Die WHO hat Ende Juli dieses Jahres ein Update ihrer globalen Covid-19-Impfstrategie von Oktober 2021 herausgegeben. Wer wissen möchte, wie es im Herbst weitergeht, sollte es lesen.
Vor lauter Lauterbach sollte man nicht versäumen, ab und zu einen Blick auf die offizielle WHO-Website zu werfen. Schließlich wurde hier in den letzten Jahren die Richtung vorgegeben für die Maßnahmen, die nahezu weltweit getroffen wurden. Nun hat die WHO ein Update ihrer globalen Covid-19-Impfstrategie von Oktober 2021 veröffentlicht. Die zwölf Seiten umfassende Broschüre trägt den Titel „Globale Covid-19-Impfstrategie in einer sich verändernden Welt“ („Global Covid-19 Vaccination Strategy in a Changing World“).
Das Update soll epidemiologische Veränderungen, Fortschritte in der Impfstoffentwicklung und -evidenz sowie Veränderungen im globalen Impfstoffprogramm und in der geopolitischen Landschaft für die Erreichung der vier Strategieziele erfassen, die 2021 formuliert worden waren. Die Ziele lauten: 1. Verringerung der Zahl der Todesfälle, der schweren Erkrankungen und der gesamten Erkrankungsrate, 2. Eindämmung der Auswirkungen auf das Gesundheitssystem und 3. vollständige Wiederaufnahme der sozioökonomischen Aktivitäten. Diese drei Ziele seien zwar noch nicht ganz verwirklicht worden, doch es sei eine positive Entwicklung zu verzeichnen.
Zum vierten Ziel jedoch, nämlich zur Verringerung der Krankheitsübertragung durch Impfung, heißt es:
„Sowohl die Eigenschaften des Impfstoffs als auch die des Virus haben dazu beigetragen, dass dieses Ziel nur schwer zu erreichen ist, zumal die Impfung noch lückenhaft ist. Die derzeitigen COVID-19-Impfstoffe bieten nur einen mäßigen und zeitlich begrenzten Schutz gegen SARS-CoV-2-Infektionen. Darüber hinaus sind zunehmend übertragbare Varianten aufgetaucht (die zum Teil auf eine Umgehung des Immunsystems zurückzuführen sind), was die Bedeutung von PHSM noch verstärkt.“
Mit PHSM (Public Health and Social Measures) sind öffentliche Gesundheits- und Sozialmaßnahmen gemeint, also „Maßnahmen oder Aktionen von Einzelpersonen, Institutionen, Gemeinschaften, lokalen und nationalen Regierungen und internationalen Organisationen, um die Ausbreitung einer Infektionskrankheit wie COVID-19 zu verlangsamen oder zu stoppen“. Mit anderen Worten: das gesamte politische Paket bis hin zu Lockdowns.
Die Impfdynamik aufrechterhalten
Weiter wird im Update der WHO festgehalten:
„Im Jahr 2021 wurden die Versäumnisse bei der Verwirklichung der Impfgerechtigkeit deutlich, was die notwendige globale Reaktion auf die Pandemie behinderte und epidemiologische, sozioökonomische und ethische Herausforderungen mit sich brachte. Trotz der verbleibenden Schwierigkeiten bei der Bereitstellung von Impfstoffen haben heute alle Länder die Möglichkeit, die Ziele für die globale Durchimpfung zu erreichen. Dies ist das Ergebnis umfangreicher Verpflichtungen und Investitionen zur Sicherstellung einer ausreichenden Versorgung mit Impfstoffen, Programmfinanzierungen und technischer Hilfe sowie der Förderung des politischen Willens, auch durch internationale Koordination und Partnerschaften.“
Die „globale Durchimpfung“ ist also nach wie vor erklärtes Ziel der WHO. Warum aber sollten beispielsweise afrikanische Länder, die offensichtlich kaum von COVID-19 betroffen waren, einer „Durchimpfung“ ihrer Bevölkerung zustimmen? Unbeirrt hält die WHO jedoch an der Priorität der Impfungen fest und betont: „Schätzungen zufolge hätten weltweit etwa 600.000 Todesfälle verhindert werden können, wenn alle Länder bis Ende 2021 eine Durchimpfungsrate von 40% erreicht hätten.“
Schätzungen? Schätzungen von wem? In einer Fußnote wird nur auf eine einzige Modell-Studie verwiesen. Die Schlussfolgerung der WHO lautet dennoch eindeutig:
„Daher ist es von entscheidender Bedeutung, die Impfdynamik aufrechtzuerhalten und zu verstärken, und zwar angesichts der weit verbreiteten geringeren Wahrnehmung des Krankheitsrisikos, der geringeren Nachfrage der Bevölkerung nach COVID-19-Impfstoffen und der sich abzeichnenden Verschiebung der politischen Prioritäten.
„Impfungen für den gesamten Lebensverlauf Realität werden lassen“
Die „Impfdynamik“ soll also bleiben, zumal die WHO ankündigt, gegen Ende des Jahres „eine globale Covid-19-Impfstrategie für 2023 und darüber hinaus“ zu entwickeln. Die Impfungen hätten nämlich im Jahr 2021 „schätzungsweise 19,8 Millionen Todesfälle vermieden“. Im WHO-Update werden die Impfstoffe als eine einzige Erfolgs-Story präsentiert. Doch damit nicht genug: „Länder auf der ganzen Welt haben die Möglichkeit ergriffen, immer größere Teile ihrer Bevölkerung mit sicheren und hochwirksamen Impfstoffen zu schützen. Dieser Schutz schließt Auffrischungsimpfungen ein, die für die Aufrechterhaltung des Schutzes, auch gegen VoCs, entscheidend sind.“
Auffrischungsimpfungen gegen VoCs, das heißt Virusvarianten, sind demnach Programm bis 2023 und darüber hinaus, denn:
„Ungeachtet der bisherigen Erfolge müssen die Fortschritte bei der COVID-19-Impfung und -Immunisierung aufrechterhalten und weiter ausgebaut werden.“
Als Bedrohungsszenario stellt die WHO in Aussicht:
„Wenn sich die Folgen der COVID-19-Krankheitswellen mit denen der Grippe und anderer Atemwegserkrankungen vermischen, kann dies die Gesundheitssysteme jeder Kapazität überfordern, auch in Ländern mit hohem Einkommen. Dies hat erhebliche gesundheitliche und sozioökonomische Folgen auf nationaler und globaler Ebene, einschließlich umfassender Unterbrechungen der Versorgungskette. Vollständige Impfpläne, einschließlich der von der WHO empfohlenen Auffrischungsdosen, sind ein wesentlicher Bestandteil des Aufbaus einer Immunität gegen Virusstämme, die in Gemeinschaften weltweit zirkulieren. Künftig können zusätzliche Dosen mit aktuellen oder aktualisierten Impfstoffen empfohlen werden, wenn sich zeigt, dass diese den Schutz deutlich verbessern. Die Politik muss also rechtzeitig neue Erkenntnisse über die Wirksamkeit von Impfstoffen und optimale Schutzmethoden berücksichtigen.“
Und in einem fett gedruckten Absatz wird die WHO noch deutlicher: „Was die Bereitstellung von Impfstoffen betrifft, so müssen die Bemühungen fortgesetzt und verstärkt werden, Konzepte zu entwickeln, um Impfungen für Erwachsene festzusetzen und für den gesamten Lebensverlauf Realität werden zu lassen.“
Lebenslanges Impfen? Diese Passage ist so ungeheuerlich, dass sie hier noch einmal im originalen Wortlaut wiedergegeben werden soll: „For vaccine delivery, efforts need to continue and increasingly emphasize delivery approaches to implement vaccination for adults, making vaccination for the life course a reality.”
Eine globale „Impfstoffgleichheit“
Konkret werden zwei Ziele formuliert: „Ziel 1: Aufrechterhaltung und Verstärkung der Dynamik zur Verringerung der Sterblichkeit und Morbidität, zum Schutz der Gesundheitssysteme und zur Wiederaufnahme sozioökonomischer Aktivitäten mit vorhandenen Impfstoffen. Ziel 2: Beschleunigung der Entwicklung und des Zugangs zu verbesserten Impfstoffen, um eine dauerhafte, breit schützende Immunität zu erreichen und die Übertragung zu verringern.” Es fällt auf, dass in beiden Zielen Impfstoffe genannt werden: schon vorhandene und noch zu entwickelnde verbesserte Impfstoffe.
Zur Erreichung dieser Ziele gibt die WHO drei Schritte vor: Zum einen sollen die derzeit zugelassenen Impfstoffe einschließlich Auffrischungsimpfungen für die Personengruppe mit höchster Priorität genutzt werden. Dabei unterscheidet die WHO offenbar nicht zwischen bedingten und vollständigen Zulassungen. Zum anderen sollen jedoch auch die Bevölkerungsgruppen mit mittlerer Priorität (das heißt die übrigen Erwachsenen sowie Kinder und Jugendliche mit Komorbiditäten) durchgeimpft werden, da die hybride Immunität einen besseren Schutz als die infektionsinduzierte Immunität allein biete.
Schließlich sollen sogar die Gruppen mit geringer Priorität (gesunde Jugendliche und Kinder) geimpft werden können, denn: „Alle Länder sollten die Möglichkeit haben, den Erfassungsgrad weiter zu erhöhen und die Immunität der Bevölkerung aufzubauen.“ Dabei fordert die WHO eine globale „Impfstoffgleichheit“: „Die rechtzeitige Verfügbarkeit in allen Ländern ist Voraussetzung für gerechte Fortschritte bei der Pandemiebekämpfung überall.“
Einen lebenslangen Ansatz bei der Impfung unterstützen
Zwei wichtige Voraussetzungen („key enablers“) hebt die WHO besonders hervor:
„i) die Entwicklung und Integration von COVID-19-Impfkonzepten über den gesamten Lebensverlauf hinweg, auch um die Gesundheitssysteme, Gesellschaften und Volkswirtschaften der Länder vor den Auswirkungen künftiger Pandemien und anderer gesundheitlicher Notlagen zu schützen; und ii) nachhaltiges politisches Engagement und Investitionen sowohl für die Bereitstellung der derzeitigen Impfstoffe als auch für die Erforschung, Entwicklung und gerechte Verteilung neuer Impfstoffe.“
Und die WHO verspricht: „In Absprache mit den Ländern und Interessenvertretern wird die WHO ein Begleitdokument mit einem Kernsatz von Überwachungsmaßstäben veröffentlichen, um die Fortschritte bei der Umsetzung der aktualisierten Strategie zu begleiten.“ Das klingt nun schon fast wie eine Drohung. Wer sind etwa die „Interessenvertreter“ („stakeholders“)? Gehören dazu auch Pharmaunternehmen? Auch die Anmerkung zu „Gesundheitsinformationssystemen“ wirkt nicht sonderlich beruhigend:
„Die Stärkung der Gesundheitsinformationssysteme ist von entscheidender Bedeutung, auch um die Durchimpfungsrate und die Wirksamkeit des Impfstoffs nach Zeitplan, Produkt, Alter und Risikogruppen zu überwachen, einen lebenslangen Ansatz bei der Impfung zu unterstützen, die Entwicklung des Virus zu verfolgen und die Verfügbarkeit des Angebots zu überwachen.“
Fazit: Die WHO hält weiterhin an der globalen Durchimpfung mit regelmäßigen Auffrischungsimpfungen fest. Ein Ende ist nicht absehbar.