Dirk Maxeiner / 25.05.2021 / 06:15 / Foto: Imago / 157 / Seite ausdrucken

Sigwarts Fingerzeig

Es handelt sich um ein Lieblingsbild von mir, zugegeben, ich bemühe es aber trotzdem noch einmal: Der Vorgang, von dem hier die Rede sein wird, erinnert ein wenig an die Erfahrung jenes Jesus-Schnitzers aus Oberammergau, der auf Geheiß seines Kunden immer mehr Schmerz ins Gesicht seines Heilands schnitzen muss. Bis er zuviel nachgebessert hat. Und plötzlich einen Fluch ausstößt: „Verdammt, jetzt grinst er.“

In der Wissenschaft nennt man so etwas Kippeffekt. Oder auf Neudeutsch „Tipping Point“. Das ist der Moment, in der die Qualität einer Sache plötzlich umschlägt. Ganz einfach erklärt: Man schiebt ein Lineal über die Tischkante und es bleibt brav liegen. Aber an einem bestimmten Punkt kippt es und fällt nach unten. Beim Lineal weiß man recht genau, wann das passiert, bei anderen Dingen lässt es sich nur schwer vorhersagen. 

So geht beispielsweise das Gerücht, dass es beim Klima Tipping Points gibt, welche dramatische Klimaveränderungen in sehr kurzer Zeit bewirken. Ganz sicher gibts einen Tipping Point bei der Laune des Menschen. Das lässt sich durchaus auch auf die politische Stimmung übertragen. In der DDR schien die bis zum Herbst 1989 viele Jahrzehnte sehr stabil zu sein. Und dann kippte die Lage innerhalb kürzester Zeit. Als die Ungarn den Grenzzaun zu Österreich öffneten und später Schabowski die Ausreiseerlaubnis verkündete, war das ein Tipping-Point. Wenn es kippt, dann plötzlich, und niemand weiß so recht, wie es ausgeht. Also etwa, mit welcher Seite nach oben das Lineal auf dem Boden liegen bleibt. 

Einen durchaus lustigen Kippeffekt konnte das Fernsehpublikum in der Nacht von Pfingst-Samstag auf Pfingst-Sonntag beobachten. Aus Rotterdam wurde der europäische Schlagerwettbewerb „European Song Contest übertragen“. Jendrik, der blonde Deutsche mit dem schönen Nachnamen „Sigwart“, präsentierte seinen Song „I don't feel hate“. Der habe eine besondere Botschaft. „Dass man Hass nicht mit Hass bekämpfen soll“, erzählt Sigwart. „Wenn jemand scheiße zu dir ist, sei nicht scheiße zurück.“ Bei oberflächlichem Hass wie „Deine Frisur ist hässlich“ solle man diese Aussagen einfach belächeln und drüberstehen, bei Diskriminierung solle man der Person auf einem respektvollen Weg klarmachen, „dass das, was sie sagt, verletzt.“ 

Großer Mut und große Tapferkeit

Sigwart sieht zwar noch aus wie Siegfried der Drachentöter, aber in der Nibelungensage 2021 geht es woke zu. Wesentliche Elemente der Siegfried-Gestalt sind nach wie vor ihre übermenschlichen Kräfte, großer Mut und große Tapferkeit, damals wie heute. Allerdings stellt sich Sigwart keiner bösen Echse, sondern dem Publikum, das seinen Vortrag in der Abstimmung mit dem vorletzten Platz bedachte. Ich halte das – ganz ehrlich – für total ungerecht. Denn Sigwart entpuppte sich als waschechter Nibelungenheld, möglicherweise nicht ganz freiwillig, aber immerhin.

Eine junge Frau war von der Choreographie beauftragt, als wandelndes Peace-Zeichen um ihn herum zu tanzen. Das Kostüm bestand aus einer überdimensonalen Hand deren Mittel- und Zeigefinger ein versöhnliches „Victory“ formten, um die Welt auf diesem Wege zu befrieden. Allerdings erwies sich der Zeigefinger als instabil (siehe oben Kippeffekt), woraufhin nur noch der Mittelfinger demonstrativ gereckt in die Höhe stand. Während Sigwart tanzte, sang und ukulelte „I don’t feel hate“, schunkelte dazu unübersehbar ein überdimensionaler Mittelfinger. „Die Schwerkraft ließ einen der beiden am Kostüm befestigten Finger des Peace-Zeichens abknicken“ analysiert die Welt die physikalische Seite des Malheurs. „Deutschland zeigt der Welt vier Minuten lang den Stinkefinger“, kommentierten internationale Presseorgane die teutonische Komik des Moments. 

Es erhebt sich nun natürlich die Frage ob es sich um eine Panne oder eine subversive Aktion gehandelt haben mag, ob gar Ironie im Sigwart stecken könnte. Schließlich kann ein Land, zu dessen Staatsräson die Sicherheit Israels gehört, das aber so ziemlich jede antiisraelische UN-Resolution unterschreibt, sich international nicht treffender darstellen als mit diesem grandiosen Auftritt. Europäisch gesehen, könnte der Mittelfinger auch von Ursula von der Leyen stammen, die dem bösen Albion jenseits des Kanals den Frieden erklärte und gleichzeitig die Impfstoffe versagen wollte: „Dies ist die Geschichte von alten Freunden und neuen Anfängen.“ Mit der innenpolitischen Brille betrachtet, könnte man hingegen auf die Idee kommen, ein Querdenker habe im European Song Contest den subversiven Finger drin gehabt. Der Brüggemann oder der Liefers etwa, um die unendliche Fürsorge unserer Führungskräfte mit einem Fingerzeig zu würdigen.

Jetzt warten alle gespannt darauf, wann der deutsche Zeigefinger als solcher der Schwerkraft folgt und kippt. Kann aber noch dauern. Komischerweise nahm sich, soweit ich es beobachtet habe, kein Kommentator der aktuellen politischen Bezüge von Sigwarts Gesangsvortrag an, obwohl die doch nun wirklich auf der Hand liegen. Dies scheint mir inzwischen ein Grundmuster der Berichterstattung deutscher Altmedien zu sein. Der Ball liegt auf dem Elfmeterpunkt, und keiner will schießen. I don't feel hate, I just feel sorry. 

Foto: Imago

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Tobias Meier / 25.05.2021

Ich fand den diesjährigen ESC nach langer Zeit mal wieder eine gelungene Vorstellung. Warum? Die vglw wenigen “diversen” Auftritte (eine russische Lesbe, ein Norweger mit Tourette, ein niederländischer Flüchtling) wurden insbesondere von den Zuschauern mit hinteren Rängen bestraft. Die Experten wählten den französischen Chanson-Beitrag und die Zuschauer die beiden rockigen Beiträge aus Finnland und Italien und machten letzteren zum verdienten Sieger. Also, ganz im Sinne des italienischen Siegers: “Rock’n'Roll never dies!”

Dr. Francois Bellefontaine / 25.05.2021

Unglaublich! Haben Sie sich den Beitrag überhaupt angesehen? Im Zeigefinger steckte eindeutig der Arm der Tänzerin, da ist nichts versehentlich umgeknickt. Wo kämen wir denn auch hin, wenn man den Anderen nicht den Stinkefinger zeigen dürfte? Das nächste Mal sollten wir es gefälligst mit deutscher Marschmusik probieren oder diesen netten Österreicher in Lederhosen fragen.

b. stein / 25.05.2021

Kann auch einfach möglich ein, dass der Mittelfinger ein Statement an die ÖR Gebührenzahler war, die den ESC, natürlich auch den “Künstler”, Komponisten, Texter, die Jury die den Song auswählt u. a. finanzieren.

Bechlenberg Archi W. / 25.05.2021

Spotten wir nicht! Es heißt, der Combo sei bereits eine Tournee durch mehrere islamische Länder angeboten worden. Da Teheran die erste Station sein soll, wartet man in den anderen Städten allerdings noch mit dem Kartenvorverkauf.

Andreas Rühl / 25.05.2021

Jetzt habe ich allen Mut zusammen genommen und mir die “Darbietung” auf YT angeschaut. Herr Maxeiner, ich mache Sie persönlich für die Folgen verantwortlich! Keine Ahnung, ob das mit dem “V” Zeichen und dem Stinkefinger geplant war oder nicht, die ganze Nummer ist - musikalisch, textlich und tänzerisch eine einzige Katastrophe. Entsprungene aus einer Heilanstalt für psychisch Kranke könnten das mit Sicherheit besser. Allein diese debile Grinsen des “Non-Haters”! Dieses alberne Herumgezappel! Die “originelle” Melodieführung…. Dieser “Versuch” (es gehen mir die Worte aus) “witzig” und “fröhlich” “rüber zu kommen”, meine Güte, das ist nicht nur peinlich, das ist deutlich unter der Debilitätsgrenze. Man würde Krippenkindern zu nahe treten, wenn man diese Perfomance als “frühkindlich” und unreif bezeichnen würde. Hier müssen ganz neue Kategorien her. Ich frage mich, wer diesen Grinsedeppen mit seiner primitiven Musik überhaupt dorthin verfrachtet hat? Vermutlich wurde wieder irgendwie “übers Netz” “abgestimmt”. Na ja, vielleicht kriegen wir Deutsche bei der nächsten Abstimmung ja auch eine sigwartdeske Bundeskanzelnde.

Bernd Müller / 25.05.2021

......diesen Kippppppppunkt, den kenne ich nur zu gut…...den habe ich schon längst erreicht, das Lineal ist übrigens zersplittert…..Ach, und es macht gar nichts, wenn die hüpfende Dame mir den Stinkefinger zeigt, kann sie wirklich gerne machen….schließlich zeige ich diesen Finger auch immer (sogar zweimal, ich habe zwei Hände !!)  in Richtung TV-Gerät, sofern dort beim Durchzappen zufällig eine Sendung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aufflackert…........

E. Sommer / 25.05.2021

Wenn dieses durchgestylte, heulende Weichei den durchschnittlichen deutsche Mann repräsentiert, dann Gute Nacht Deutschland. Wer “Deine Frisur ist hässlich” mit Hass gleichsetzt, der sollte einmal Urlaub in Kapstadt/Südafrika machen, oder sich im nahen Osten als Homosexueller outen.

Thomas Brox / 25.05.2021

@ Alexander Wildenhoff. In der Headline der NZZ stand: Willst du Deutschland oben sehn, musst du die Tabelle drehn. Beschreibt den Zustand des Landes kurz und knackig.

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