Von Titus Gebel.
Eine der Grundlehren der Geschichte lautet, dass sich Menschen in irgendeiner Form wehrhaft organisieren müssen, sonst können Sie die Aggression fremder Gruppen nicht abwenden. Insofern ist ein Zusammenschluss unvermeidlich. Tun Menschen das nicht, werden sie einfach erobert und beherrscht. Das wäre auch das Schicksal von selbstbestimmten, aber wehrlosen Anarchisten, spätestens nachdem diese einen gewissen Wohlstand angehäuft hätten.
Im Grunde ist das die Situation, von der Thomas Hobbes ausgegangen ist, als er seinen Leviathan schrieb. Einen tatsächlichen Kampf „aller gegen alle“ als Naturzustand hat es zwar nie gegeben und wird es nie geben. Der Mensch war schon immer ein Herdentier und als solches neigt er zur Rudelbildung. Darauf läuft es unter entsprechenden Umständen auch heute noch hinaus: Selbst in den gesetzlosen Bereichen brasilianischer Favelas oder Berliner Stadtparks entwickeln sich Rangordnungen und Kooperationen.
Aber der richtige Kern von Hobbes’ Ansatz liegt darin, dass der unorganisierte Einzelmensch oder die schwache Gruppe ständig Gefahr laufen, von umherziehenden größeren oder stärkeren Haufen ausgeplündert zu werden. Demzufolge haben die Bürger dem Staat umfassende Machtbefugnisse eingeräumt, damit sie in Sicherheit leben können.
Ergänzt wurde diese Auffassung später durch die von John Locke und vor allem Jean-Jacques Rousseau geprägte Sichtweise eines Gesellschaftsvertrages, wonach es sich um eine freiwillige Übereinkunft der Beteiligten handele, vergleichbar einem zivilrechtlichen Vertrag. Dieser soll zwischen Bürgern und Staat bestehen. Oder wenigstens sollen die Bürger untereinander einen solchen abgeschlossen haben, in dem sie einen Teil ihrer Souveränität an den Staat abtreten und die Konsequenzen hinnehmen.
Unbedingte Pflicht hier, vage Ansprüche da
Diese Auffassung ist nach wie vor die ganz herrschende Meinung, in der Regel wird die Verfassung eines Staates und die daraus resultierende Ordnung mit dem Rousseau’schen Gesellschaftsvertrag gleichgesetzt. Der Haken daran ist, dass auch das Zustandekommen eines Vertrages nach den über Jahrhunderte entwickelten Gegenseitigkeitsregeln der Zivilrechtsordnungen erfolgen muss. Ist dies nicht der Fall, dann handelt es sich um etwas anderes, für das bereits der Begriff des Vertrages nicht angemessen wäre.
Nach den meisten Zivilrechtsordnungen wäre schon fraglich, ob dieser angebliche Gesellschaftsvertrag mangels Bestimmtheit seiner Leistungen und Gegenleistungen überhaupt als Vertrag angesehen werden kann, denn der Bürger muss zwar Steuern zahlen, aber wofür, ist völlig dem Ermessen des Staates überlassen. Es besteht weder ein konkreter Gegenleistungsanspruch des Bürgers auf bestimmte staatliche Leistungen noch eine Einklagbarkeit der Mittelverwendung.
Aber etwa nach deutschem Zivilrecht gilt eine Vereinbarung, bei der nicht Einigkeit über alle wichtigen Punkte besteht, im Zweifel wegen Einigungsmangel als nicht geschlossen. So erwarten viele Bürger etwa, dass der Staat ein bestimmtes Sicherheitsniveau, eine bestimmte Infrastruktur und eine soziale Absicherung bietet. Wenn sie wüssten, dass verfassungsrechtlich darauf kein oder nur ein sehr unkonkreter Anspruch besteht, wohl aber eine unbedingte Pflicht, Steuern zu zahlen, würden sie ihre Zustimmung zum jeweiligen System womöglich überdenken.
Und in praktisch allen Rechtsordnungen weltweit setzt ein Vertrag zumindest übereinstimmende Willenserklärungen voraus. Sind die Bürger wirklich damit einverstanden, dass die Regierung bei entsprechender Parlamentsmehrheit sämtliche Regeln einschließlich der Verfassung abändern kann und etwa den Steuersatz exorbitant erhöht? Und selbst dann, wenn eine Verfassung dieses Recht ausdrücklich festschreibt und diese Verfassung mehrheitlich angenommen wurde? Was ist mit denen, die dagegen gestimmt haben? Mit welchem Recht werden sie der Verfassung unterworfen?
Der verschwiegene Aspekt des Rousseau’schen Gesellschaftsvertrages
Sie als Bürger könnten mit der Verwendung Ihrer Steuern in vielen Bereichen nicht einverstanden sein (Gender- und Islamlehrstühle, Subventionen für erneuerbare Energien, Hamas-Unterstützung...), und Sie sind möglicherweise auch nicht einverstanden, dass es eine Gruppe von Leuten gibt, die über die Mittelverwendung ohne Ihre Zustimmung befindet. Rousseau selbst hatte dieses Problem erkannt. Er forderte daher, dass für die erstmalige Geltung eines Gesellschaftsvertrages einschließlich dessen Änderungsmechanismen 100 Prozent aller Bürger zustimmen müssten, denn alle seien betroffen:
„Woraus entstünde ohne eine vorausgehende Übereinkunft die Verpflichtung für eine Minderheit, sich der Wahl der Mehrheit zu unterwerfen und woher haben hundert, die einen Herrn wollen, das Recht, für zehn zu stimmen, die keinen wollen? Das Gesetz der Stimmenmehrheit beruht selbst auf Übereinkunft und setzt zumindest einmal Einstimmigkeit voraus.“
Das ist nur konsequent, wurde aber bisher noch nie umgesetzt und daher wird dieser Aspekt des Rousseau’schen Gesellschaftsvertrages in der Regel verschwiegen.
Und genau daran kranken alle herkömmlichen Verfassungen. Sie sind in Wahrheit Verträge zu Lasten Dritter, nämlich zu Lasten derer, die nicht zugestimmt haben. Eine Rechtsfigur, die im Zivilrecht mit guten Gründen unzulässig ist, weil keine übereinstimmende Willenserklärung des Belasteten vorliegt. Nach dem Zivilrecht praktisch aller Staaten ist es daher nicht möglich, dass Vertragsparteien Dritte ohne deren Zustimmung zu einer Leistung verpflichten: A und B können keinen wirksamen Vertrag schließen, wonach der unbeteiligte C an die beiden je tausend Euro zu bezahlen hat. Angela Merkel und Olaf Scholz können das aber.
Da diese Einwände nicht schlüssig ausgeräumt werden können, wird behauptet, durch physischen Verbleib in einem bestimmten Staat würde die konkludente Zustimmung zur jeweils geltenden Gesellschaftsordnung erfolgen. Das aber ist in etwa so, als ob man behaupten würde, ein Sklave des 19. Jahrhunderts, der nicht täglich zu fliehen versucht hätte, hätte konkludent seinem Sklavendasein zugestimmt. In Wahrheit fand eine Abwägung statt. Der Sklave wird sich überlegt haben, wohin er überhaupt fliehen solle und ob die Gefahr einer versuchten Flucht nicht zu groß sei. Er hätte zudem seine angestammte Umgebung aufgeben und möglicherweise sogar Teile der Familie zurücklassen müssen. Daher kann seine Entscheidung gelautet haben, beim Sklavenhalter zu verbleiben. Dieses stellte für ihn lediglich das kleinere Übel da, eine wirkliche Zustimmung war damit nicht verbunden.
Der Begriff der Zustimmung wird vollständig entwertet
Eine ähnliche, aber ebenso fragwürdige Argumentation lautet: Im Wege einer Wahl erhält eine Partei die Mehrheit und stellt nun die Regierung. Wenn Sie nun dagegen oder dafür gestimmt haben, lautet das Argument, dass Sie sich bereits mit Teilnahme bereit erklärt hätten, das Ergebnis zu akzeptieren, gleich wie es ausgeht. Falls Sie aber an der Wahl gar nicht teilgenommen haben, wird Ihnen vorgehalten, Sie hätten von ihrer Möglichkeit der Beeinflussung des Ergebnisses bewusst keinen Gebrauch gemacht und diesem damit ebenso zugestimmt. Mit anderen Worten: Egal, ob Sie dafür, dagegen oder gar nicht abstimmen, Ihre Zustimmung wird in jedem Fall fingiert. Damit wird der Begriff der Zustimmung aber vollständig entwertet.
Das Ganze wird noch dadurch verschärft, dass der vermeintliche „Gesellschaftsvertrag“ ausschließlich von einer Seite, nämlich vonseiten des Staates, ständig geändert wird, ohne dass der Einzelne etwas dagegen unternehmen könnte. So findet sich auch derjenige, der ursprünglich dem Ganzen zugestimmt hatte, auf einmal in einem ganz anderen, von ihm unerwünschten System wieder.
Wenn zwei Parteien im Zivilleben einen Dienstleistungsvertrag schließen, dann haben sie sich vorher über Umfang und Kosten der Dienstleistung geeinigt. Wird die Dienstleistung schlecht oder gar nicht erbracht, hat der Kunde das Recht, die Zahlung zu verweigern oder weniger zu bezahlen. Keine Partei kann während der Vertragslaufzeit einseitig den vereinbarten Preis ändern.
Staatsbürger müssen hingegen sämtliche Steuern bezahlen, ohne einen klaren Gegenanspruch zu haben. Sind sie unzufrieden, weil die staatlichen Leistungen etwa im Bereich Sicherheit, Bildung, Straßenbau, Gesundheits- und Altersvorsorge immer schlechter werden, haben sie keinerlei Recht, Steuern zu kürzen oder zurückzuhalten. Der Staat kann hingegen die Steuern in beliebigem Umfang erhöhen. Und genau dieses ständige Abweichen vom Gegenseitigkeitsprinzip ist einer der Hauptgründe für die Krise auch demokratischer Staaten.
Titus Gebel ist Unternehmer und promovierter Jurist. Er gründete unter anderem die Deutsche Rohstoff AG. Zusammen mit Partnern arbeitet er derzeit daran, die erste Freie Privatstadt der Welt zu verwirklichen. Der Beitrag beruht auf seinem Buch Freie Privatstädte – Mehr Wettbewerb im wichtigsten Markt der Welt, in dem er auch gesellschaftliche Grundsatzfragen untersucht.