Walter Ulbricht, der SED-Chef in den ersten Jahrzehnten der DDR, hat neben seinem berühmten Satz, wonach in seinem Staat niemand die Absicht hätte, eine Mauer zu errichten, noch ein beinahe ebenso häufig zitiertes Motto hinterlassen: „Überholen ohne einzuholen“. Der Genosse Ulbricht wollte so den kommenden Sieg der sozialistischen DDR im Wettbewerb mit dem kapitalistischen Westdeutschland beschreiben. Diesen Versuch kreativer Dialektik nutzten Zeitgenossen gern zum Spott, denn in Diktaturen lacht man ja bekanntlich vor allem dann gern über die Machthaber, wenn man unter ihnen nichts zu lachen hat.
Heutzutage passt dieses Motto aber auch zu dem Verhältnis von Satire und Wirklichkeit. Sobald ein Autor versucht, sich eines Themas satirisch anzunehmen, zieht die Wirklichkeit nicht nur nach, sondern sofort an der Satire vorbei.
Sie erinnern sich vielleicht noch, es ist ja kaum länger als zwei Wochen her, dass der Gebrauch des Wortes „N…schwanz“ die Republik erregte. Als Robert von Loewenstern hier auf achgut.com die übertriebene Hysterie rund um das „N-Wort“ karikieren wollte, schrieb er, auf die Kraft zuspitzender Überhöhung setzend:
„Was zum Beispiel geschieht mit den Einwohnern von 57462 Neger an der Neger, unterteilt in Oberneger, Mittelneger und Unterneger? Wie sollen diese bedauernswerten Menschen künftig eine behördliche Anfrage nach ihrem Wohnsitz beantworten? Etwa mit „Darf ich nicht sagen“ oder mit „Ich lebe in N-Wort am N-Wort“? Oder müssen die Sauerländer einfach umziehen? Zum Beispiel nach 24392 Mohrkirch oder 95199 Schwarzenhammer?"
Diese Zeilen erschienen am 20. Mai. Acht Tage später konnte man bei bild.de die Schlagzeile lesen: „Grünen-Nachwuchs will Dorf umbenennen – es geht um das ’N’-Wort“. Das aber war keine Satire, sondern es ging darum, dass die Grüne Jugend aus Bad Segeberg ernsthaft forderte, den Namen des nahegelegenen, knapp 1000-Seelen-Dorfes Negernbötel zu ändern: „Der Ortsname N***rnbötel enthält das sehr verletzende und rassistische N-Wort“, habe die Grüne Jugend Segeberg bei Instagram geschrieben und gefordert: „N***rnbötel umbenennen!“
BILD erklärt in dem Artikel den Ursprung des plötzlich umstrittenen Ortsnamens:
„Erstmals erwähnt wurde das Dorf 1306, als eine weitere Siedlung (Plattdeutsch: ‚Botele‘) am Kloster Segeberg entstand. Die eine lag näher (Platt: ‚negern‘) am Kloster, die andere weiter weg (Platt: ‚fehren‘). So entstanden die Dörfer Negernbötel und Fehrenbötel.“
Das wissen auch die Bad Segeberger Grünen, doch sie glauben, weil Plattdeutsch „keine sehr weit verbreitete Sprache mehr“ sei, assoziiere heutzutage jeder den Ortsnamen „mit dem rassistischen, Jahrhunderte zur Unterdrückung von schwarzen Menschen genutzten N-Wort“. Die Sprachreiniger schlagen, so liest man, alternativ den Namen „Näherbötel“ vor.
Nun kommen von außen vorgeschlagene Umbenennungen von Orten oder auch Straßen bei den betroffenen Anwohnern selten gut an. Es ist auch nicht zu erwarten, dass Negernbötel in allernächster Zukunft umbenannt wird. Insofern wurde in Negernbötel Loewensterns Satire vielleicht noch nicht von der Wirklichkeit, sondern von der Realsatire überholt. Letztlich ist es ja nur eine amüsante Provinzposse.
Allerdings zeigte sich in den vergangenen Jahren immer wieder, dass solche Art der Realsatire erst immer häufiger auftritt, um nach einer Weile immer realer und immer weniger satirisch zu werden. Doch auch wenn es ernst wird, über eine Realsatire zu lachen, ist in jedem Falle unvermeidlich.