Anna und ich kennen uns seit 29 Jahren. Wir korrespondieren immer seltener. Seit über 20 Jahren wohne ich hunderte von Kilometern von ihr entfernt, aber erst seit etwa eineinhalb Jahren dünnt sich unser Kontakt aus.
Von Marie Dufond.
Anna und ich kennen uns seit 29 Jahren. Wir korrespondieren immer seltener. Seit über 20 Jahren wohne ich hunderte von Kilometern von ihr entfernt, aber erst seit etwa eineinhalb Jahren dünnt sich unser Kontakt aus.
Anna hat ihre Tochter damals auf die Waldorfschule geschickt. Sie hat ihre Tochter gegen nichts impfen lassen. „Kinder müssen Krankheiten durchmachen, durchleben. Das stärkt sie“, sagte sie mir damals. Unterstützt wurde sie in ihrer Haltung von Ärzten aus den anthroposophischen Kreisen. Ich hatte zu diesem Thema keine leidenschaftliche Meinung und sagte nichts dazu.
Anna sagte noch im Juni 2021, die Sache sei akut. Sie meinte damit die Pandemie. Anna sagt, die Regierung hätte ja nicht anders gekonnt als auf Sicht zu fahren, und Anna findet die sich wiederholenden Änderungen der Zielvorgaben deswegen nachvollziehbar. Anna warb bei mir für Verständnis für Jens Spahn. Der hätte es auch nicht leicht. Jetzt sagt sie: „Ja, das stimmt schon, Karl Lauterbach hat sich manchmal geirrt. Aber er meint es gut, da bin ich mir ganz sicher!“
Anna ist auch unbedingt für Solidarität
Anna denkt, dass die Kinder und Jugendlichen, die mehrere Monate Schule versäumt haben, das leicht wieder aufholen können. Anna sagt, ich solle die Kraft von Kindern und Jugendlichen nicht unterschätzen. Anna glaubt nicht, dass die Kinder- und Jugendpsychiatrien überfüllt sind. Anna sagt, sie hätte davon nichts gehört. Und deshalb glaubt sie mir das auch nicht.
Anna ist überzeugt, dass alle Wissenschaftler weltweit einig sind, dass Lockdowns und all die anderen Maßnahmen die Mittel der Stunde waren. Und dass sie geholfen haben, das Virus einzudämmen. Sie hat kein Interesse daran, zu erfahren, wie andere Staaten auf den Erreger reagiert haben.
In Bezug auf Frankreich lenkt Anna ein, ja, das sei schon harsch, was Emmanuel Macron da mit der Impfpflicht für das medizinische Personal eingeführt hat, da hätte ich schon recht. Wie denn jetzt eigentlich das Wetter bei mir sei, fragt sie dann.
Anna schätzt Richard David Precht, weil er die Bürger an ihre Bürgerpflichten erinnert. Anna ist ja links und deswegen kapitalismuskritisch. Und da spielt ihr Richard David Precht in die Hände, denn die von ihm kritisierte Konsumhaltung in allen Bereichen findet Anna auch verdammenswert. Und Anna ist auch unbedingt für Solidarität.
Das hätte ganz sicher nichts mit der Impfung zu tun
Im September hat mir Anna in einer Mail in leidenschaftlichem Ton geschrieben, dass sie unbedingt dagegen sei, dass Ungeimpfte anders behandelt würden als Geimpfte. Bei unserem letzten Telefonat wies ich darauf hin, dass das ja nun Alltag sei. „Hm, leider, ja“, sagt Anna, „so ist das jetzt gekommen.“ Mehr sagt Anna dazu nicht.
Annas Vater hatte eines Abends im Herbst einen starken Linksdrall und war sehr abgeschlagen. Im Krankenhaus hat man eine symptomlose Lungenentzündung diagnostiziert. Die Antibiotika haben schnell geholfen. Was die Ärzte denn zu diesem Linksdrall gesagt hätten, frage ich. Nichts, dazu hätten die Ärzte nichts gesagt. Im Alter ihres Vaters sei es immer möglich, dass jemand mal kleine Thrombosen im Kopf hätte, belehrt sie mich eilig. Ich frage, wie lang nach der zweiten Impfdosis das denn geschehen sei. Anna entgegnet aggressiv, das hätte ganz sicher nichts mit der Impfung zu tun.
Ich wage dennoch, von den Impfnebenwirkungen zu sprechen. Anna schneidet mir das Wort ab. Sie sei informiert, dass alle Impfnebenwirkungen sehr selten seien und sie allesamt auch ganz schnell und folgenlos wieder vergingen. Da sei ich anders informiert, insistiere ich. Anna sagt, sie wisse ja nicht, woher ich meine Informationen beziehen würde. Ich sage, von den offiziellen Behörden, sie könne das selbst nachlesen. Anna seufzt. Ich verweise als Beispiel auf die jungen, gesunden Männer, die unmittelbar oder kurz nach der Injektion sterben, Männer im Alter ihrer Tochter. Anna sagt, es gebe ja nun viele, viele verschiedene mögliche Gründe, warum junge Männer plötzlich sterben.
Und hier gebe ich auf.
Viele, viele verschiedene mögliche Gründe, warum junge, gesunde Männer plötzlich sterben, wollen mir einfach nicht einfallen.
Übergang zwischen Realität und Science Fiction
Anna macht Yoga und Anna meditiert jeden Morgen. Sie empfiehlt mir, es doch auch mal mit Meditieren zu versuchen.
Früher mal konnte Anna sich empören. Früher mal ist Anna sehr aktiv für die Rechte von Kindern eingetreten. Von Staatenlosen. Von Behinderten. Früher mal war Anna wütend, wenn ihr ein Arzt eine IGeL-Leistung angeraten hat. „Ich sage doch dazu nicht 'Ja', nur damit der sich auch noch seinen dritten Porsche in die Garage stellen kann!“
Meine Freundin Anna hat sich impfen lassen und zwar aus Solidarität und außerdem, ergänzt sie, wolle sie keine Lungenentzündung. Meinen Hinweis, dass sie mit Mitte 40 aller Wahrscheinlichkeit nach keine Lungenentzündung durch diesen Erreger bekommen würde, quittiert sie mit Schweigen. Vielleicht verdreht sie dabei die Augen am Telefon, sehen kann ich es ja nicht.
Zu Weihnachten traf sie sich nach einigem Zögern nun doch mit ihren Eltern. Obwohl ihre Mutter nicht geimpft ist. Die Begründung ihrer Mutter, sich nicht impfen lassen zu wollen, hätte damit zu tun, dass der Übergang zwischen Realität und Science Fiction bei ihrer Mutter fließend sei, erläutert Anna. Die Mutter soll dann zum Familienessen, zu dem auch Annas Tochter kommt, einen negativen Test vorweisen, das sei nun schon geboten, sagt Anna, einfach zur Sicherheit für alle.
Annas Tochter ist heute 22 Jahre alt. Röteln hat sie nicht durchgemacht, und sie ist bis heute nicht dagegen geimpft. Aber gegen SARS-CoV-2. Aus Solidarität.