Randnotizen eines (mehrfach) Gefährdeten – glücklicherweise weder aus der Matratzengruft (Heine) noch aus dem Kellerloch (Dostojewski).
Ein liebes Kind hat viele Namen, sagen die Finnen und verfügen deshalb über eine ganze Reihe von Flüchen, die sich um den Teufel drehen („Perkele“). Für meine Frau Elisabeth habe ich zehn, für unsere Enkeltochter Luisa gar über 20 Koseformen ausgemacht. Die Vielzahl der Namen, denen wir in der gegenwärtigen einzigartigen Pandemie begegnen, beruht natürlich nicht auf solcher Zuneigung.
Die wissenschaftliche Bezeichnung (Nomenklatur) von Fauna und Flora sowie von Viren und Bakterien ist eine hochinteressante Angelegenheit und lässt manchmal tief blicken, wie zum Beispiel bei der Bezeichnung des Menschen als homo sapiens (der weise Mensch) oder des Buchfinken als fringilla coelebs (der ehelose Fink). Doch hatten diejenigen, die Corona benamsten, mitnichten einen in der Krone, sondern orientierten sich an dem äußeren Erscheinungsbild dieses Virus, das mittlerweile jedes Kind kennt. Ein wenig verwirrend erscheint allerdings das halbe Dutzend Namen, das uns täglich begegnet:
- Corona
- Das neue Coronavirus
- Das neuartige Coronavirus
- 2019-nCoV
- Covid 19
- Sars-CoV2.
Bisher trat nur Kurt Tucholsky unter derart vielen Namen auf (zur Erinnerung: Er stellte einst die Frage: Was darf Satire? Und lieferte die Antwort gleich mit: Alles): Kaspar Hauser, Peter Panther, Theobald Tiger und Ignaz Wrobel.
Irritierend ist auch, dass „Virus“ zweigeschlechtlich gebraucht wird, also sowohl sächlich wie männlich. Die Zahl der Viren ist unübersehbar, da sie nicht selbstständig existieren können, sondern eine Wirtszelle benötigen, deren Zahl wiederum nicht bekannt ist. Evolutionär sind sie auf jeden Fall topfit, tricksen sie unser Immunsystem doch immer wieder mit neuen Mutationen aus.
Manchmal klappt der Bezug nicht auf Anhieb
Nachdem die öffentliche Diskussion um Corona losging, wartete ich täglich auf die erste Verbindung zur AfD. Denn ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die AfD deutschlandweit das ist, was Donald Trump weltweit ist: die Ursache jedes Übels. Dabei kommen mir immer so merkwürdige Assoziationen wie die vom Wettlauf zwischen Hase und Igel („Ick bün all hier!“) oder die Allgegenwart Figaros in Rossinis Barbiere di Siviglia („Figaro su, figaro giù…!“), mal oben, mal unten, mal hier, mal dort; eben das Faktotum der politischen Szene.
Manchmal klappt der Bezug natürlich nicht auf Anhieb. Aber für diesen Fall haben Politiker und linientreue Journalisten die gleiche Taktik entwickelt wie die Kandidaten in jenem Prüfungswitz, über den wir schon vor 50 Jahren gelacht haben. Was? Sie kennen den nicht? Ein Professor in Bio ist dafür bekannt, dass er stets das Thema „Würmer“ prüft, und alle Kandidaten bereiten sich entsprechend vor. Eines Tages lautet seine erste Frage jedoch: „Herr Kandidat, was wissen Sie über den Elefanten?“ Der überraschte Kandidat kratzt sich verlegen am Kopf, fängt sich aber schnell und legt dann los: „Der Elefant ist ein großes graues Tier. Er hat vorne einen Rüssel und hinten einen Schwanz. Beide haben das Aussehen von Würmern. Er gibt folgende Arten von Würmern ...“. Achten Sie mal drauf: Genau so läuft es nicht selten bei der AfD. Egal, wo Sie starten, Sie landen immer bei diesem „gärigen Haufen“ (Gauland).
Hm. Ich habe das Gefühl, einige finden solche Äußerungen in diesem Zusammenhang reichlich degoutant. Mag sein, aber wenn man das Haus nicht verlassen darf und jeder soziale Kontakt verpönt ist, kommt man auf die blödesten Gedanken. Außerdem gilt „Homer gibt dir über Frauen Macht! Homer ist der, wenn man trotzdem lacht!“ Im englischen Original („Brush up your Shakespeare“ aus „Annie get your gun“) klappt die Pointe leider gar nicht, obwohl doch der englische Humor so berühmt ist.
Ich fand Merkel gar nicht schlecht
Da kam die Fernsehansprache der Kanzlerin am Mittwochabend gerade recht und brachte ein wenig Abwechslung in den Alltagstrott. Also für ihre Verhältnisse fand ich Merkel gar nicht schlecht. Ganz ehrlich. Aber man kann das natürlich auch anders sehen. Etwa wie die hochgeschätzte NZZ, deren Deutschlandkorrespondent Hansjörg Müller befand, dass die Kanzlerin wieder einmal wirkte, „als sei sie sehr weit weg“. Und: „Die passenden Worte für das Ausserordentliche vermochte sie dabei nicht zu finden.“ Demgegenüber war Chefreporter und Stellvertretender Chefredakteur Robin Alexander („Die Getriebenen“), bei der „Welt“ zuständig für die Berichterstattung über Angela Merkel und das Kanzleramt, voll des Lobes: „Merkel fand die richtigen Worte und traf den richtigen Ton.“
Die Deutschen geben der Welt immer wieder Rätsel auf. Ob nun Napoleons oder Churchills Verdikte über die Deutschen authentisch sind oder ob es sich um „Kuckuckszitate“ handelt. Schon als Primaner lauschte ich staunend den Ausführungen eines Sorbonne-Professors, der den „Volkscharakter“ von Italienern und Deutschen am Beispiel einer alten Dame an der Riviera erläuterte, die eine Feige vom Baum pflückt und dazu „o sole mio“ trällert, während das alte Mütterchen aus der grauen Stadt am Meer zur selben Zeit unter der Last eines Holzbündels ächzt, das sie aus dem Wald nach Hause schleppt. Doch seit dem Sommermärchen 2006 weiß alle Welt: Die Deutschen sind ganz anders und stehen den Südeuropäern in puncto Lebensfreude und Feiern in nichts nach. Und auch jetzt, in der „größten Krise nach dem Zweiten Weltkrieg“ (Merkel) feiern die Deutschen allenthalben „Corona-Partys“. Sind das dieselben jungen Leute, die Merkel und Steinmeier kürzlich erst noch wegen ihres Engagements in der FFF-Bewegung gelobt haben? Ich komme aus dem Grübeln nicht mehr raus.
Während ich diesen Text schreibe (20.03.2020 – 15:08 Uhr), melden die Stuttgarter Nachrichten unter der Schlagzeile „Gruppen von mehr als drei Personen in der Öffentlichkeit verboten“: „CDU-Innenminister Thomas Strobl (CDU) kritisierte, es sei „rücksichtlos und verantwortungslos“, die Einschränkungen zu missachten. Verstöße zum Beispiel gegen das neue Niederlassungsverbot könnten mit Bußgeldern bis zu 25.000 Euro und auch mit mehrjährigen Haftstrafen geahndet werden.“ Trotz des Ernstes der Lage kann ich ein Schmunzeln nicht unterdrücken: „mit mehrjährigen Haftstrafen“. Allenfalls bei „Richter Gnadenlos“. Doch der ist seit zwei Jahren in Pension und genießt sein Leben in einer Favela in Rio.
„Von guten Mächten wunderbar geborgen“
Niemand weiß, wie er die Corona-Krise übersteht. Auch junge Leute sind nicht per se aus dem Schneider. Manchen helfen vielleicht diese wunderbaren Verse von Dietrich Bonhoeffer:
Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
Papst Franziskus hat gezeigt, was zu tun ist: „In der Kirche Santa Maria Maggiore und vor dem Pestkreuz in der Kirche San Marcello al Corso flehte der Pontifex [= der Brückenbauer, nämlich zu Gott] am Sonntag [15. März] Gott um das Ende der Corona-Pandemie an.“ Zusätzlich zu einem landesweiten Rosenkranzgebet gegen das Coronavirus, zu dem Italiens katholische Bischöfe für diesen Donnerstagabend (19. März) aufgerufen haben und an dem sich der Papst ebenfalls beteiligen will, will Italien am Freitagmorgen vereint gegen die Krise singen. Und tat das dann tatsächlich auch.
Leider haben die Menschen guten Willens „eine jüdische Stimme“ überhört, nämlich die von Hans Jonas über den „Gottesbegriff nach Auschwitz“. Danach hat sich Gott freiwillig seiner Allmacht in dem Augenblick begeben, in dem er dem Menschen die Freiheit als Vorbedingung seiner Existenz schenkte. „Im bloßen Zulassen menschlicher Freiheit liegt ein Verzicht der göttlichen Macht.“ Der Herr kann also gar nicht helfen, selbst wenn er wollte.
Für Ungläubige ändert sich dadurch nichts. Für Gläubige ist diese Botschaft allerdings ein schwerer Schlag. Doch wer traut sich, das dem Papst zu sagen? Jetzt, wo Georg Gänswein in Ungnade gefallen ist? Es sind in der Tat schwere Zeiten.