Wolfgang Röhl / 26.03.2023 / 10:00 / Foto: W.wolny/biblio.org / 18 / Seite ausdrucken

Von Gräbenbuddlern und Brückenbauern

Cora Stephan hat den dritten Teil ihrer Geschichte deutscher Verhältnisse veröffentlicht. „Über alle Gräben hinweg“ beschreibt die Geschichte einer deutsch-schottischen Freundschaft in der Zeit zwischen den großen Kriegen. Historisch trennscharf recherchiert, politisch reichlich unkorrekt, literarisch ein Schmankerl. Dass so etwas in einem Mainstreamverlag erscheinen kann, gibt ein bisschen Hoffnung.

Der zu seiner Zeit in seinem Milieu angesehene Journalist Wilhelm Bittorf (1929–2002) benutzte mal den Begriff des „Nachwissens“, um eine beliebte Sichttrübung aufzuzeigen. Er schrieb, man dürfe sich bei der Betrachtung von historischen und gesellschaftlichen Entwicklungen nicht zu sehr auf deren mutmaßliche Endpunkte fixieren. Man erläge dann, so verstand ich ihn jedenfalls, allzu leicht der Versuchung, hypothetische Kausalitäten erkennen zu glauben und angenommene Notwendigkeiten zu wittern, die es in der abgelaufenen Echtzeit gar nicht – oder doch so nicht – gegeben hätte.

Das war, zugegeben, keine ganz pralle Frucht vom Baume der Erkenntnis. Der Volksmund gießt sie traditionell in den lapidaren Spruch „Hinterher ist man immer schlauer“. Doch Bittdorf, hauptsächlich bekannt geworden durch seine Spiegel-Stücke, löckte mit dieser Kritik der ex-post-Bescheidwisserei ein bisschen wider den damals wie heute herrschenden Zeitgeiststachel. 

Der Mann gehörte nämlich, wie viele sogenannte Edelfedern aus dem Dunstkreis von SpiegelZeitStern, zu einer prinzipiell sozialdemokratisch grundierten Meinungsführermannschaft, die es für ausgemacht hielt, geschichtlich vollautomatisch auf dem richtigen Dampfer zu schippern. Sie wollte in den deutschen Verhältnissen eine zwingende Kontinuität erkennen, begriff das Kaiserreich als Wegbereiter des Ersten Weltkriegs, wenn nicht gleich des Nationalsozialismus. 

Fiktive Geschichte in reale Historie eingebettet

Wie dünn gewebt derlei Deutungsstoff ist, konnte man vor zehn Jahren lesen. Christopher Clarks Bestseller „Die Schlafwandler: Wie Europa in den Krieg zog“ dröselt die ungeheuer komplexen Macht- und Mentalitätsverhältnisse vor 1914 bewusst ohne den steten Blick nach vorn auf. Sein Buch, quasi die Antithese zu Arbeiten der Historiker John G. Röhl und Fritz Fischer, endet, noch bevor der erste Schuss auf den Schlachtfeldern von Flandern fällt.

Der kluge Dreh, eine fiktive Geschichte in reale Historie einzubetten, ohne den handelnden, oft auch irrenden & wirrenden Figuren ständig nachwisserisch ins Wort zu fallen, zieht sich als Faden durch die 430 Seiten von Cora Stephans neuem Roman „Über alle Gräben hinweg“. Der liest sich naturgemäß weitaus unterhaltsamer als Clarks faktenmäßig etwas überfrachtetes Monumentalwerk. Hangelt sich dennoch, dank dauerndem Schauplatzwechsel, geschickt an den Geschehnissen der Zeit entlang, die sich nach dem Ende des ersten bis zum Finale des zweiten Großkriegs entrollen.

Die zentrale Achse bildet die Freundschaft eines adligen Schotten und eines deutschen Gutsbesitzersohns, die von ihren ebenfalls miteinander befreundeten Vätern, ehedem Studienkollegen, gestiftet wurde. Liam (The Scot) und Alard (Der Schlesier) werden ein „seltenes und seltsames Freundespaar“, wie es auf dem Buchrücken hübsch steht. Sie mögen sich auf Anhieb, wobei seitens des Hunnen wohl auch eine klitzekleine Portion Homoerotik mitschwingt. Der Highlander bleibt offenbar straight; wahrscheinlich, weil er schwul sein mit England assoziiert.

Filmfertig ausgeschmückter Reigen

Was diesen Schotten angeht, so ist er kulturell schwer germanophil, allerdings politisch lange recht naiv. Er hegt, als Angehöriger eines Völkchens, das mit Grund solide Aversionen gegen Engländer hat, instinktive Sympathien für Deutschland. Beide halten ihre Freundschaft über lange Jahre frisch, bleiben auf abenteuerliche Weise sogar während der Kriegszeit in Kontakt.

Der Reigen eines Romans zweier europäischer Familien (filmfertig ausgeschmückt besonders in Passagen, da Alard und Liam für eine Weile gemeinsam in Cambridge studieren), ist gespickt mit, nun ja, Nebenkriegsschauplätzen. Am spanischen Bürgerkrieg etwa nimmt Liam kurzzeitig auf republikanischer Seite teil, um bar aller Illusionen zurückzukehren. Das Gemetzel stellt sich für ihn keineswegs nur als der Kampf des Bösen (Franco) gegen das Gute (die Demokratie) dar, sondern hauptsächlich als Probe- und Stellvertreterkrieg zwischen Stalin, Hitler und Mussolini.

Diese Sichtweise ist in der heutigen Linken zwar immer noch nicht wirklich populär, wird zumindest aber zähneknirschend als nicht ganz falsch akzeptiert. Remember George Orwell! Was die promovierte Historikerin Stephan, eine Zeitlang wie Bittorf für den Spiegel tätig, dagegen über die volksabstimmungswidrige Annexion des wichtigen Industriereviers Oberschlesien durch Polen in ihr Zwischenkriegsepos eingebracht hat, dürfte – Triggerwarnung! – für gewohnheitsmäßige Augenzumacher schwer erträglich sein. Überhaupt erhält die polnische Nadelstichpolitik gegenüber dem besiegten Deutschland – verkörpert durch den Militaristen und Putschisten Pilsudski – eine Schlechtnote von der Autorin. 

Übergriffe auf ein politisch korrektes Geschichtsverständnis

An Übergriffen auf ein politisch korrektes Geschichtsverständnis ist der Roman reich. Dass der Briten-Premier Neville Chamberlain ein ahnungsloser Idiot war, der sich von Anfang an von Hitler einlullen ließ, ist ja eine Sichtweise aus dem Nachwissen. Tatsächlich sahen weite Teile der Briten, traumatisiert vom Krieg, in ihm lange einen Friedensbewahrer. Hundertausende waren bis 1916 durch unfähige Kommandeure im MG-Feuer der Deutschen krepiert. 

Hätte Chamberlains „Peace in our time“-Vision Realität werden können? Oder war ihr Scheitern eine schiere Selbstverständlichkeit? Mit der Geschichte verhält es sich während ihrer Laufzeit ein wenig so wie mit Prognosen. Von denen Mark Twain gescherzt haben soll, sie seien „schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.“

Chamberlains Nachfolger Churchill kommt in Stephans Roman ungünstig weg. Er habe Stalin, eine ebenso große Gefahr für die westlichen Demokratien wie Hitler, sträflich unterschätzt, zudem unglaubliche militärische Fehleinschätzungen wie im Fall Dünkirchen verbrochen. Das nimmt einen, der ihre historischen Aufsätze und Artikel kennt, nicht wunder. Vielleicht eine Historikermarotte, wie das Verbeißen von John G. Röhl in den vom ihm immer als Vollfinsterling gezeichneten Wilhelm II.? 

Churchill kommt schlecht weg

Aber, irgendwie ist Stephans Churchill-Bashing (im Roman etwas plakativ durch die Münder ihrer Figuren) auch ein notwendiges Korrektiv. Aus dem Kriegspremier, eine bei vielen Gelegenheiten skrupellose agierende Gestalt, wurde seltsamerweise gerade in Deutschlands intellektuellen Zirkeln lange eine Lichtgestalt gebastelt. Deren prominenstete Schwäche der übermäßige Konsum von Alkohol gewesen sei. 

Ach, es wird alles Mögliche gebasht, diskutiert, erwogen, zerredet und verworfen von den Protagonisten des Romans. Sogar die Frage aufgebracht, ob der 1941 über Schottland mit dem Fallschirm abgesprungene Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß nicht doch irgendein Friedensangebot im Rucksack hatte, welches vorzutragen ihn der stur auf einen Siegfrieden versessene Churchill gehindert hätte? Verschwörungstheorie, reiner Quark? Mit dem Nachwissen von heute: wahrscheinlich. Aber wie mag ein Brite, zumal ein Schotte, anno 1941 gedacht haben, wenn er vom Heßflug erfuhr? 

Vieles kommt aufs Tapet in diesem Roman, auch anscheinend komplett Irres. Ganz wie es damals gewesen sein muss, in jener real existierenden Welt diesseits und jenseits des Ärmelkanals, voll wabernder Gerüchte, Latrinenparolen und grundloser Annahmen, ohne einen Hauch von den Informationsmöglichkeiten, die heute jeder Schüler hat. Hätte, wenn ihm denn anderes in die Birne flöge als auf TikTok zu gehen.

Ein Prequel der Trilogie

Was mich an dem Buch mit dem sonderbar-versöhnlichen Titel (vermute, der Verlag hat ihn mit Blick auf das seit Merkels Grenzöffnung vergiftete deutsche Debattenklima gewählt) angenehm berührt, ist die in meinen Augen geglückte Fusion zwischen einem dezidiert politischen Stoff und einer glaubhaften Chronik von Familien und Schicksalen. Das war schon so in Cora Stephans vorher erschienenen Büchern „Ab heute heiße ich Margo“ und „Margos Töchter“. In der Trilogie stellt „Über alle Gräben hinweg“ chronologisch übrigens den Vorläufer dar, ein Prequel mit teilweise demselben Personal. 

Es ist eine Kunst, so was zu bauen. Historische Panoramen zu malen, die nicht bloß Fototapeten sind für Plotten aus privaten Räumen. Echte, das heißt widersprüchliche Charaktere zu kreieren, die nicht nur einfach Thesen aufsagen, welche aus dem Bausatz nachwissender Generationen stammen. Historisierende Fernsehserien wie Bonn oder die „Ku´damm“-Reihe scheitern an dieser Aufgabe regelmäßig, auf die eine oder andere Art. 

Schön, dass es Bücher gibt. Wie dieses.

Cora Stephan: „Über alle Gräben hinweg“, 432 Seiten, ‎ Kiepenheuer&Witsch, 24,00 €

Wolfgang Röhl, geboren 1947 in Stade, studierte Literatur, Romanistik und Anglistik. Ab 1968 Journalist für unterschiedliche Publikationen, unter anderem 30 Jahre Redakteur und Reporter beim „Stern”. Intensive Reisetätigkeit mit Schwerpunkt Südostasien und Lateinamerika. Autor mehrerer Krimis.

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Leserpost

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Rolf Wächter / 26.03.2023

Historisches Wissen und dessen Aufarbeitung ist interessant, aber auch unwichtiger als die Gegenwart. Wir leben heute, wollen heute Wohlstand, auch für unsere Nachfahren. Egal ob es früher Kriege gab und welche es gab, wir können es nicht mehr ändern. Und eine Lehre aus der Vergangenheit zieht die Menschheit sowieso nicht. Es wird immer wieder Kriege geben. Also aktzeptieren wir das und versuchen uns herauszuhalten.

Stefan Riedel / 26.03.2023

Der böse Albion? Und überhaupt, anglo-amerikanische Bösewichte?

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