Viele Franzosen, die ihre Abneigung gegen den Präsidenten eben noch mit rechts bekundet haben, taten dies bei der gestrigen Wahl zur Nationalversammlung mit links.
Meine Nachbarin ist 77 Jahre alt und lebt seit 77 Jahren in diesem Dorf. Von allen aufgestellten Kandidaten in unserem Wahlkreis kannte meine politisch sehr interessierte Nachbarin nur eine einzige Kandidatin. Es ist die ehemalige Ehefrau eines ehemaligen Bürgermeisters des 12 Kilometer entfernten Städtchens. Der Bürgermeister wurde seinerzeit sehr geschätzt und daher wählt meine Nachbarin dessen Exfrau. Obwohl die einer der zahlreichen konservativen Parteien angehört, die meine Nachbarin als Anhängerin der Sozialisten sonst nicht wählt.
Ein Freund in einem anderen Département berichtete mir, dass er keinen einzigen der Kandidaten kennt, die in seinem Wahlkreis zur Wahl stehen, 2017 war es genauso. Er wohnt seit 15 Jahren dort und sagt, diese Entwicklung hätte mit dem Aufstieg Macrons begonnen. Vor allem die Kandidaten von Macrons Partei „La République en Marche“ seien oftmals im ganzen Département vollkommen unbekannte Personen, die in vielen Fällen erst kürzlich in die Politik und in Macrons Partei eingestiegen sind. Mir kommen da Bilder, wie man sich beim Treffen im Rotary Club nach dem Sohn erkundigt: „Erzähl mal von Jean-Marc, was macht er heute?“ „Ach, er sitzt gerade an seiner Masterarbeit in Politikwissenschaften, er hat ja ein bisschen getrödelt, hö-hö.“ „Wie alt ist er jetzt?“ „31.“ „Hat er nicht vielleicht Lust, sich als Kandidat für uns aufstellen zu lassen?“ „Oh, sehr gute Idee, er kommt nachher noch vorbei, frag ihn doch direkt.“ Umfragen zufolge kennen über die Hälfte der Franzosen den Abgeordneten ihres Wahlkreises noch nicht einmal dem Namen nach, über 70 Prozent hatten niemals eine Begegnung oder andere Interaktion mit ihm.
Ohne lokale Verwurzelung
Natürlich kann man immer argumentieren, dass der Föderalismus in Frankreich eine viel kleinere Rolle spielt als in der Schweiz oder in Deutschland. Aber diese Kandidaten, die sich als Abgeordnete in der gesetzgebenden Nationalversammlung bewerben, treten ja auf Wahlkreis-Ebene in Erscheinung, Einheiten, die kleiner sind als die Départements. Hier möchte man doch davon ausgehen, dass man schon einmal etwas von den Politikern mitbekommen haben sollte. Ein Grund liegt hier: viele Kandidaten, insbesondere jene, die bereits in der Nationalversammlung sitzen, suchen sich einfach einen Wahlkreis, wo sich noch kein Kandidat der eigenen Partei aufgestellt hat, mieten dort irgendeine Wohnung an und schon können sie sich dort als Kandidat präsentieren. Und das Sich-Präsentieren erschöpft sich darin, dass sie von Plakaten lächeln.
Das von Mélenchon schnell zusammengeschusterte Bündnis NUPES ist bröckelt bereits, bevor es alt werden konnte. Erscheint es in den Medien wie ein Zusammenschluss mehrerer Parteien aus dem linken und ökologischen Spektrum, so zeigt sich in der Realität, dass gar nicht alle Mitglieder der in NUPES zusammengeschlossenen Parteien nun für die NUPES antreten. Nach wie vor gibt es Kandidaten, die sich ausschließlich für beispielsweise die Sozialistische Partei PS oder für die Grünen präsentierten, obwohl ihre Parteien bei NUPES mittun. Übrigens hat sich Mélenchon in keinem Wahlkreis als Kandidat präsentiert. Wenn sein Plan, zum Premierminister ernannt zu werden, nicht aufgeht, hat er hernach noch nicht einmal einen Sitz in der Nationalversammlung! Marine Le Pen hat ihm währenddessen schon mal eine schöne Rentenzeit gewünscht.
Ministerin der Berufsverbote
Es geht auch bei der Wahl zur Nationalversammlung vor allem um die bekannten Köpfe. Es werden kaum Parteien, Parteiprogramme, also Inhalte diskutiert, die mediale Berichterstattung ähnelt der einer Castingshow: „Zemmour hat an Beliebtheit eingebüßt, Macron hat hier verloren, Le Pen hat dort gewonnen, da ist Mélenchon beliebt.“ Auffällig war, dass in den gebührenfinanzierten Radiosendern in den letzten Wochen nachgerade propagandistisch von NUPES berichtet wurde. Die Anhänger Mélenchons und er selbst hängen ja an der Vorstellung, dass Mélenchon mit einer Mehrheit von NUPES in der Nationalversammlung zum Premierminister ernannt würde. Das ist aber kein im System vorgesehener Pflichtvorgang, es ist lediglich bereits drei Mal geschehen, dass der Präsident seinen Premierminister aus dem großen gegnerischen Lager geholt hat.
Ziel dabei ist, das Land in der cohabitation überhaupt regierbar zu machen, aber der französische Präsident ist ganz und gar nicht zu diesem Schritt verpflichtet. Emmanuel Macron hat im Mai mit der Ernennung von Elisabeth Borne zur Premierministerin bereits einen doppelten Coup gelandet: sie war viele Jahre als Beraterin für die Sozialisten tätig, schloss sich 2017 „La République en Marche“ an, ist aber auch Mitglied einer kleinen, 2020 neu gegründeten sozialistischen Partei namens „Territoires de Progrès“ und: sie ist eine Frau. Ich vermute, dass Macron eher links eingestellte Abgeordnete und Bürger mit der Ernennung Bornes zufrieden- und ruhigstellen will. Die vergangenen fünf Jahre hat Borne im Kabinett Macron übrigens als Arbeitsministerin gedient und in dieser Funktion auch die Suspendierung des „ungeimpften“ medizinischen Personals abgesegnet.
Parteien weniger statisch als in Deutschland
Die Parteienlandschaft Frankreichs ist groß, mehrmals pro Jahr werden neue Splitterparteien gegründet, die Namen der Parteien und Bündnisse wechseln sehr häufig. Auch die Franzosen wissen oft nicht, ob es sich um den Slogan einer Partei oder den Namen einer Partei oder gar um ein ganzes Parteienbündnis handelt, wenn ich Nachfragen stelle.
Zurück zum Dorf, in dem ich lebe: 2017 stimmten hier 49 % für den „Front National“. Gestern stimmten 45 % für NUPES. Es geht hier nicht um politische Überzeugungen, es geht den Wählern fast ausschließlich darum, zu markieren, ob sie für oder gegen den König, Pardon, den Präsidenten sind. Dieses Wahlverhalten wird sich im zweiten Wahlgang am kommenden Sonntag noch verschärfen. Und die Hälfte der Franzosen versucht durch Wahlverweigerung deutlich zu machen, dass sie die Schnauze voll haben. Von allem!