Die klassisch Liberalen leben wieder inmitten starker, bedrohlicher Brandung und müssen sehen, dass selbst die einstweilen noch gut lebende bürgerliche Mitte vor dem Generalangriff eines intellektuell sehr schlichten, um nicht zu sagen surrealen Egalitarismus, der sich auf sämtliche ihrer Instutionen gestürzt hat, zurückweicht oder verstummt, ja der Angriff kommt sogar in Teilen aus ihrer eigenen (vornehmlich steuerfinanzierten oder doch staatsnahen) Mitte. Dieser Generalangriff („Cancel Culture“) steht in der langen Linie linksliberaler oder (kultur-)marxistischer Agitation gegen Privatheit, Freiheit, Eigentum, Familie, Marktwirtschaft („Kapitalismus“), Wettbewerb und jede Form exklusiver Bindung in konkurrierenden Gemeinschaften. Das Ziel ist: die Aufhebung aller sondernden Gliederungen (in Kulturen, Nationen, Religionen, was die Makroebene betrifft) und auch jeder hierarchischer Abstufung sozialer Wertschätzungen (Kultus von Minderheiten als „Opfer“ menschenfeindlicher sozialer Wertungen).
Die wichtigsten Kampfbegriffe kennt inzwischen jeder: „Dekonstruktion“, Gender, Antidiskriminierung, Inklusion, Anti-Rassismus. Es ist intellektuell beschämend, dass der missverstandene Begriff von Antidiskriminierung, die fälschliche Übertragung vom öffentlichen Bereich, wo er hingehört („alle vor dem Gesetz gleich“) in den privaten, wo man Menschen nach seinen Präferenzen unterscheiden darf und muss, auch die meisten, die sich liberal nennen, verwirrt hat, ähnlich wie der Begriff des „Rassismus“ (kulturell, religiös, biologisch, politisch, ja, ökonomisch wird unterschieden).
Jeder, der sich zu einer Loyalität bekennt, die andere logischerweise ausschließt, aber doch nicht „hasst“ – bis hinunter auf die Vereinsebene – handelt angeblich „rassistisch“. Dabei verfahren diese sogenannten Antirassisten in ihrer skupellosen Intoleranz gegen Andersdenkende ihrerseits rassistisch bis zum Totalitären, wie viele Beispiele der sozialen Stigmatisierung bis hin zum sozialen Tod und selbst zur physischen Verfolgung Andersdenkender täglich zeigen.
Auf ewig scheitert das Programm der „Chancengleichheit“
Wie utopisch dieser Ansatz einer Planierung unserer Gesellschaft, die Verwandlung sozial und politisch verwurzelter Menschen in eine Herde gesichtsloser Individuen ist, zeigte zuletzt die Katastrophe des realexistierenden Sozialismus – eine Erfahrung, die mit dem Wechsel der Generationen offenbar langsam verblasst. Das Ergebnis dieser geplanten Gesellschaft der sogenannten sozialen Gerechtigkeit – das ist faktische Gleichheit – war nur die gleiche Armut und Schäbigkeit für alle, von der unumschränkt gebietenden Herrscherkaste abgesehen (von dem physischen Untergang von Millionen zu schweigen). Was man mit „Cancel Culture“, Inklusion, Dekonstruktion wohl erreichen kann, ist die Zerstörung von ökonomischen und kulturellen Gütern – und insbesondere auch von Lebensfreude und Lebensbehagen.
Unerreichbar aber bleibt das Ziel der „realen Gleichheit“. Ein unbefangener Blick auf den Mitmenschen zeigt, wie umfassend und „ungerecht“ auch die nichtmateriellen Güter verteilt sind, für welchen „Missstand“ allenfalls das Glück, die Natur oder Gott verantwortlich gemacht werden können. Wie unterschiedlich die physische Ausstattung, die Gesundheit und Stärke, das Temperament, die Glücks- und Liebesfähigkeit, die Energie, das Charisma, der Charme – und wie ungerecht verteilt ist auch der Humor, von dem so viel abhängt; und wir haben noch gar nicht von intellektueller Potenz und praktischer Begabung gesprochen. Oder gar der so aristokratische Wert der persönlichen Schönheit, ein „ungerecht“ verteiltes Privileg erster Klasse.
Niemand hat diese Verteilung schuldhaft herbeigeführt. Auch nicht die ungleiche Verteilung der geophysischen Lebensbedingungen: hier der in der Eiswüste ausharrende Eskimo, dort der unter angenehmsten Bedingungen lebende Bewohner einer Mittelmeerinsel und dann wieder die Härte des Wüstenlebens. Wie ungerecht auch Lebensgefühl und Lage der sehr Alten, verglichen mit der aufstrebenden, freudig-vitalen Jugend. Nicht anders die intertemporale Verteilung der Glücksgüter zwischen den Generationen, wenn man an die Schicksale einer Generation denkt, die Kriege, Inflationen und unendliches Elend durchmachen musste im Vergleich zu den glücklichen Kindern des „Wirtschaftswunders“; der Kontrast auch zwischen dem glücklichen Westen und dem vier Jahrzehnte tyrannisierten und zerfallenden Osten Deutschlands.
An diesen Dingen scheitert auch auf ewig das Programm der „Chancengleichheit“ oder auch nur „Startchancengleicheit“, wenn man diese Worte ernst nimmt. So etwas kann es nie und nimmer geben. Selbst bei schimärisch gleichen ökonomischen Lebensbedingungen und vollständiger Familienauflösung bleiben doch die anderen fundamentalen Unterschiede, die dann nur noch an Bedeutung gewinnen. Es gibt nur eine Gleichheit, die mit Freiheit, Kultur und echter Gerechtigkeit (als Regelgerechtigkeit) vereinbar ist: die liberale Gleichheit unter dem Gesetz, in der sich alle diese Unterschiede in friedlichem Wettbewerb und Arbeitsteilung zugunsten des gemeinsamen Wohls auswirken. Kein Mensch hat sich selber gemacht und kein Mensch kann einen „neuen Menschen“ und eine ganz neue Welt ohne Voraussetzung und Tradition, auf einem egalitären Nichts, aufbauen.