Eine Nachricht schreckte mich vor wenigen Tagen aus der gemütlichen Novemberlethargie auf. „Steinmännchen werden zur Plage.“ Steinmännchen? Wer um alles in der Welt sind die Steinmännchen? Wo kommen sie her, was macht sie zur Plage? Sind sie asylberechtigt? Haben wir denn noch nicht genug Männchen aufgenommen? Und handelt es sich nicht um einen Druckfehler? Muss es nicht „Steinmeier wird“ heißen?
Ich machte mich schlau, und bald wusste ich: Steinmännchen sind mindestens so schrecklich wie Klimaleugner, CO2 Produzenten und Gammelfleischverwurster. Denn Steinmännchen zerstören Ökosysteme und führen in die Irre. Sie sind folglich ähnlich verwerflich wie Windparks. (Huch, habe ich das wirklich gerade geschrieben? Streichen Sie den letzten Satz aus ihrem Gedächtnis).
Langsam dämmerte es in meinem Langzeitgedächtnis. Meine erste Begegnung mit Steinmännchen fand etwa Mitte der 1970er Jahre in Schweden statt, einer Region, in der es vor seltsamen Wesen nur so wimmelt. Bei einer Wanderung mit Freunden war ich auf eine Hochebene geraten, die ausschließlich aus Schottergestein bestand, also in jede Richtung gleich aussah, was eine Orientierung sehr erschwerte. Vermutlich würde ich noch heute dort umherirren, wenn nicht in größeren Abständen Steinhaufen gestanden hätten, die eine Art Wegweiser darstellten. Dank dieses sehr effizienten Systems, das ausschließlich auf lokal verfügbaren Produkten basiert, gelangten wir kurz vor Mitternacht, also kurz vor Einbruch der Dunkelheit, am angestrebten Ziel an, Steinhaufen sei Dank.
Heute weiß ich, dass es sich bei den steinernen Wegmarkierungen im hohen Norden um Steinmännchen handelte, wenn auch von der gemeinen Sorte, für die einfach nur ein paar Dutzend dicke Kiesel pyramidenförmig zusammengehäufelt werden, so dass sie sich über der ringsum ruhenden Ebene erheben und für Orientierung sorgen. Ganz anders die heutigen Steinmännchen – da liegt nämlich ein Stein auf dem anderen, fein säuberlich ausbalanciert und scheinbar der Schwerkraft strotzend. Derartige Gebilde zeigte mir vor zehn Jahren eine Freundin am Ufer des Bodensees. Ich fand sie hübsch, manche verblüffend, und ich beneidete Menschen, die für so etwas Zeit haben.
Ommm – Ommm – ja, es ist ein zutiefst spiritueller Akt
Damals hätte ich mir nicht vorstellen können, dass sich diese menschgemachten Türmchen einmal als Plage erweisen würden. Doch dem ist nun so, und dankenswerterweise machen wieder einmal unermüdliche Naturschützer darauf aufmerksam. Sogar an kaum von der Zivilisation berührten Orten treiben Steinmännchen inzwischen ihr Unwesen; daher würde es mich nicht wundern, selbst in Berlin derartigen Unholden zu begegnen. Einen Steinmeier gibt es dort ja schließlich auch.
Ob in Australien, an karibischen Stränden oder auf den Kanarischen Inseln – Steinmännchen erobern derzeit die Welt. Und das nicht ohne Folgen. Unter jedem Stein wohnt etwas, ob es Carlos, die Krabbe auf Teneriffa oder Fidel, der Fadenwurm in Varadero ist – sie alle werden ihrer Behausung beraubt, sobald sich ein Zen-Jünger daran gibt, in vergeistigter Kontemplation ein Steinmännchen zu zeugen. Ommm – Ommm – ja, es ist ein zutiefst spiritueller Akt, nicht nur ein Dutzend Steine flach aufeinander zu legen, sondern zusätzlich eine hochkantige Komplikation dazwischen zu positionieren. Ähnlich einer Katze, die im heimischen Garten einen Haufen hinterlässt, um umherstreifenden Artgenossen zu sagen „Ich war vor dir hier!“, lässt der spirituelle Ökotourist heute seinen Steinhaufen zurück und sendet dessen Anblick per Smartphone umgehend in alle Welt. Kombiniert mit dem nackten gluteus maximus oder den mammae einer „Influencerin“ sorgt so ein Bild gleich wieder für ein paar tausend „Follower“ mehr. Und sollte die Darstellerin zwar eine rechte und eine linke Backe besitzen, dafür aber nur zwei linke Hände, kann sie sich, so las ich staunend, bei Kursen in der Kunst der Steinmännchenplage ausbilden lassen.
Und nun dies – das inflationäre Auftauchen von Steinmännchen hat offenbar seinen Scheitelpunkt überschritten und kann inzwischen zu Reaktionen führen, die als „Shitstorm“ bekannt sind (womit wir wieder bei den Katzen wären, die mit Hilfe natürlicher, biologisch abbaubarer Stoffe ihren Claim abstecken). Shit geht immer. Und das ist ein harter Schlag für die Sichselbstsucher an den Stränden und in den Wüsten dieser Welt. Gestern noch friedlich einen Steinmann von der Größe eines Goaischen Gnoms gezeugt und davon bei Twittagram mit einem herzhaften „Namasté!“ Bilder gepostet, und heute ist man ein Umweltfrevler! Weil man der Spinne Thekla das Dach über dem Kopf weggesteinmannt hat.
„Viele kamen allmählich zu der Überzeugung, einen großen Fehler gemacht zu haben, als sie von den Bäumen heruntergekommen waren. Und einige sagten, schon die Bäume seien ein Holzweg gewesen, die Ozeane hätte man niemals verlassen dürfen“ heißt es bei Douglas Adams in „Per Anhalter durch die Galaxis“. Man kann den weisen Worten des Autors nur beipflichten, jetzt, wo selbst das Aufeinanderstapeln von Steinen als Umweltfrevel enttarnt wurde. Auf Teneriffa, so kann man erfahren, mussten in diesem Sommer 150 Umweltaktivisten am Strand die dort massenhaft belästigenden hombres hecho de piedra dekonstruieren, und man kann nur hoffen, dass dabei nicht so mancher Strudelwurm zum Plattwurm getreten wurde. Denn auch Aktivisten hinterlassen Fußabdrücke.
Und noch etwas wäre zu hoffen: Dass die ungezählten, von Windrädern zerdrückten und zerhackten Wälder, Insekten und Vögel ebenfalls eine Lobby hätten, die sich um ihren Erhalt kümmert. Das aber ist eine ganz andere Geschichte.