Gastautor / 07.01.2024 / 11:00 / Foto: Stefan Klinkigt / 18 / Seite ausdrucken

Was hat das ultraorthodoxe Judentum mit Greta zu tun?

Von Sandro Serafin.

Gehen Sie einfach mit dem Publizisten Tuvia Tenenbom auf eine kleine Reise in die Welt der Gottesfürchtigen und nähern sich Schritt für Schritt der Auflösung. 

Was haben ein ultra-orthodoxer Jude in Jerusalem und ein Anhänger von Fridays for Future auf den Straßen Berlins gemeinsam? Falls Ihnen jetzt nichts einfällt, sollten Sie schleunigst zum neuen Buch von Tuvia Tenenbom greifen: „Gott spricht Jiddisch“. Ein Jahr lang ist der 66-jährige Publizist in die ultra-orthodoxe Welt Israels eingetaucht, um die Charedim – die Gottesfürchtigen – besser zu verstehen. Herausgekommen ist eine facettenreiche Reportage, die nicht nur die strenggläubigen Juden porträtiert, sondern immer wieder auch dem woken Westen den Spiegel vorhält.

Aber von vorne: Tuvia Tenenbom wurde 1957 in der ultra-orthodox geprägten Stadt Bnei Brak bei Tel Aviv in eine strengreligiöse jüdische Familie geboren. Er wuchs in Mea Schearim in Jerusalem, einem der bekanntesten ultra-orthodoxen Viertel der Welt, auf. Noch in jungen Jahren verließ er die Gemeinschaft. Seitdem tourt er als selbsterklärter „Menschenbeobachter“ durch die Welt. In diversen Büchern hat er Juden bereits ebenso porträtiert wie Flüchtlinge, Deutsche oder Briten. 

Nun also sind die Ultra-Orthodoxen an der Reihe. Eine Gruppierung, die, gemessen an der Weltbevölkerung, zwar winzig ist, aber trotzdem reichlich Anlass zum Gaffen und Naserümpfen bietet. Seltsame Pelzhüte, gewöhnungsbedürftige Strümpfe, interessante Schläfenlocken und stets schnellen Schrittes unterwegs: Wer schon mal in Israel war, kennt den Anblick. Und wer ein Netflix-Abo hat, weiß sowieso, was es mit den Ultra-Orthodoxen auf sich hat. 2020 ging schließlich die Mini-Serie „Unorthodox“ durch die Decke, die den Ausstieg der Jüdin Deborah Feldman aus der Satmarer-Gemeinschaft in Brooklyn darstellt. Seitdem sind wir quasi alle Experten für das charedische Judentum!

Menschen, „die sich in praktisch allen Fragen uneins sind“

Das war natürlich ironisch gemeint! „Das“ ultra-orthodoxe Judentum gibt es überhaupt nicht. Weder im Kleidungsstil noch in den theologischen Ansichten noch in den Traditionen. Oder um es mit Tuvia Tenenbom zu sagen: Ultra-Orthodoxe sind „Gruppen von Menschen, die sich in praktisch allen Fragen uneins sind“. Eine Vielfalt, die eine Serie wie „Unorthodox“ weder abbilden will noch abbilden kann. Das Problem besteht darin, dass sie trotzdem das allgemeine Bild von „den Ultra-Orthodoxen“ prägt.

An dieser Stelle kommt Tenenboms Reportage ins Spiel: Hier kommen all jene auf ihre Kosten, die nicht bereit sind, in billigen Klischees zu verharren. Tenenbom hat ein Jahr mit Ultra-Orthodoxen in Israel gelebt. Er hat mit ihnen Jiddisch auf den Straßen geplaudert, sich an Schabbat-Tische einladen lassen, er ist in Jeschiwot (Talmud-Thora-Schulen) gegangen und sogar zu Audienzen bei führenden Rebbes empfangen worden. Kurzum: Er ist wirklich in das ultra-orthodoxe Judentum eingetaucht, in dessen ganze Vielfalt. Das unterscheidet ihn schon methodisch von jenen Journalisten, die im Zweifel weder Hebräisch noch Jiddisch können, mal für einen Tag (vielleicht auch zwei) in Mea Schearim vorbeischauen und dann gleich eine oberflächliche Dokumentation zusammenschustern.

Auf gut 570 Seiten entfaltet Tenenbom ein breites Panorama, das alle Sinne des Lesers anspricht. Es geht um das sexuelle Leben der Ultra-Orthodoxen, um die Kleidung der Charedim, genauso wie um das kulinarische Erbe des orthodoxen Judentums und ihre Musik. Darüber hinaus dringt Tenenbom aber immer wieder auch in erstaunliche Tiefen vor. Er fragt nach den Beweggründen der Charedim für ihr Leben, auch nach den Quellen ihrer Ansichten; oft wird es theologisch.

„Das ist ihre Art zu leben und das ist o.k.“

Dabei zeichnet sich die Darstellung stets durch eine besondere Form der Zwangslosigkeit aus. Tenenbom benennt kritische Punkte. Er konstatiert zum Beispiel einen ausgeprägten Personenkult um die sogenannten „Rebbes“. Allgemein kritisiert er Lehren, die seine Gesprächspartner nicht anhand der religiösen Schriften begründen können. Daneben aber stellt er all das Positive, das ihm auffällt: etwa eine besondere Form der Humanität und des Großmuts, auch Gastfreundschaft und Witz. Am Ende steht nicht eine glattgeschliffene These, nach der das ultra-orthodoxe Judentum wahlweise himmlisch oder teuflisch ist. Die Stärke des Buchs liegt vielmehr gerade in der Erkenntnis der Widersprüchlichkeiten.

Als Tenenbom Anfang Dezember in Berlin-Mitte einen Film vorstellte, der das Buch ergänzt, fragte eine junge Dame ihn zur Rolle der Frauen im Film, in dem sie wenig präsent sind. Tenenbom erklärte daraufhin, dass Frauen eher weniger mit ihm geredet hätten: „Männer sind deutlich präsenter in der Öffentlichkeit. Das ist ihre Art zu leben und das ist o.k.“ Bei der Fragestellerin löste diese Bemerkung Schnappatmung aus: „Nein, das ist nicht ok!“ Das unterscheidet Tenenbom von vielen Zeitgenossen: In einer Welt, die immer mehr zur Moralisierung neigt, weigert er sich, überheblich den moralischen Zeigefinger zu heben.

Greta, die Göttin der Atheisten

Tenenbom warf bei der Gelegenheit noch eine weitere Anmerkung ein: „Wenn wir alle die Charedim kritisieren, müssen wir erst mal auf uns selbst schauen!“ Tatsächlich tut er genau dies auch im Buch. Auf überraschende Weise spiegelt er in der ultra-orthodoxen Gesellschaft immer wieder einen zunehmend aufs Woke getrimmten Westen. Den Personenkult um führende Rebbe-Figuren findet Tenenbom etwa im weltweiten Kult um das schwedische Schulmädchen Greta wieder: „Die Mea Schearimer Ladys haben Rebbes, die Berliner Ladys haben Greta.“ An anderer Stelle spricht er von Greta als der „Göttin der Atheisten“.

Auch die bizarre Obsession um Sexualität verbindet den Westen mittlerweile mehr mit Mea Schearim, als den Menschen hier bewusst ist. An einer Stelle schreibt Tenenbom über einen Rebbe, der angeblich nie Frauen ansieht: Dieser sei „der fortschrittlichste Mann auf Erden“. Deswegen legt Tenenbom ihm in seiner typisch bissigen Art nahe, „als progressiver Kandidat der Demokraten in den USA, der Grünen in Deutschland oder von Labour in Großbritannien“ anzutreten.

Bestimmte religiöse Vorstellungen zum endzeitlichen Jerusalem wiederum unterlegt der Autor mit der süffisanten Bemerkung, zu diesem Zeitpunkt werde „das Klima perfekt sein, wird es nur noch E-Autos geben, wird die Hälfte der Menschheit auf dem Mond leben, wird es weder auf dem Mond noch auf der Erde Grenzen zwischen den Nationen geben, außer in Palästina, und werden die meisten Menschen transhuman sein, nicht mehr nur transgender, und sich dafür entscheiden, als Katzen zu leben“.

So positiv widersprüchlich wie die gesamte Darstellung ist am Ende auch Tenenboms ganz persönliches Fazit. „Ich fühle mich hier mehr zuhause, als ich es je in New York oder Berlin getan habe“, schreibt er über seine Zeit unter den Charedim. Trotzdem verlässt er sie wieder: „Ich bin nicht bereit, das Judentum so sehr zu missachten, dass ich mich Gottesersatz-Rabbis beuge und unterwerfe.“ Dass es im Westen nicht anders läuft, kommentiert er mit den Worten: „Ich kann die meschuggenen Menschen des Westens ertragen, weil sie nicht meine meschuggenen Menschen sind.“

Tuvia Tenenbom: „Gott spricht Jiddisch. Mein Jahr unter Ultraorthodoxen“, Suhrkamp, 20,00 Euro (hier bestellbar).

 

Sandro Serafin arbeitet als freier Autor für verschiedene Medien, schwerpunktmäßig zum Thema Israel. Im November schloss er sein Master-Studium mit einer Arbeit zum Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zur PLO in den 1980er Jahren ab.

Lesen Sie dazu auch Stefan Franks Interview mit Tuvia Tenenbom, hier und hier.

Foto: Stefan Klinkigt

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Leserpost

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Thomas Szabó / 07.01.2024

Die Rezension hat mir Lust gemacht das Buch zu lesen. Greta als „Göttin der Atheisten“? Ich kann die meschuggenen Atheisten des Westens nicht ertragen, weil sie meine meschuggenen Atheisten sind.

Moritz Cremer / 07.01.2024

Atheisten bitte durch: der einfältigen Strunzdummen ersetzen.

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