Thilo Schneider / 23.05.2023 / 14:00 / Foto: Nicolas Halftermeyer / 58 / Seite ausdrucken

Was wollt ihr denn? Viele, viele bunte Nazis!

Auf der Nazi-Bank wird es allmählich eng, weil jeden Tag neue Mitbürger darauf geschupst werden. Die sind derzeit meist völlig harmlos und wissen nicht wie ihnen geschieht.  Aber sollte einmal ein Irrer als Anführer durchkommen: Die staatlichen Instrumente fürs totalitäre Durchregieren sind durch Corona bereits geschaffen.

Putin bekämpft sie. In der Ukraine. Die Nazis, die Faschisten. Selenskyj bekämpft sie auch. Auch in der Ukraine. Nur kommen seine Nazis aus Russland. Nancy Faeser bekämpft sie sowieso, denn die größte Gefahr für Nancy Faeser kommt immer noch von rechts. Doch, doch und das dürfte für Nancy Faeser auch richtig sein. Putintrolle und rechtsextreme Accounts – vulgo Nazis – haben den für seine Verdienste um die Energieunsicherheit Deutschlands verdienten Freund des Volkes Patrick Graichen und seinen Freund Robert Habeck derart mürbe gemacht, dass eine sachliche Zusammenarbeit nicht mehr möglich war. 

Man hat den Eindruck, dass die Nazis, 90 Jahre nach ihrer Machtergreifung und 77 Jahre, nachdem die Obernazis in Nürnberg am Strick baumelten, heute mehr denn je Einfluss auf das Geschehen in Deutschland und sogar in der Welt haben. Ron deSantis darf als Nazi bezeichnet werden, Donald Trump sowieso, Putin erst recht, Assad hat gute Chancen, einer zu sein, Giorgia Meloni auch. Außerdem noch Viktor Orban und Mateusz Morawiecki. Alles Nazis. Oder wenigstens potentielle Nazis. Und da ist von Björn Höcke und seinen Flügelmännern und -Frauen noch gar nicht gesprochen worden. 

Nazi zu sein ist heute gang und gäbe und ist der Stempel für das ultimativ Böse. Dabei kann jeder und jede blitzschnell zum Nazi werden, ohne das überhaupt mitzubekommen. Es genügt meist schon, gegen Wärmepumpen oder Lesestunden von DragQueens für Kleinkinder zu sein. Oder jetzt nicht unbedingt unbegrenzte und unkontrollierte Zuwanderung freudig zu begrüßen. Nazis sind eben so. Rechtsextreme sind eben so. Mit solchen Leuten lohnt sich eine Diskussion nicht, sie sind einfach nur böse und da dringt auch kein vernünftiger Mensch von Linke bis Grüne mehr zu denen durch. 

In jedem Volk gibt es ein paar Irre

Die Union ist Nazi, die Werteunion erst recht und auch die FDP ist Nazi – zumindest, wenn Kubicki Montags statt Dienstags interviewt wird. Verwunderlich ist das nicht, wenn die lautesten „Nazi Nazi!“ – Enttarner Bismarck für den Erfinder des gleichnamigen Fischbrötchens halten. Nazi ist alles, sind alle und jede, mit denen man sich nicht austauschen möchte – vielleicht deshalb, weil sie womöglich ernstzunehmende Argumente haben? 

Machen wir uns nichts vor: Echte Nazis lassen sich vielleicht an zwei Händen abzählen, wer mit Zehn 1945 in die Hitlerjugend eingetreten ist, ist 1935 geboren und heute 82 Jahre alt, wer sich 1945 zur Waffen-SS gemeldet hat, ist heute 92. Die Hardcore-Nazis, die unter dem Radar der noch jungen bundesrepublikanischen Demokratie durchgeschlüpft sind, bewegen sich zwischen 95 und 110. Die sind mit ihrem langen Leben regelrecht bestraft worden und glücklich, wenn sie noch alleine auf den Topf gehen. 

Es lässt sich trefflich spekulieren, was mit der Bezeichnung „Nazi“ gemeint sein könnte. Die Neonazis, die heute vereinzelt im Westen und teilweise massiv im Osten umeinanderkugeln, wollen natürlich „Deutschland den Deutschen“ haben, haben generell etwas gegen Migranten – selbst solche, die wir dringend brauchen (Oha! War das jetzt bereits auch schon Nazi?) – und ein echtes Problem mit Hautfarben. Die Masse derer ist ziemlich tumb, betreibt einen fast schon lächerlichen „Blut und Boden“-Kult und ist fest überzeugt, dass Deutschland in den Grenzen von 1942 noch existiert. Die paar Heinis, die diesen braunbunten Strauch geistig und moralisch Zurückgebliebener als „Führer“ auf einer scheinintellektuellen Basis anführen, sind im politischen und gesellschaftlichen Leben vernachlässigbar, solange sie nicht mit scharfen Waffen hantieren oder Homosexuelle oder Migranten zusammenprügeln. In jedem Volk gibt es ein paar Irre, bei 84 Millionen Leuten lässt sich das nicht verhindern. Aber die sind auch gar nicht gemeint, wenn die Guten in der Gesellschaft „Nazis raus“ brüllen. 

„Sozialschmarotzer“ oder „Blinddärme“

Gemeint sind dann Bürger, die eben nicht gendern, sich nicht vegetarisch ernähren, Verbrenner fahren, keine Wärmepumpen einbauen wollen oder sich – siehe oben – gegen unkontrollierte und unbegrenzte Migration aussprechen. Und das vielleicht sogar öffentlich. 

Die sind dann wahlweise „rechts“ (böses Wort!), „rechtspopulistisch“ (noch böseres Wort), „rechtsextrem“, „braun“ und, natürlich, eben „Nazis“ (ultimativ böses Wort). Als ob jeder, dem der derzeitige Regierungskurs nicht passt und/oder AfD wählt, am nächsten Tag Polen überfallen und Minderheiten in Lager, Gulags und Gaskammern stecken wollte. So isser eben, der Nazi. 

Vergessen wird dabei nur allzu gerne, wie ein faschistischer Staat – und vor allem der Nazi-Staat – zwischen 1933 und 1945 aufgebaut war. Gleichgeschaltete Medien, gleichgeschaltete Kunst, militaristisch, sozial nur in der Beziehung zu mitlaufenden Volksgenossen, asozial gegenüber allen, die nicht im Gleichschritt mit dem Regime marschieren wollten – oder konnten. Oder durften. Einen Vergleich zu den derzeit in Deutschland herrschenden Verhältnissen verbietet sich da. Noch. 

Vereinzelt gab es ähnliche, leichte Sündenfälle schon. Vor allem während Corona hat sich gezeigt, wie leicht und geschmeidig sich die Deutschen in Geimpfte und Ungeimpfte spalten lassen. Wie charmant die Medien beim „Ungeimpftenbashing“ mitgemacht haben, wie Ungeimpfte sich als „Sozialschmarotzer“ oder „Blinddärme“ bezeichnen lassen mussten. Völlig ohne dass irgendein Politiker der links von der AfD (re)agierenden Parteien oder auch der etablierten Medien aufgestanden und sich den Ton verbittet hätte, in dem hier mit unbescholtenen Bürgern geredet wird und wie gemein sie ausgegrenzt werden. Flankiert wurden die Maßnahmen durch eine erstaunlich bieg- und beugsame Justiz, einen „Ethik-Rat“, der sich zu seiner Glanzzeit wie ein Lautsprecher goebbelsscher Prägung anhörte und eine Exekutive, die mit Wasserwerfern und Schlagstöcken Bürger traktierte, weil diese öffentlich das Grundgesetz in die Höhe hielten. 

Das Instrum,entarium ist durch Corona bereits da

Das waren die eigentlichen Anfänge, denen intensiv hätte gewehrt werden müssen, das waren die Anfänge, die gezeigt haben, wie leicht und fluffig grundgesetzlich verbriefte Rechte im Sinne eines „höheren Zieles“ „ausgesetzt“ wurden. Das war die Blaupause, wie so etwas funktioniert. Sollte je eine wirklich faschistische Partei einen charismatischen Anführer finden und sollte dieser wirklich ein faschistisches System etablieren wollen – das Instrumentarium hierfür müsste er gar nicht erst schaffen. Es ist durch Corona bereits da. 

Daher sollte vor allem die linke und grüne Seite dieser Republik aufpassen, wen sie als „Nazi“ oder „rechtsextrem“ oder „rechtspopulistisch“ schmäht – es könnte sein, dass sie damit den Teufel heraufbeschwört, den sie doch zu verhindern trachten. Umgekehrt gilt das übrigens genauso. Die Bezeichnung „Nazi“ relativiert die Verbrechen des Dritten Reiches in einer unzulässigen Form. Den 99 Prozent derer, die sich derart beschimpfen lassen müssen, wollen keine Gaskammern, keine Verfolgungen, keine Denunziationen, keine geheimen Verhör- und Folterkeller und hegen keinerlei Sehnsucht nach Straßburg, Breslau oder Königsberg.   

Nazi hier, Nazi da, Nazi ist für alle da. Wir sollten uns vor derart verbalen Entgleisungen in Diskussionen endlich verabschieden. Denn wenn jeder Nazi ist, ist es keiner mehr. Und das kann nicht gesund sein.

Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.

 

Foto: Nicolas Halftermeyer CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Michael Zylla / 23.05.2023

Das mit dem Alter derer, die 1935 geboren sind, sollte man nochmal wohlwollend nachrechnen.

Arne Neelsen / 23.05.2023

Mein Reden seit langem! Abgesehen von den genannten verbalen Entgleisungen (interessanterweise meist von denjenigen, die ansonsten bei anderen jedes Wort auf die Goldwaage legen) arbeiten wir uns jeden Tag wie die Weltmeister an Hakenkreuzen, hochgestreckten rechten Armen und Hitlerbärtchen ab - aber um die tatsächlichen Mechanismen jenseits der austauschbaren Symbolik, die in den Totalitarismus gleich welcher Färbung führen, kümmert sich niemand. Da muss auch keinen Anfängen gewehrt werden und das sonst gern in jeder Sonntagsrede zitierte “Nie wieder!” hört man auch irgendwie nicht so deutlich. Und wer auch nur vorsichtig auf gewisse Parallelen hinzuweisen wagt, qualifiziert sich in oben genannter Weise sofort selbst wiederum als “Nazi”, so dass der Aussage eines derart etikettierten Menschen zum Glück auch nicht argumentativ begegnet werden muss. Manchmal möchte man wirklich nur noch schreien…

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Thilo Schneider / 30.01.2024 / 16:00 / 20

Jahrestag: Die Schlacht von Stalingrad geht zu Ende

Heute vor 81 Jahren ernannte Hitler General Paulus, der mit seiner 6. Armee in Stalingrad dem Ende entgegensah, zum Generalfeldmarschall. Denn deutsche Generalfeldmarschälle ergaben sich…/ mehr

Thilo Schneider / 26.01.2024 / 16:00 / 20

Anleitung zum Systemwechsel

Ein echter demokratischer Systemwechsel müsste her. Aber wie könnte der aussehen? Bei den Ampel-Parteien herrscht mittlerweile echte Panik angesichts der Umfragewerte der AfD. Sollte diese…/ mehr

Thilo Schneider / 18.01.2024 / 16:00 / 25

Neuer Pass für einen schon länger hier Lebenden

Ich will einen neuen Reisepass beantragen. Doch um ihn zu bekommen, soll ich den abgelaufenen mitbringen, ebenso meine Heiratsurkunde und Geburtsurkunde. Warum muss ich mich…/ mehr

Thilo Schneider / 16.01.2024 / 15:00 / 73

Zastrow-FDP-Austritt: „Ich will den Leuten noch in die Augen schauen können“

Holger Zastrow, Ex-Bundesvize der FDP, kündigt. In seiner Austrittserklärung schreibt er: „Als jemand, der in der Öffentlichkeit steht und durch seinen Beruf mit sehr vielen…/ mehr

Thilo Schneider / 11.01.2024 / 14:00 / 64

Was würden Neuwahlen bringen?

Kein Zweifel, die Ampel hat fertig. „Neuwahlen!“ schallt es durchs Land, aber was würden die angesichts der aktuellen Umfrageergebnisse bringen, so lange die „Brandmauer“ steht…/ mehr

Thilo Schneider / 10.01.2024 / 14:00 / 35

Das rot-grüne Herz ist verletzt

Die Leute begehren auf, vorneweg die Bauern. Es wird viel geweint. In Berlin, Hamburg, München und Stuttgart. Aus Angst. Aus Angst, von den Futtertrögen des…/ mehr

Thilo Schneider / 24.12.2023 / 12:00 / 25

Meine Agnostiker-Weihnacht

Herrgottnochmal, ich feiere tatsächlich Weihnachten. Wenn es doch aber für mich als Agnostiker eigentlich „nichts zu feiern gibt“ – warum feiere ich dann? Die Geschichte…/ mehr

Thilo Schneider / 02.12.2023 / 12:00 / 15

Jahrestag: High Noon bei Austerlitz

In der auch „Drei-Kaiser-Schlacht“ genannten Schlacht in Mähren besiegt Napoleon Bonaparte am 2. Dezember 1805, genau ein Jahr nach seiner Kaiserkrönung, eine Allianz aus österreichischen…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com