Es ist jetzt genau zehn Jahre, dass Kanzler Gerhard Schröder seine Agenda 2010 verkündete. Deutschlands überfrachteter Sozialstaat wurde ein gutes Stück reformiert. Bis heute profitiert das Land davon. Doch zum Jahrestag wird langsam revidiert, dabei bräuchten wir einen ähnlich mutigen, zweiten Schritt.
Gerhard Schröder wirkt neben den historischen Kanzlergiganten Adenauer, Brandt und Kohl wie ein schneidiger Aushilfskellner der Macht. Ihm fehlte die intellektuelle Substanz eines Helmut Schmidt ebenso wie die Wirtschaftskompetenz eines Ludwig Erhard. Und die geduldige Konzilianz einer Angela Merkel zeigte er schon gar nicht. Und doch hat Schröder in seiner Kanzlerschaft etwas Großes geleistet. Seine Reformpolitik Agenda 2010 war ein strategischer, ein mutiger Akt. Der ausufernde Bürokratie-Sozialstaat wurde mit ihm ein wichtiges Stück zurückgedrängt und damit wirtschaftliche Kraft im Land neu entfaltet. Schröder opferte dafür sehenden Auges sein Amt. Das ist selten in der Politik, und das verdient rückblickend Respekt.
Nun ist es genau zehn Jahre her, dass er die Republik mit diesem historischen Vorstoß überraschte. So wird in den kommenden Wochen allseits Bilanz gezogen und man kann sagen, dass gerade die Agendapolitik Deutschland wirtschaftlich so gestärkt hat, dass es besser als alle anderen Staaten Europas durch die Krisen der jüngsten Jahre gekommen ist.
Wenn nun ausgerechnet die Sozialdemokraten zum Zehnjährigen der Agenda davon abrücken wie eine dicke Tante vom Diätplan, dann begehen sie einen großen politischen Fehler. Denn gerade der Kanzlerkandidat der SPD Peer Steinbrück war ein leidenschaftlicher Pate der Agendapolitik. Und doch schleppt er sich nun – verwundet von seinen Nebenverdienstaffären – in die linken Arme der Genossen und folgt der Gabriel-SPD in der Abkehr von Schröders großer Tat. Die damaligen Kanzlerworte „Wir werden Leistungen des Staates kürzen“ will die Sozialdemokratie heute am liebsten von allen Festplatten der kollektiven Erinnerung löschen. Ob in der Rente mit 67, den Hartz-Gesetzen oder der Öffnung der Arbeitsmarktes - überall ist wieder sozialbürokratische Restauration angesagt.
Aber auch die bürgerlichen Parteien schwören dem Reformimpuls der Agendapolitik zusehends ab. Von Ursula von der Leyen bis zur CSU betreibt die Union einen munteren Ausbau des Sozialstaates. Derzeit scheint man sich das leisten zu können, denn wir zehren noch von den Früchten der Agendapolitik. Eine vorausschauende Politik würde freilich erkennen, dass wir uns besser für die nächsten Krisen und Konkurrenzen wappnen sollten, als es uns im Lehnstuhl der Verteilungsgemütlichkeit bequem zu machen.
In Wahrheit braucht Deutschland eine Agenda 2020, um auch in zehn Jahren noch stark da zu stehen. Das Rentensystem muss sich dem demografischen Wandel viel konsequenter stellen - mit einer automatischen Anpassung des Rentenalters an die Lebenserwartung wie in Dänemark, oder mit einer gänzlichen Aufhebung fixer Altersgrenzen. Deutschland braucht zudem eine echte Föderalismusreform mit weniger Bundesländern, weniger Bürokratien, weniger Beamten, weniger Landesmedienanstalten. Im Energie- und Gesundheitssektor müssen wir vom Marsch in die Planwirtschaft abkehren, die verheerend komplizierten Steuererhebungen müssen dringend vereinfacht und die Staatsfinanzen endlich saniert werden. Angela Merkel sagt zwar: “Ich möchte Kanzler Schröder ganz persönlich danken, dass er mit der Agenda 2010 mutig und entschlossen eine Tür aufgestoßen hat, unsere Sozialsysteme an die neue Zeit anzupassen.” Doch es wäre an ihr, diese Tür weiter zu öffnen – sonst fällt sie langsam wieder zu.
Zuerst erschienen auf Handelsblatt Online