Chaim Noll / 12.09.2018 / 12:30 / Foto: Bildarchiv Pieterman / 26 / Seite ausdrucken

Was ich von meiner Chemnitzer Großmutter gelernt habe

Meine Chemnitzer Großmutter hat gefährlich gelebt. Ihre Mutter starb früh, ihr Vater wanderte 1936 nach Palästina aus, ins spätere Israel. Da war sie bereits verheiratet und blieb. Sie gehörte zum gutbürgerlichen Mittelstand, war gebildet, hatte als eine der ersten Frauen in Sachsen nach dem Ersten Weltkrieg studiert. So wurde sie in der Nazi-Zeit nicht zur Schwerarbeit in einem Rüstungsbetrieb, sondern im Büro einer Spedition „dienstverpflichtet“. Der Inhaber, ein Nazi-Bonze, trieb unter der Hand Schwarzhandel mit Kohle, was sie, als sie in die Unterlagen Einsicht nahm, beanstandete. Sie hat zeitlebens offen ausgesprochen, was sie dachte. Ihr kam nicht in den Sinn, dass sie als Jüdin dazu kein Recht mehr haben sollte.

Meine Großmutter wurde im Frühjahr 1943 verhaftet und mehrere Tage und Nächte von der Gestapo verhört. Auf Anraten eines deutschen Rechtsanwalts, der von ihrem früheren Bekanntenkreis übrig geblieben war, weigerte sie sich auch unter Druck, ein Schuldgeständnis zu unterschreiben über die Unterschlagung von „zwei Waggons Kohle“, deren sie bezichtigt wurde. Daher musste das Verfahren gegen sie 1944 eingestellt werden. Der Umstand, dass sie fast ein Jahr in Untersuchungshaft verbracht hatte, rettete ihr das Leben, da sie als Angeklagte in einem schwebenden Ermittlungsverfahren nach deutschem Rechtsverständnis nicht deportiert werden durfte.

Als sie frei kam, waren die anderen Juden der Stadt längst „abgeholt“. Ihre Fünf-Zimmer-Wohnung hatte die Gestapo beschlagnahmt, einige Zeit war sie obdachlos und lebte in Chemnitz und Dresden bei Freunden, die sich ihrer annahmen. Ende 1944 wurde sie wegen einer abfälligen Bemerkung über Hitler denunziert und erneut inhaftiert, diesmal kam sie sofort ins KZ Theresienstadt. Doch zu spät, um noch in eins der Vernichtungslager abtransportiert zu werden. Sie überlebte und kehrte nach Chemnitz zurück. Nach dem Krieg galt sie als „politisch Verfolgte“ und bezog in der DDR eine hohe Rente.

Auf selbstmörderische Weise politisch unkorrekt

Ich habe ich mich immer gefragt, warum sie so an Chemnitz hing. Obwohl diese Stadt für ihre angegriffenen Lungen – sie war in Theresienstadt an Tuberkulose erkrankt – sehr ungünstig liegt – in einem Talkessel. Es half nicht viel, dass sie im besten Viertel lebte, am Kassberg, etwas oberhalb der dicken Luft. Das Rauchen hat sie auch nie aufgegeben, es war ein Symbol ihrer Emanzipation: Damals wurde in gebildeten Kreisen geraucht. Und sie hat niemals – nicht mal 1944, als sie eben aus Gestapo-Haft entlassen war – auf ihr Recht verzichtet, laut und deutlich ihre Meinung zu sagen.

Ich denke oft an meine Chemnitzer Großmutter, die, wenn ich es genau überlege, mit dem Leben davon gekommen ist, weil sie, als man sie zum Schweigen verurteilt hatte, trotzdem gesagt hat, was sie dachte. Ihr Verhalten war nach den Maßstäben ihrer Zeit äußerst unklug, man könnte sagen: auf selbstmörderische Weise politisch unkorrekt. Ich denke immer an sie, wenn ich mich wieder einmal durch zu große Offenheit verhasst gemacht habe. Lange hat mich die Frage beschäftigt, warum ich außerstande bin, mich politisch korrekt zu verhalten. Ich denke, es ist ein glückliches Erbteil meiner Großmutter. Sie hat überlebt, weil sie politisch unkorrekt war. Allerdings: So viel wie bei ihr stand bei mir nie auf dem Spiel.

Sie blieb in Chemnitz bis zu ihrem letzten Tag. Auf die Frage, warum sie, nach all ihren schrecklichen Erlebnissen, immer noch dort leben wollte, gab sie etwas allgemein zur Antwort: In dieser Stadt gäbe es „auch viele anständige Menschen“. Mein Vater versuchte in den siebziger Jahren, sie nach Berlin zu holen, doch sie ging nach Chemnitz zurück. Inzwischen wurde ich fünfmal zu Lesungen nach Chemnitz eingeladen und habe versucht, dem Rätsel auf den Grund zu gehen. Bei der ersten Veranstaltung vor zehn Jahren traf ich noch den alten Antiquar, der meiner Großmutter über Jahrzehnte französische Romane besorgt hat. Zu meiner bisher letzten Lesung im vergangenen Jahr kamen mehr als zweihundert Chemnitzer. Inzwischen habe ich Freunde dort. Dass es Nazis in Chemnitz gibt, habe ich als Kind von meiner Großmutter gehört. Auch, dass es nicht die ganze Wahrheit über diese Stadt ist.

Foto: Bildarchiv Pieterman

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Leserpost

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Wilfried Cremer / 12.09.2018

Als Kind hab ich schon gedacht, die Kommunisten seien Rassisten, weil sie den am slawischsten klingenden Namen einer Großstadt getilgt hatten. Ausgerechnet der einzige mit C!

C. J. Schwede / 12.09.2018

Danke für Ihren Artikel! Er ist mir ein großer Lichtblick und kleiner Hoffnungsstrahl.

Rolf Lindner / 12.09.2018

Ich bin ganz sicher, dass politische Korrektheit eine Form der Suizidalität ist, die z.B. die DDR in den Untergang getrieben hat.

Michael Markwardt / 12.09.2018

Danke das Sie diese lehrreiche Geschichte mit uns Teilen.

Martin Landvoigt / 12.09.2018

Es macht Mut zu hören, dass Aufrichtigkeit nicht immer ein fatales Ende nehmen muss. Ich habe weder mit Nazis noch mit Neo-Nazis irgend etwas zu tun. Vielleicht gibt es die wirklich, sind gewaltätig und mir ebenso fremd wie die Linksradikalen, die mir weit eher sichtbar sind. In diesem Fall müsste man die Öffentlichkeit sich vor Extremisten und Gewalttäter aller Couleur schützen. Oder sind jene vielleicht doch eher eine mediale Erfindung, die sich aus V-Männern, die sich Anerkennung von anderen unerkannten V-Männern erhoffen und aus linksradikalen False-Flag-Operationen speisen?

Gerhard Giesemann / 12.09.2018

Da hatte mein Großonkel Henry, wie sie ihn nannten, nicht so viel Glück. Er wurde im KZ Dachau ermordet, kam als Asche zur Familie zurück, Rechnung für die Krema.-kosten inliegend. Warum? Der hatte, im Kreise von ein paar wenigen Kollegen gesagt: Der Hitler fährt alles gegen die Wand. Das war nach der Niederlage von Stalingrad. Alle glaubten an die Wunderwaffe, die es reißen sollte. Diese Wunderwaffe war nichts anderes als die Panzerfaust.

Werner Arning / 12.09.2018

Manchmal erweisen sich unglückliche Umstände als Glücksfall, diese haben ihrer Großmutter wahrscheinlich sogar das Leben gerettet. Vielleicht wurde sie auch für ihren Mut belohnt. Ängstliche Vorsicht hätte vermutlich ihren Tod bedeutet. Es ist schön, dass Sie das Beispiel Ihrer Großmutter erwähnen. Ihre Erfahrung kann uns allen Mut verleihen. Sie kann uns helfen, uns furchtlos zu dem zu bekennen, was wir Leser der Achse für richtig halten. Ihre Großmutter hat sich von echten Nazis nicht kleinkriegen lassen. Würden wir nicht das Andenken an solch tapfere Menschen verraten, wenn wir in dieser so bedrohlichen Situation für unser Land, für unsere Demokratie, für die Freiheit, uns den Mund verbieten lassen würden? Auch wir wollen nicht zurückschrecken, wenn es darum geht, auf „den Kohle-Schwarzhandel“ aufmerksam zu machen. Und uns droht nicht Theresienstadt.

C. Gröning / 12.09.2018

Danke für diesen bewegenden Artikel. Er gibt mir etwas Mut zurück.

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