschen zu demotivieren und zu verunsichern.
Heute denke ich durch meine persönliche Schulzeit und durch Erfahrungen aus dem Bekanntenkreis, dass es viele weitere Faktoren im Schulalltag gibt, die durch Schüler nicht beeinflussbar sind. Wenn schon der Vorname bei Lehrern Vorurteile auslöst, kann man sich denken, wie es mit anderen persönlichen Kriterien oder Einstellungen aussieht. Vor diesem Hintergrund befürchte ich, dass es bei unserem wenig objektiven und immer mehr vom „Ermessensspielraum“ geprägten Schulsystem eine große Diskrepanz zwischen Wissen und Noten, zwischen Schein und Sein oder zwischen Ist und Soll gibt.
In unserer Zeit, in der „Haltung zeigen“, immer für das absolut Richtige und gegen das absolut Falsche zu sein wichtiger wird, als durch Wissen, Erfahrung und Fähigkeit zu einer eigenen und freien Einschätzung zu gelangen, ist es wenig verwunderlich, dass sich dieses Verhaltensmuster schon in frühen Jahren in den Köpfen der Kinder verwurzeln soll. Es ist im Leben – vor allem in der Schule – leichter, sich anzupassen. Doch wie besagt ein chinesisches Sprichwort? Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom.
Schulen sind Prägestätten für die Gesellschaft. Kinder sollten gefördert werden, eine gute Bildung bekommen und ein Werteverständnis entwickeln. Genau diese in der Schule gepredigten Werte wie Courage, Gerechtigkeit und Fairness sollen aber offenbar nur in der Theorie verstanden werden, Praxis nicht erwünscht.
Michal Kornblum, geb. 1997, ist Studentin aus Münster. Sie schreibt auch für den Schülerblog Apollo-News. Dieser Beitrag entstand im Zusammenhang mit unserem Jugend-Workshop.