Die Pinta-Studie (nicht zu verwechseln mit der Pisa-Studie) hat Deutschland beunruhigt. Sie befasst sich mit der „Prävalenz der Internetabhängigkeit“ und kommt zu dem beunruhigenden Ergebnis, dass mindestens 500000 Deutsche internetabhängig sind. Die halbe Million gilt als süchtig, weil sie verdammt viel Zeit online verbringt. Weitere zweieinhalb Millionen gelten lediglich als gefährdet. Sie hängen zwar nicht verdammt viel, aber doch ziemlich viel Zeit am Internet. Diese alarmierende Studie der Drogenbeauftragten zeigt allerdings nur einen Teilaspekt des deutschen Suchtverhaltens. Sie lässt das Problem der viel weiter verbreiteten Lesesucht völlig unberücksichtigt.
Mangels einschlägiger Studien ist man hier auf Schätzungen angewiesen. Es gilt aber als wahrscheinlich, dass mehrere Millionen Deutsche unter schwerster Lesesucht leiden. Einige lesen im Gehen und Stehen; andere lesen beim Frühstück oder im Café oder in der Straßenbahn; ein hoher Prozentsatz der Lesesüchtigen liest im Büro und im Bett. Schließlich müsse man noch von einer sehr hohen Dunkelziffer von Menschen ausgehen, die auf dem Klo lesen.
Viele Süchtige sind so abhängig, dass sie in der Wahl ihres Lesestoffs nicht mehr wählerisch sind. Sie lesen Zeitung, Zeitschriften und Bücher jeder Art, ganz gleich ob Sachbücher oder Romane. Sie lesen alles, was ihnen einen Kick verspricht. Vereinzelte Süchtige greifen aus Angst vor einem cold turkey sogar zu Gedichtbänden.
Oppositionskreise weisen darauf hin, dass die Lesesucht anders als die Internetsucht ein uraltes Phänomen sei. Wie bedenklich diese Sucht sei, habe sich schon kurz nach der Erfindung des Gutenbergschen Buchdrucks herausgestellt: Kaum hätten die Leute außerhalb der Klöster angefangen zu lesen, schon sei es zu einer folgenschweren Kirchenspaltung gekommen. Und damit nicht genug: Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ habe seinerzeit tausende junger Menschen zu Tränen der Hysterie gerührt und in Selbstmordgedanken getrieben.
Schon im vorviktorianischen England hätten kluge Kirchenmänner immer wieder warnend darauf hingewiesen, dass das Romanlesen vor allem auf die weibliche Bevölkerung eine verheerende Wirkung haben könne. Tatsächlich seien einige englische Frauen jener Zeit von ihrer Sucht nach Lesbarem so weit getrieben worden, dass sie sich den Stoff selbst herstellten und heimlich und unter falschem Namen, also illegal, eigenhändig Romane schrieben.
Unkontrolliertes Lesen führe nicht nur zu Aufruhr, Massenhysterie und Schreibwut. Es gefährde auch die normale Kommunikation unter den Menschen. So unterhielten sich Millionen Menschen immer seltener über das Frühstücksei oder das Wetter, sondern tauchten unter Verzicht auf echte zwischenmenschliche Kontakte in erfundene Geschichten von Liebe und Mord ein. Oder sie befassten sich völlig losgelöst vom Rest der Menschheit mit Fragen der Holzverarbeitung oder des Steuerrechts.
Die Lesesucht habe sich im Laufe der Zeit zu einer weltweiten Pandemie entwickelt. Und die Politik habe das Problem Jahrhunderte lang sträflich vernachlässigt und keinerlei Maßnahmen gegen die Lesesucht unternommen.
Am schlimmsten, ja geradezu aussichtslos seinen jene Fälle, in denen sich die Lesesucht mit der Internetsucht verbindet. Es komme immer öfter vor, dass junge Menschen das klassische Suchtmittel Buch verschmähten und ihre Lesesucht im Internet befriedigten. Hier zeige sich die typische Sucht-Eskalation, nämlich das Bedürfnis, zu immer stärkeren Drogen zu greifen.
Diese Tendenz habe sich schon vor der Erfindung des Internets abgezeichnet. Man erinnere sich, dass viele zunächst nur lesesüchtige Menschen später ganz und gar der Droge Fernsehen verfielen. Inzwischen sei das Fernsehen allerdings zu einem Suchtmittel der älteren Generation geworden. Bei der jüngeren Generation habe die Gefahr krankhaften Fernsehkonsums deutlich nachgelassen und sei von der aktuelleren Partydroge Internet weitgehend abgelöst worden.
Die Opposition ist davon überzeugt, dass der Kampf gegen die Internet- und Fernsehsucht so lange aussichtslos sei, wie die Einstiegsdroge Lesen unkontrolliert auf dem Markt bleibt. Man müsse das Übel an der Wurzel packen und die Lesesucht direkt angehen. So sollte man endlich Bücher mit dem Hinweis versehen: Vorsicht! Lesen kann süchtig machen. Noch besser wäre es, Bücher zu konstruieren, die nach überlangem Lesen, also etwa nach einer halben Stunde, automatisch zuklappen und erst wieder nach einem längeren Gespräch mit dem Freund, Partner oder Nachbarn geöffnet werden können. Wenn die Industrie sich weiterhin weigere, die notwendigen Schritte in diese Richtung zu unternehmen, müsse sie eben gesetzlich dazu verpflichtet werden.
Es sei fatal, dass die Regierung, so energisch sie gegen die Internetsucht anzugehen gedenkt, in der Frage der Lesesucht praktisch nichts unternehme, sondern ganz auf das freie Spiel der Kräfte setze. Es stimme zwar, dass immer mehr Menschen die Schule verlassen, ohne lesen und schreiben zu können. Dies sei aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Zahl der Menschen, die lesen können und dieser Sucht auch aktiv frönen, sei immer noch erschreckend hoch. Es könne noch Jahrzehnte dauern, bis sich das Problem Lesen durch allgemeine Verblödung von selbst erledigt habe.